Jüdische Gemeinde

Quelle: Reader AK Asche-Prozeß, S. 67
Ende des 17. Jahrhunderts ließen sich erstmals Juden in Kiel nieder. Als Hofjuden waren sie für die Geldbeschaffung des Herzogs zuständig und standen unter dessen Schutz. Sonst wurde Kiel als Ort des "Kieler Umschlag" von handelstreibenden Juden besucht. Mit wachsender Bedeutung Kiels als Handelsplatz und 1871 als Reichskriegshafen nahm auch die Zahl der sich in Kiel ansiedelnden Juden zu. 1869 wurden die letzten rechtlichen Beschränkungen für Juden durch ein Bundesgesetz aufgehoben. 1852 erwarb die Jüdische Gemeinde Kiel das Grundstück an der heutigen Michelsenstraße, auf dem sich heute immer noch der jüdische Friedhof befindet.

Nachdem 1872 eine erste Synagoge in der Kehdenstraße und dann 1869 in der Haßstraße gebaut worden waren, wurde 1910 an der Ecke Humboldtstraße/Goethestraße die neue Synagoge eingeweiht. Dort befand sich neben dem Versammlungsraum auch die israelitische Religionsschule. Außerdem bildete die Synagoge das Zentrum lebhafter jüdischer Vereins- und Verbandsaktivitäten. Die Kieler Juden waren als Kaufleute, Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrende an der Universität und vereinzelt in anderen Bereichen tätig und besaßen keinen nennenswerten politischen oder wirtschaftlichen Einfluß. 1933 hatte die jüdische Gemeinde Kiel rund 600 Mitglieder, dies waren kaum 0,3 % der Bevölkerung. Die Zahl der von der nationalsozialistischen Judenverfolgung Betroffenen liegt höher: Die antisemitische Gesetzgebung der Nazis richtete sich in Kiel gegen ca. 800 Menschen, darunter auch sogenannte jüdische Mischlinge und als arisch angesehene Ehepartner von Juden.

1.April 1933:

Boykott jüdischer Geschäfte

Im Ausland häuften sich Berichte und Proteste gegen Terrormaßnahmen gegenüber den Juden. Die Nationalsozialisten sprachen von "Greuelpropaganda" und nahmen dies zum Anlass, reichsweit zum Boykott jüdischer Geschäfte aufzurufen.

Die Wochenzeitung der Kieler NSDAP, der "Volkskampf", war Hauptagitationsmittel der antijüdischen Propaganda. Nach mehreren Hetzartikeln veröffentlichte der nationalsozialistische Volkskampf am Vorabend des Boykott-Tages eine Liste der zu boykottierenden Geschäfte. Am 1. April, einem Sonnabend, bezogen schon vor 9 Uhr SS- und SA-Leute Posten vor den betroffenen Geschäften. Schaulustige Bürger zogen in die Innenstadt, um Zeugen der Ereignisse zu werden.

Aber es sind auch einige Fälle bekannt, bei denen bewusst gegen den Boykott Stellung bezogen wurde:

Der Mord an Rechtsanwalt Schumm

Der Rechtsanwalt Friedrich Schumm weilte zufällig in Kiel auf Besuch bei seinen Eltern, die ein Möbelgeschäft in der Kehdenstraße besaßen. Bei dem Versuch, das väterliche Geschäft zu betreten, kam es zu einer Rangelei mit zwei SS-Posten, wobei sich ein Pistolenschuss löste und einen der Nationalsozialisten verletzte. Bis zum heutigen Tag ist nicht geklärt, aus wessen Pistole sich der Schuss gelöst hatte.

Schumm flüchtete zunächst, stellte sich dann jedoch freiwillig der Polizei und wurde gegen Mittag in das Polizeigefängnis in der Blumenstraße eingeliefert. Währenddessen verwüsteten und plünderten SA- und SS-Männer das Möbelgeschäft. Bewusste Falschmeldungen heizten die Stimmung an. So wurde verbreitet, dassß der SS-Mann getötet worden und Schumm im Möbelgeschäft unter Gerümpel gefunden und festgenommen worden sei. NSDAP-Kreisleiter Walter Behrens und sein Sekretär Otto Ziegenbein wurden beim Polizeipräsidenten vorstellig und verlangten, ihnen Schumm auszuliefern. Als sie mit dieser Forderung keinen Erfolg hatten, musste auf dem Platz vor dem Rathaus eine größere Gruppe von fast 100 SA- und SS-Männern antreten, die zum Gefängnis marschierte und es stürmte. Friedrich Schumm wurde in seiner Zelle durch 25 Pistolenschüsse getötet. Danach zogen die Mörder unbehelligt ab. Die Leiche durfte nicht in Kiel beigesetzt werden, und deshalb wurde Schumm in Rendsburg beigesetzt. Sein Grab blieb bis heute erhalten.

Nach diesem Vorfall wurde der Boykott in Kiel bereits mittags abgebrochen.

Novemberpogrom 1938

Das Attentat des Herschel Grynspan auf ein Mitglied der deutschen Botschaft in Paris am 7. 11. 1938, das er nach der Abschiebung seiner Eltern nach Polen verübte, war für die Nationalsozialisten lang gesuchter Anlass für ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung Deutschlands.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 befanden sich fast alle Nationalsozialisten von Rang und Namen in München, um dort den Jahrestag des missglückten Hitlerputsches von 1923 zu feiern. Der damalige Kieler Polizeipräsident und SA-Führer der Gruppe Nordmark, Meyer-Quade, erteilte dem Stabsführer der SA-Gruppe Nordmark, Oberführer Volquardsen, unter Billigung des schleswig-holsteinischen Gauleiters und Oberpräsidenten Lohse von dort aus den Befehl zur Ausführung des Pogroms. Alle von Volquardsen bei der SA-Gruppe Nordmark Versammelten, unter ihnen auch der Kreisleiter der NSDAP Kiel, Otto Ziegenbein, ordneten des weiteren an, die Juden der Stadt festzunehmen und im Polizeipräsidium einzuliefern.

Die Ereignisse in Kiel

SA-Männer versammelten sich in Zivil mit Benzinkanistern vor der Synagoge. Diejenigen, die in Uniform kamen, wurden ins Rathaus geschickt, wo sie Zivilkleidung erhielten. Nachdem die Hauswartsfrau angewiesen wurde, die Räume der Synagoge aufzuschließen, wurde ihr gesagt, sie habe das Haus sofort zu verlassen. Es wurde Feuer gelegt und Brandbomben gezündet. Als die Feuerwehr erschien, wurde ihr befohlen, nicht zu löschen, sondern nur darauf zu achten, dass das Feuer nicht auf andere Häuser übergriff. Erst nach einer Detonation wurde damit begonnen, den Brand zu bekämpfen. Im Brandbericht hieß es später: "Brandursache unbekannt".

Geschäfte und Wohnungen einiger in Kiel lebender Juden wurden geplündert, 55 jüdische Männer festgenommen und zehn von ihnen in Konzentrationslager verschleppt. Zwei von der SA-Gruppe eigenmächtig angeordnete Mordversuche an den bekannten Kieler Juden Herrn Lask und Herrn Leven scheiterten nur knapp.

Nach dieser Nacht durfte die Synagoge nicht mehr betreten werden. Die Innenräume waren zerstört, die Kultgegenstände geschändet bzw. gestohlen. Am Gebäude selbst gab es jedoch keinen substantiellen Schaden und eine Reparatur wäre ohne größeren Aufwand möglich gewesen. 1939 kaufte die Stadt Kiel das Grundstück für knapp 20.000 RM von der Jüdischen Gemeinde. Der Wert von Gebäude und Nebenanlagen betrug vor der Zerstörung 190.800 RM. Im April begannen die Abbrucharbeiten der Synagoge, die sich bis November 1940 hinzogen. Zum geplanten Neubau eines Büro- und Wohngebäudes kam es im Krieg nicht mehr.

"Arisierung"

Die seit dem 1. 4. 1933 fortgesetzten Bemühungen der Nationalsozialisten, Juden wirtschaftlich zu schädigen und dabei selbst zu profitieren, zwangen viele Kieler Juden zur Geschäftsaufgabe. Nach dem Novemberpogrom wurden alle bis dahin noch in jüdischem Besitz befindlichen Geschäfte und Betriebe zwangsarisiert, d. h. in den Besitz "arischer" Geschäftsleute überführt.

Flucht und Ermordung

Seit 1933 versuchten viele Juden auch in Kiel, dem Terror der Nationalsozialisten zu entfliehen. Sie suchten häufig zunächst in der Anonymität der größerer Städte wie Berlin oder Hamburg und gelangten von dort weiter ins Ausland. Das Gelingen der Auswanderung war von der finanziellen Lage der Einzelnen und dem Willen des Auslandes, Flüchtlinge aufzunehmen, abhängig. Hinzu kam, daß es vielen sehr schwer viel, ihre Heimat Deutschland trotz unerträglicher Diskriminierung zu verlassen. In dem Zeitraum von 1933-1938 verließen rund 390 Menschen, darunter 300 jüdischen Glaubens, Kiel. Die Mitgliederzahl der Jüdischen Gemeinde Kiel halbierte sich. In der Zeit nach dem Novemberpogrom, durch das das jüdische Gemeindeleben vollends zum Erliegen gebracht wurde, bis zu dem Überfall Deutschlands auf Polen flohen noch rund 190 Menschen, die ihre Auswanderung unter immer schwierigeren Bedingungen organisieren mussten, aus Kiel. Am 23. 10. 1941 wurde Juden die Auswanderung aus Deutschland endgültig verboten.

Da es unter den in Kiel nicht abgemeldeten Juden einen hohen Anteil aus Polen stammender Männer gab, ist anzunehmen, dass sie am Tag des deutschen Einmarsches nach Polen inhaftiert wurden. Nachweisbar ist dies in einem Fall: Ein Mann wurde am ersten Kriegstag verhaftet und nach Sachsenhausen gebracht, wo er achtzehn Monate später starb. Zwei Wochen nach Kriegsbeginn wurden 22 ursprünglich aus Polen stammende Frauen und Kinder aus Kiel über Frankfurt nach Leipzig und von dort aus wahrscheinlich im Mai 1942 ins Vernichtungslager nach Belzec (Polen) deportiert. Mindestens 16 dieser Menschen kamen ums Leben.

1939 wurde damit begonnen, die in Kiel verbliebenen Juden und zum Teil deren nichtjüdische Ehepartner in so genannten Judenhäusern am Kleinen Kuhberg 25, im Feuergang 2 und in der Flämischen Straße 22a unter unmenschlichen Bedingungen zusammenzupferchen. Anfang Dezember 1941 musste sich eine Gruppe von Juden im Luftschutzkeller des Rathauses einfinden. Später wurden sie nach Riga deportiert. In den folgenden Jahren gab es weitere Deportationen nach Theresienstadt, zwölf Juden vorher wegen ihrer verzweifelten Lage Selbstmord. Namentlich und nachweisbar sind 239 Kieler Jüdinnen und Juden Opfer der faschistischen Verfolgung, die Zahl der Ermordeten muss jedoch wesentlich höher angesetzt werden.

Seit dieser Zeit gibt es in Kiel keine Jüdische Gemeinde mehr. Um die heute noch in Kiel lebenden Juden und auch den jüdischen Friedhof kümmert sich die Jüdische Gemeinde Hamburg.

Nachkriegsprozesse

1947 wurde Erich Gerhardt, der maßgeblich an der Zerstörung der Synagoge in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 beteiligt war, zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Außerdem bestrafte das Landgericht Kiel im gleichen Jahr einen Angeklagten mit einem Jahr und drei Monaten Gefängnis. Er hatte in jener Nacht einen jüdischen Kaufmann verhaftet und diesen, der nur mit Unterhose und Jackett bekleidet war, unter Vorhalt einer Pistole durch die Stadt getrieben. Der damalige Gauleiter und Oberpräsident Lohse hingegen wurde neben vielen anderen nicht zur Verantwortung gezogen. Zwei gegen ihn angestrengte Verfahren 1947 und 1948 wurden allein deswegen eingestellt, weil er angab, er sei in der betreffenden Nacht nicht in Kiel, sondern in München gewesen und habe erst später davon erfahren.


Übersicht Reader

Titelseite