//68// [Foto: Denkmal für die ermordete Juden Europas, Berlin; Stelengangaufnahme]
Morgen werden hier in Lübeck zum zweiten Mal Stolpersteine verlegt.
Stolpersteine – von dem Kölner Künstler Gunter Demnig entwickelt – sind kleine
Messingtafeln mit den Namen und Lebensdaten von Opfern des
nationalsozialistischen Herrschaft. Sie werden jeweils in den Gehweg vor dem
letzten bekannten und frei gewählten Wohnort der betreffenden Person
eingelassen. Sie haben sie gewiss schon häufiger gesehen, und der eine oder
andere von Ihnen wird sich auch bereits an der Finanzierung beteiligt haben.
Denn Stolpersteine sind Bürgersache: Bürger realisieren sie zusammen mit Gunter
Demnig und machen sie dann der Gemeinde zum Geschenk.
Stolpersteine werden oft auch als kleine Gedenksteine bezeichnet. Das Projekt
erfährt sehr viel Zuspruch und Unterstützung durch Privatpersonen, die das Geld
für die individuellen Steine spenden – ganz besonders hier in Lübeck. [1] Die große
Resonanz auf Gunter Demnigs bereist mehrere Jahre andauernde Aktion
unterstreicht, dass er mit seinen Stolpersteinen bundesweit einen neuen Impuls
hinsichtlich des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus gegeben hat –
mittlerweile liegen in über 270 Städten und Orten mehr als 12.000 Stolpersteine.
[2] Demnig selbst hat es einmal als dezentrales Kunstwerk bezeichnet
Ich möchte diese Entwicklung und dieses Phänomen heute Abend zum Anlass nehmen,
ein paar grundsätzliche Reflexionen über das Gedenken anzustellen – und dabei
wohl mehr Fragen aufwerfen, als dass ich selbst schon Antworten darauf wüsste.
Ich zitiere weder Historiker noch Pädagogen oder Psychologen, aus deren Kreisen
gewiss viel Kluges zur Frage des Gedenkens gesagt und geschrieben worden ist.
Stattdessen nähere ich mich dem Thema als ganz einfacher, historisch
interessierter Mensch an, der sich schon seit einer langen Reihe von Jahren mit
dem „Dritten Reich“ befasst. Dabei war ich immer wieder sehr konkret mit dem
geschehenen Unrecht konfrontiert, nicht selten auch in direktem Kontakt mit
überlebenden Verfolgten der NS-Zeit.
Die eine oder andere Beobachtung, von der ich erzähle, und die eine oder andere
These mag vielleicht etwas provozierend sein – vielleicht nutzen wir später die
Gelegenheit, darüber miteinander ins Gespräch zu kommen. Denn es muss nicht für
andere richtig sein, was ich sage – aber ich würde gern wissen, wie andere
empfinden und gedenken.
//70// [Foto: Denkmal für die ermordete Juden Europas,
Berlin]
Das führt mich bereits zu meiner ganz zentraler Frage: Was ist das eigentlich –
Gedenken? Um darauf Antworten zu finden, möchte ich Sie mitnehmen auf eine Reise
mit Stationen in verschiedenen deutschen Städten, in Frankreich und in den USA.
Symbolik und Distanz
Kommen Sie zuerst mit mir nach Berlin. Unweit des Brandenburger Tors stehen wir
vor einer weitläufigen Fläche. Große dunkelgraue Betonquader erheben sich aus
dem Boden, geometrisch exakt ausgerichtet. Dazwischen Gänge, die kreuz und quer
führen und hinab und hinauf – fast wie eine Berg-und-Tal-Bahn zu Fuß. Die Sonne
scheint, Touristen sitzen am Rand auf den niedrigeren Quadern und machen eine
kleine Pause, hin und wieder rennen Kinder zwischen den Betonblöcken herum.
Manch einer von Ihnen wird es kennen – es ist das Denkmal für die ermordeten
Juden Europas.
Richard Serras und Peter Eisenmans künstlerisch großartiger Entwurf wurde
schnell zur Touristenattraktion – allein schon die Monumentalität des Feldes mit
2711 Stelen fängt den Blick und beeindruckt. Aber der konkrete Zugang zu dem,
was gemeint ist – zu den ermordeten Juden Europas
//71// [Foto: New England Holocaust Memorial, Boston]
– ist schwierig: Ohne nähere
Erläuterungen ist der Besucher darauf angewiesen, selbst zu interpretieren. Je
mehr historisches Wissen er hat, desto eher mag sich ihm die Anlage
entschlüsseln, auch wenn Größe und Form der Quader sowie ihrer Anzahl von den
Künstlern keinerlei tieferer Sinn beigemessen wurde. Für viele wird das Denkmal
daher eine nur minder Bedeutung tragende Installation bleiben, obligatorischer
Stopp bei Klassenfahrten in die Hauptstadt, Pflichtprogramm für Bildungsbürger. Eisenmans Werk gilt inzwischen
nicht nur für Ex-Bundeskanzler Schröder als ein „Denkmal, das man gern mal besucht“
[3] –
aber es ist wohl nur schwerlich eine Stätte, die uns die Opfer oder das
Geschehen konkret näher bringt.
Beispiele haben gezeigt, dass es potenziell an jedem Ort möglich ist, eine
Gedenkeinrichtung für die Opfer des „Dritten Reiches“ zu schaffen. In Boston in
den USA wurde das New England Holocaust Memorial errichtet. Es sind mehrere
große, gläserne Türme, die man durchschreitet und auf deren Scheiben die Namen
der Konzentrations- und Vernichtungslager eingraviert sind. Auch hier bediente
man sich offenkundig einer Symbolik, auch wenn sie sich erst mit etwas
Nachdenken erschließt. Und auch hier befindet der Besucher sich fern der Orte
des Geschehens – die Distanz zu dem, was eine solche Gedenkstätte bewirken und
auslösen soll, ist daher unweigerlich groß.
//72// [Foto: Verlegung Stolpersteine in Lübeck, August
2007]
Kunst und Architektur sollen hier wie in Berlin und in vielen anderen
Einrichtungen Hilfe beim Gedenken bieten – doch allzu leicht schieben sie sich
zwischen uns und die Opfer. Die Symbolisierung des Geschehens entrückt es uns
oft noch weiter, erschwert den Akt der Entschlüsselung, den im Idealfall
erkenntnisfördernden Transfer in die historische und in unsere gegenwärtige
Situation. Doch wie, wenn nicht symbolisch, lässt sich das darstellen, was weder
versteh- noch darstellbar ist – die systematische Verfolgung und der
skrupellose, durchorganisierte Mord an Juden, Sinti und Roma, politisch
Andersdenkenden, an Homosexuellen, Zeugen Jehovas, an Kranken? Ein Ding der
Unmöglichkeit - aber auch eine Herausforderung für Künstler.
Und noch dazu: Es scheint, als herrsche ein gewisser Leistungsdruck – je
bedeutsamer ein Ereignis und je höher der gestellte Anspruch, desto symbolisch
überragender muss die künstlerische Umsetzung sein. Nicht auszudenken, wenn das
zentrale Denkmal für die ermordeten Juden Europas in der Bundeshauptstadt nur
mittelmäßig ausgefallen wäre. Ob es seinen Zweck – den hier von mir
unterstellten Zweck: uns die Opfer näher zu bringen – auch erfüllen würde, war
sicherlich während des Ideenwettbewerbs schwerlich einzuschätzen. Immerhin wurde
dem Konzept später noch ein unterirdisches Info-Zentrum – der Ort der
Information – hinzugefügt, das aber oft aufgrund seiner begrenzten Kapazität
kaum spontan aufzusuchen ist. Die Aufklärung durch Fakten, um Verständnis zu
wecken, ist vor Ort also erschwert oder erfordert Wartezeit - ganz wie bei
anderen touristischen Attraktionen auch.
//73// [Foto: Stolpersteine für die Geschwister Prenski,
Lübeck]
Anonyme Individuen
Szenenwechsel, wir kehren zurück nach Schleswig-Holstein – nach Kiel oder
Flensburg, nach Itzehoe, Rendsburg oder Elmshorn. Oder hierher nach Lübeck.
Menschen gehen durch die Straßen, und hin und wieder glänzen kleine
Messingplatten auf dem Gehweg. Der eine oder andere bleibt stehen, liest die
Inschrift, schaut vielleicht noch einmal die Fassade des Hauses an, vor dem der
Stein liegt, geht dann weiter. Das spielt sich vielfach ab und täglich. An
diesen und vielen anderen Orten bundesweit. Was die Aufmerksamkeit weckt, ist
einerseits der ungewöhnliche Platz für die Tafeln – wer das Projekt nicht kennt,
rechnet nicht damit, dass in den Gehweg Gedenksteine eingelassen sind. Und es
sind die darauf eingravierten Namen – Stolpersteine sind konkret, sie
symbolisieren nicht, sondern benennen individuelle, konkrete Opfer. Indem sie
ihre Botschaft nicht künstlerisch verschlüsseln, ist ihr Zweck, ist ihr Inhalt
klar verständlich.
Bei Aufenthalten in anderen Städten erlebt man immer wieder denselben Effekt.
Auch hier hat es Opfer gegeben. Und auch hier. Und hier, nachgezeichnet,
veranschaulicht durch Stolpersteine. Das Projekt hat inzwischen auch eine Art
von Monumentalität angenommen, aber eine, die erfahrbar ist.
Doch so direkt die Stolpersteine auch zu funktionieren scheinen, weil sie Namen
von Individuen nennen: Der Versuch, eines Opfers der NS-Herrschaft zu gedenken,
wirft uns auf uns selbst zurück. Gewiss, der Gedanke und das Gefühl, dass in
diesem Land Millionen Menschen systematisch unterdrückt, verfolgt, vertrieben,
ermordet wurden, kann einem halbwegs sensiblen Menschen nicht gleichgültig sein
(auch wenn es wohl
//74// [Foto: Diorama im Museum of Tolerance]
niemand aushalten würde, ständig daran zu denken). Doch nur
in den allerwenigsten Fällen wissen wir Näheres über die Betroffenen. Unser
Versuch, ihrer Leiden, ihres Schicksals zu gedenken, wird durch die große
Anonymität erschwert. Außerdem: Wie sollen wir uns ihnen gedanklich annähern,
wenn wir über die Umstände ihres Lebens nur wenig wissen und die Umstände ihres
Sterbens für uns absolut unvorstellbar sind? Wie kann man einer Person gedenken,
die man nie kannte? Wir bleiben mit unserem Versuch, zu gedenken, allein, auf
uns selbst zurückverwiesen. Der Versuch, das ehrliche Bemühen um Gedenken
reduziert sich auf Gefühle – unsere eigenen Gefühle. Es ist ein Gedenken, bei
dem es vermutlich mehr um unsere eigene Person geht als um den Menschen, der –
durch den Stolperstein wieder mit einem Namen ausgestattet - emotional für uns
in Erscheinung tritt: das Opfer. //75// [Foto: Renate Wolff aus Hamburg, um 1938]
Visionen von Geschichte
Warum ich dieser Meinung bin, will ich Ihnen an unserer nächsten Station zeigen:
in Los Angeles. Dort gibt es das Museum of Tolerance im Simon Wiesenthal Center.
[4]
Eine Abteilung widmet sich dem Thema Vorurteile, die andere, größere dem
Holocaust. Bevor man sich auf einem spiralförmig angelegten Weg zwischen
Exponaten und Dioramen in die Tiefe des
Gebäudes und der Geschichte begibt,
bekommt jeder Besucher eine kleine Plastikkarte. In das Lesegerät eines
Computers gesteckt, wird die kurze Biografie eines Opfers ausgedruckt. Nach dem
Rundgang kann man sich im Dokumentationszentrum näher mit diesem Menschen
befassen.
Als ich das Museum besuchte, fiel mir der Lebenslauf eines kleinen Mädchens zu,
Renate Wolff, geboren 1933 in Hamburg. In meiner Stadt – wie hätte es auch
anders sein können, war mein spontaner Gedanke. Ich habe damals lange an das
Mädchen gedacht, habe versucht, mir ihr Leben vorzustellen, was sich fast
vollständig in meiner Fantasie abspielte zwischen Örtlichkeiten, die ich bestens
kenne. Wo mag sie gewohnt haben, wo gespielt? Wo ist sie zur Schule gegangen –
vielleicht in die jüdische Mädchenschule in der Karolinenstraße, nur einen
Steínwurf von meiner Wohnung entfernt? Hatte sie vielleicht einen Kanarienvogel,
den die Familie abgeben musste, als Juden das Halten von Haustieren verboten
wurde? In welchem sogenannten Judenhaus hat sie mit Eltern und Geschwistern bis
zu ihrer Deportation nach Riga gewohnt? Durch den Computerausdruck wurde ich,
körperlich eine halbe Welt entfernt, emotional sehr unmittelbar in das Hamburg
der NS-Zeit katapultiert – zumindest in jenes, wie ich es mir zusammenreimte.
Mit etwas Abstand betrachtet, lief da ein spannender Prozess ab, der sich so
ähnlich wohl auch in anderen Menschen vielfach wiederholt: Dass ich von dem
konkreten Mädchen Renate Wolff erfuhr, war Anlass für mich, historische Fakten
in eine mir bekannte Umgebung zu projizieren – allzu leicht glauben wir dann,
wir könnten uns die damalige Realität vorstellen. Aber genau genommen setzen wir
nur angelesene Bruchstücke und visuelle Eindrücke zusammen – wir werden niemals
wissen, ob unsere Vorstellung mit dem konkreten Leben und der Empfindungswelt
des Opfers überhaupt etwas zu tun hat.
Jahre später, als Gunter Demnigs Projekt bekannter wurde, wollte ich diesem
Mädchen Renate Wolff einen Stolperstein widmen – und da stellte sich bei der
Recherche durch das Hamburgische Staatsarchiv heraus, dass sie die Deportation
überlebt hat und noch lebt. Meine Gedanken an sie,
mein „Gedenken“, hatte also
keinen wirklichen Hintergrund (wenn man mal davon absieht, dass sie natürlich
alle Stationen und Stufen der Verfolgung hatte erleiden müssen). Ich stiftete
dann drei Stolpersteine – für ihre Eltern und eine Schwester, die tatsächlich in
Riga ermordet worden sind.
Was hatte mich dazu bewegt – was hatte meine Gefühle berührt? Der Umstand, dass
Renate Wolff in Hamburg gelebt hatte? Die Tatsache, dass ich die allgemeine
Lokalität ihres Lebens aus der Gegenwart kenne? Die vermutlichen Umstände ihres
Lebens und Leidens aus historischer Literatur? Also die Kulisse, die Folie, auf
die ich ihr Leben in meiner Vorstellung projizierte? Hätte ich ähnlich empfunden
und später ähnlich reagiert, wenn sie aus einer anderen Stadt gekommen wäre?
Hätte ich überhaupt diesen Computer-Ausdruck aufbewahrt? Ich weiß darauf keine
Antworten – aber indem ich mir heute solche Fragen stelle, komme ich vielleicht
dem Prozess etwas näher, der sich in mir abgespielt hat und der wohl ganz
pauschal etwas mit „Gedenken“ zu tun hatte.
Es waren also die Örtlichkeiten – und die konkreten Örtlichkeiten sind auch das,
was Gunter Demnigs Stolpersteine so wirksam macht: Wir kennen zwar nicht die
Opfer, wir hören oder lesen ihre Namen zum ersten Mal, aber wir haben eine
Beziehung zu ihrem geografischen oder örtlichen Lebensumfeld – und das
konstituiert eine erste Verbindung. Es bestehen Schnittstellen zwischen ihren
und unserem Leben. Stolpersteine markieren auch Anknüpfungspunkte zwischen dem
Jetzt und dem Damals, zwischen uns und den Opfern. Auch wenn sich deren Leben,
von dem wir meistens nichts oder nur sehr wenig wissen, gewiss ganz anders
abgespielt hat, als wir es uns ausmalen.
Distanz aus Direktheit
Ich möchte mit Ihnen noch zu einer weiteren Station reisen: nach Frankreich in
das Dorf Oradour-sur-Glane bei Limoges. Am 10. Juni 1944 hat dort die Division
„Das Reich“ der Waffen-SS ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübt: 642
Menschen wurden getötet, viele Frauen und Kinder in der Kirche des Ortes
ermordet, wohin sie sich geflüchtet hatten. [5] Dann wurde der gesamte Ort in Brand
gesteckt. Oradour-sur-Glane wurde nie wieder aufgebaut, noch heute erinnern die
Ruinen an die grausamen Ereignisse. Oradour – auch eine Touristenattraktion?
Selbstverständlich könnte man dort herumspazieren, die Örtlichkeiten studieren –
ach, dies sind die Reste der Kirche, in der die Kinder starben? Da liegt ja noch
das Gestellt eines verbrannten Kinderwagens. Und ist das jenem Baum, unter dem
der SS-Untersturmführer Heinz Barth das Maschinengewehr hat aufstellen lassen?
//77// [Foto: Szenerie aus dem zerstörten Oradour-sur-Glane]
Sie merken jetzt ganz deutlich, dass ich provozieren will – und warum: Während
Eisenmans Kunstwerk in Berlin den Status einer Sehenswürdigkeit erlangt hat und
schnell zur Touristenattraktion wurde, ist der historische, der konkrete Ort des
Unrechts-Geschehens dafür absolut nicht geeignet. Hier kann man eben nicht
unbefangen herumspazieren, was zwischen den Betonquadern von Berlin tagtäglich
vorkommt. In Oradour steht nichts – keine Symbolik, keine künstlerische Form,
kein didaktisches Medium – zwischen dem Besucher und den furchtbaren
Ereignissen. Je näher eine Gedenkstätte den tatsächlichen Orten der Geschichte
ist, desto eher lässt sich eine inhaltliche Verbindung herstellen – das ist nur
logisch. Stimmt eine Gedenkstätte aber mit dem Ort von Verbrechen überein,
entsteht leicht ein ungeheurer emotionaler Druck – wer einmal die Gedenkstätten
in ehemaligen Konzentrationslagern besucht und etwa die Folterzellen in
Buchenwald gesehen hat, wird dieses Gefühl kennen.
Meine eigene Erfahrung mit Oradour ist zwiespältig: In den späten 90er Jahren
wollte ich es auf der Rückreise von Portugal besuchen – doch je näher ich dem
Ort kam, desto schwieriger schien mir die Umsetzung des Vorhabens: Aus einem
Auto mit deutschem Kennzeichen aussteigen, zwischen den Ruinen herumgehen?
Vielleicht sogar noch Fotos machen? Wie sollte ich mich verhalten, um eben nicht
wie ein Tourist zu wirken, vielleicht
sogar wie ein Voyeur des Grauens? Ich fand
für mich keine Lösung (oder vielleicht bin ich auch nur vor dieser Situation
zurückgewichen), sondern kehrte kurz vor Oradour um. In diesem, in meinem Fall
verhinderte die Örtlichkeit das Gedenken.
Das Beispiel von Oradour verdeutlicht den wesentlichen Unterschied zu den
Stolpersteinen von Gunter Demnig: Sie liegen an den Stätten, wo die Opfer lebten
– sind also von den Orten der Verbrechen weit entfernt, lassen uns an die Phasen
im Leben der Opfer denken, in denen zwar unweigerlich schon Verfolgung und Angst
herrschten, aber wohl auch noch so etwas wie Zivilisation und ein Gefühl des
Zuhauseseins existierte. Dem können wir uns gedanklich unbefangener, mit
leichteren Gefühlen annähern.
Solidarische Zeichen
Nachdem wir uns nun das Wie der Gedenkstätten ein wenig näher angeschaut haben
(also die zumeist künstlerische Umsetzung des Themas), das Wo – nämlich die
Örtlichkeiten – in den Blick genommen haben und ganz vage das Was angesprochen
(das Objekt des Gedenkens, also die Menschen, derer gedacht werden soll), könnte
eine weitere Frage spannende Erkenntnisse erschließen – das Warum. Stellen wir
also zuerst eine Betrachtung an, wer sich heute außerhalb von Institutionen um
individuelles Gedenken bemüht.
Wir gewinnen erste Züge eines Bildes, wenn wir auf die Menschen schauen, die die
Aktion Stolpersteine unterstützen. Mir geht es dabei nicht um konkrete Personen,
und ich will und kann auch keine Analyse des Durchschnittsalters, des
Bildungsgrades oder ihres Wissens um die NS-Zeit geben. Danach wurde keiner der
Spender gefragt. Das „Warum“ bleibt abstrakter und vielleicht auch spekulativ –
ist aber trotzdem aussagekräftig.
Die Resonanz auf Demnigs Stolperstein-Projekt zeigt, dass – lassen Sie es mich
ein wenig naturwissenschaftlich ausdrücken – seine Aktion zum Katalysator wird,
zum Kondensationspunkt für Gefühle, die vielleicht schon länger, aber eher
diffus vorhanden waren. Nun finden sie aber Gegenstand und Form, setzen sich in
Handlung um. Wissenschaftliche Vorträge als Präsentationsform der kritischen
Auseinandersetzung mit der NS-Zeit blieben oft sehr schwach besucht, Bücher zu
diesem Themenkomplex in regionaler Fokussierung sind nur in kleinen Auflagen
verkäuflich. Und Guido Knoops alles erklären wollende Fernsehsendungen können
konkreten Fragen nicht wirklich beantworten oder gar Handlungsanlass sein. Aber
da kommt jemand und entwickelt und verlegt kleine Gedenksteine – und erzielt
damit ein enormes Echo.
Unsere Reaktion auf die Stolpersteine – also die Bereitschaft, dieses Projekt zu
fördern – hat sehr viel mit unserer eigenen Befindlichkeit und vielleicht auch
unserer Lebenssituation zu tun. Und unserer persönlichen Beziehung zur NS-Zeit.
Viele Unterstützer scheinen die Möglichkeit zur Beteiligung am Projekt
Stolpersteine als wohltuend zu empfinden. Nicht selten spenden sie später
erneut, für weitere Steine. Man kommt schnell zur Vermutung sehr privater, also
familiärer Beweggründe – hat der Vater, der Großvater eine Rolle gespielt im
Räderwerk der Verfolgung, der Herrschaftssicherung während des „Dritten
Reiches“? Ist das Stiften eines Stolpersteins der Versuch – ja, wenn schon nicht
einer späten Wiedergutmachung, so doch des Berührens von etwas, was man alle die
Jahre mal intensiv, mal weniger drückend empfunden hat? Dass das „Dritte Reich“
auch etwas mit der eigenen Familie, dem eigenen Ich, dem eigenen Leben zu tun
hat – egal, auf welcher Seite die Angehörigen gestanden haben und ob sie, grob
kategorisiert, zu den Tätern oder den Opfern gehört haben? Oft regen sich diese
Gedanken dann intensiver, wenn man aus dem Berufsleben geht, Zeit gewinnt, sich
dem eigenen Umfeld, der Geschichte der eigenen Familie zuzuwenden. Und es sind
eher reifere Menschen, die Gunter Demnigs Aktion unterstützen.
Nun wäre es falsch, stets persönliche Beweggründe, also zumeist etwas Dunkles,
Unklares, aber vielleicht Schmerzhaftes als Beweggrund zu unterstellen. Die
Spender von Stolpersteinen üben nämlich auch eine Art Solidarität mit den Opfern
– nehmen Anteil an deren Schicksal, von dem sie bruchstückhaft Kenntnis
bekommen, und sie wollen es nicht nur bei diesem Wissen belassen.
Besuche in Gedenkstätten bzw. die Unterstützung der Aktion Stolpersteine steht
symbolisch für das persönliche Akzeptieren der unangenehmen Seiten der deutschen
National-Geschichte und für das Übernehmen von Verantwortung – die Frage nach
der individuellen Schuld braucht aus biologischen Gründen nicht mehr gestellt zu
werden, da die Schuldigen fast ausnahmslos verstorben sind. Doch geblieben ist
die Herausforderung, die Verantwortung wenn schon nicht für die Ursachen
geschichtlich prekärer Ereignisse, so doch für den kritischen Umgang damit zu
akzeptieren. Und mit der Förderung der Stolperstein-Idee gelingt das auf
besondere Weise: Ich nehme nicht nur historisches Wissen auf (indem ich die
historische Literatur, Filme oder Vorträge rezipiere), sondern ich gebe, ich
schaffe etwas Bleibendes oder unterstütze, ja ermögliche diese Schaffung.
Stolpersteine setzen Zeichen, dokumentieren nicht nur die örtliche Existenz der
Opfer, sondern auch das Engagement der Nachgeborenen. So werden – etwas profan
und desillusionierend gesagt – zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Und die Stolpersteine haben noch einen weiteren Effekt: Sie bilden etwas
Kollektives. Wer einen Stein stiftet, findet sich in einem Kreis Gleichgesinnter
– egal, ob er sie kennen lernt oder nicht. Aber es ist zweifellos ein gutes
Gefühl, zu sehen, dass auch andere sich von den Ereignissen der Geschichte
berühren lassen und sich engagieren. Einen Stolperstein zu stiften ist viel, ist
etwas Beleibendes – dabei spielen die vorhin angestellten Überlegungen keine
Rolle, ob man sich das Leben der so gewürdigten Menschen tatsächlich vorstellen
kann. Es zählt der gute Wille, die gute Tat.
Dass Stolpersteine gleich auf zweifache Weise ein Zeichen setzen, ist ein
schöner Nebeneffekt: Sie erinnern nicht nur an die Menschen, deren Leben die
Nationalsozialisten zerstört haben, sondern sie machen auch sichtbar, dass sich
Menschen noch Jahrzehnte nach den Verbrechen für den Umgang mit der Geschichte
verantwortlich zeigen.
Ertragbare Orte
Morgen werden in Lübeck wieder Stolpersteine verlegt. Eigentlich ist das ein
ganz profaner Akt - Pflastersteine werden entfernt und durch andere ersetzt,
manchmal muss Asphalt aufgeschlitzt und ausgestemmt werden. Doch das, was auf
den Steinen steht, macht den Unterschied: Was es in uns auslöst, wird diese
Stadt so lange verändern, wie das Unrecht des Nationalsozialismus die Köpfe und
herzen bewegt. Und die Stolpersteine sorgen dafür, dass es auf lange Zeit so
bleibt. Das ist vorrangig Verdienst von Gunter Demnig, dem diese genial einfache
und doch äußerst wirkungsvolle Form eingefallen ist – aber er hätte sein Projekt
niemals ohne die Unterstützung tausender Bürger realisieren können, für die es
an der Zeit zu sein scheint, Position zu beziehen. Diejenigen unter Ihnen, die
hier in Lübeck bereits durch Spenden eines Stolpersteins Position bezogen haben,
haben sich Verdienste um die Gedenkkultur erworben – oder anders ausgedrückt: um
den Respekt vor den NS-Opfern, die zumindest namentlich nun wieder in ihre
Heimatstadt zurückkehren.
Es ist ein schöner Umstand, dass die Verlegungen jetzt erfolgen und nicht erst
in zehn oder 20 Jahren. Sie werden gerade noch so rechtzeitig verlegt, dass
oftmals Angehörige der Opfer davon noch erfahren oder sogar an der Verlegung
teilnehmen können. Menschen, die gefühlsmäßig noch viel enger mit den Opfern
verbunden sind, nehmen den Respekt an, den wir den Toten zollen. Für die
Verbrechen der Nationalsozialisten kann es keine Wiedergutmachung geben – aber
vor der Geschichte lässt unser Tun – unser aktives Engagement für eine
Gedenkkultur zumindest eine Idee von einem Gerechtigkeitsgefühl wach werden. Dem
Unrecht wird – sehr spät – etwas
gegenübergestellt: Es wird künftig noch
schwerer werden, das geschehene Unrecht zu leugnen oder zu verdrängen.
So, nun habe ich Ihnen fast alle meine Überlegungen geschildert. Abschließend
möchte ich noch einmal die zentrale Frage stellen: Was ist Gedenken? Meine
Antwort, meine Einschätzung ist auch jetzt wieder sehr persönlich und erhebt
keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit: So etwas wie Gedenken an Menschen, von
denen wir allenfalls die Namen wissen, scheint mir nicht wirklich möglich zu
sein. Aber wir unternehmen trotzdem immer aufs Neue den Versuch dazu, weil uns
das Wissen um erlittenes Unrecht – das in der NS-Zeit an Wehr- und oft auch
Arglosen begangene Unrecht – nicht in Ruhe lässt. Gedenken verstehe ich als
andauernden Prozess der Annäherung, des Ringens, mit der Geschichte irgendwie
klarzukommen, das schwierige und schmerzhafte historische Erbe anzunehmen. Doch
an jenem Ort – im direkten emotionalen Kontakt mit der NS-Geschichte – hält es
niemand lange aus, aber gleichwohl verspüren wir das Bedürfnis, dort immer mal
wieder hinzugehen. Gunter Demnigs Stolpersteine bieten uns dazu die Gelegenheit
und die Orte – aber an Stellen, wo uns das Wissen um die NS-Verbrechen gerade
noch erträglich ist. Morgen wird er hier in Lübeck noch weitere solcher Orte
schaffen. Und dass sie wirken werden, daran besteht wohl kein Zweifel.
Kay Dohnke
Vortrag, gehalten auf Einladung der Lübecker Initiative Stolpersteine am 11.
April 2008 im Kulturforum Burgkloster, Lübeck.
Anlass war die Verlegung von Stolpersteinen am 12. April 2008.
[1] Die Spendenaufrufe in Lübeck erzielen in der Bevölkerung spontan überraschend große Resonanz. Manche Spender brachten gleich Mittel für mehrere Stolpersteine auf oder spendeten wiederholt; grundsätzlich war mehr Geld auf dem Konto des Arbeitskreises, als Steine recherchiert und projektiert werden konnten.
[2] Im Sommer 2009 hatte die Zahl der verlegten Stolpersteine bereits die 20.000er Marke überschritten.
[3] Zitiert nach Jan Feddersen, Die Erinnerungslücken bleiben. In: taz 10.5.2006.
[5] Vgl. hierzu u.a. Lea Rosh / Günther Schwarberg, Der letzte Tag von Oradour. Göttingen 1988.
Der Bericht enthält im Original acht Fotos.
Der Autor
Kay Dohnke, geb. 1957, Studium der Literaturwissenschaft, tätig als freier
Publizist. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Agitation, Presse, Literatur und
Kultur im Nationalsozialismus.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 51