Ein Lichtblitz am Himmel, eine Fahne am Mast

Vor fünfzig Jahren: schwere Bombenangriffe auf Itzehoe-Sude.
Von Kay Dohnke

Zuerst war nur ein Flugzeug über Itzehoe zu sehen; ein Junge beobachtete es am Vormittag des 2. Mai 1945. Die Maschine flog vom Süden her auf Sude zu und ließ plötzlich einen silbrig-glänzenden Gegenstand fallen. Der Junge sah den kurzen Reflex des Sonnenlichtes, dann hörte er eine Explosion und spürte eine Druckwelle.

Auch andere Itzehoer bemerkten die Maschine. Ob man ihr noch Bedeutung zumaß? Es hatte keinen Fliegeralarm gegeben, der Krieg war fast vorbei, und vollbeladene Güterzüge auf dem Bahnhof verrieten den Rückzug der Truppen von allen Fronten. Zwar waren in der Nacht britische Aufklärer am Himmel zu hören gewesen, doch rechnete niemand mehr mit Kampfhandlungen - hier in Itzehoe, wo es die ganzen fünfeinhalb Kriegsjahre hindurch vergleichsweise ruhig geblieben war.

Etwas anderes beschäftigte die Leute weit mehr: die große Hakenkreuzfahne vor dem Haus des Kreisleiters Schneider in der Dorfstraße war auf Halbmast gesetzt, und in einer langen Schlange vor dem Suder Milchgeschäft besprachen die wartenden Frauen die Neuigkeit: der "Führer" Adolf Hitler, so hatte der Rundfunk durchgegeben, sei in Berlin gefallen - verunsichert fragten sich viele, wie es nun weitergehen sollte. Eine Flüchtlingsfrau blieb skeptisch, hielt die Meldung für "Wehrkraftzersetzung".

Der erste Bomberanflug des 2. Mai verlief noch glimpflich. Bei einigen Häusern waren Dachpfannen heruntergefallen und Scheiben zersplittert, nur das Umspannwerk kurz vor Heiligenstedten wurde stärker beschädigt, was zu Stromausfällen in der Stadt führte. Doch bereits eine Stunde später, gegen elf Uhr, flogen erneut Maschinen auf Sude zu. Diesmal warfen sie Luftminen und Bomben über der Brückenstraße und dem Liethberg ab. Auch jetzt gab es keinen Alarm, aber durch den früheren Angriff vorgewarnt, suchten die Anlieger beim ersten Flugzeuggeräusch sofort die Schutzräume auf. Im Bunker unter der Brücke am Liethberg drängten sich über hundert Personen zusammen, Einwohner Sudes und schlesische Flüchtlinge, die in der nahen Schule untergebracht waren. Andere gingen in die eigenen, als provisorische Bunker hergerichteten Keller. Deutlich spürte man die Einschläge in unmittelbarer Nähe. Auf der Straße gab es Verletzte.

Nach dem Angriff bot sich draußen ein Bild der Zerstörung; mehrere Häuser waren schwer beschädigt. In der allgemeinen Verwirrung rätselte man über die Gründe für die Bombardierungen - sollte der Bahnhof zerstört, der Rückzug über die Eisenbahnlinie nach Norden abgeschnitten werden? Auch das Gaswerk kam als militärisches Ziel in Frage.

Noch ein drittes Mal, gegen zwölf Uhr, flogen britische Flugzeuge einen Angriff - dann aber traf die vierte Welle Sude mit voller Wucht: ein größeres Geschwader überzog den Bereich Dorfstraße/Brückenstraße mit einem regelrechten Bombenteppich. Als sie die Maschinen herankommen hörten, waren viele Anwohner wieder in die Keller gegangen - für einige von ihnen wurden sie zur tödlichen Falle: die Bewohner des Hauses Dorfstraße 22b hatten noch Glück; zwar verschütteten Trümmer den Zugang zu den provisorischen Schutzräumen, doch schon bald wurden sie von Helfern wieder herausgeholt. Im Keller des Hauses 22a jedoch kamen neun Personen ums Leben.

Das Haus der Familie Homfeld wurde vollständig zerstört, die Gebäude der Firma Heckenmüller in der Dorfstraße 28 schwer in Mitleidenschaft gezogen. Im Wohnhaus klafften große Lücken, ein Teil der Fabrikationshallen stürzte zusammen. Eine Druckwelle riß vom benachbarten Haus Dorfstraße 30 die Außenwand weg. In ganz Sude waren Schäden an Dächern und Fassaden zu sehen, und in den Gärten zwischen Brückenstraße und Bahnlinie zählt man mehr als dreißig Einschläge. Weit schlimmer jedoch waren die menschlichen Verluste: ungefähr 20 Männer, Frauen und Kinder fielen den Angriffen zum Opfer.

Heute, aus einer Distanz von fünfzig Jahren, lassen sich die Ereignisse des 2. Mai 1945 nicht mehr eindeutig rekonstruieren; es gibt keine offiziellen Dokumente über die Vorgänge, und die Erinnerungen der Zeitzeugen ergeben ein teils widersprüchliches Bild. Manche Augenzeugen sprechen von vier, andere von fünf Angriffen, und einmal hieß es gar, nur eine einzige Bombe sei gefallen. Auch die genaue Zahl der Opfer ist bislang noch nicht feststellbar.

Die Bomben auf Sude stellen als schwerster Luftangriff nicht nur den Höhepunkt der Itzehoer Kriegsgeschichte dar, ihnen kommt zugleich bis heute eine fast symbolische Rolle in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu. Dies wird deutlich, wenn man nach den Gründen für die Angriffe fragt. Vordergründig scheint er militärisch-strategischen Zielen gegolten zu haben, liegen doch Bahnhof und Gewerbebetriebe, Gaswerk und Umspannstation in einer Richtung. Verwunderlich ist nur, daß mit Ausnahme der Umspannstation keiner der vier Angriffe diese Objekte getroffen hat, obwohl die routinierten britischen Piloten bei hellem Sonnenschein und fehlender Gegenwehr diese Ziele eigentlich kaum verfehlen konnten.

Hartnäckig hält sich aber ein ganz anderes Gerücht - die Bomben, so heißt es, hätten der Fahne des Kreisleiters gegolten, die er ungeachtet des nahen Kriegsendes stur am Mast hatte wehen lassen. Paul Schneider bestätigte später in einem Protokoll, daß die Fahne anfangs zwar draußen gewesen sei; schon beim ersten Angriff jedoch habe er sie auf Drängen von Nachbarn hereingeholt. Dies ist auch durch aktuelle Zeugenaussagen bestätigt. Bei nüchterner Betrachtung zeigt sich in dieser Schuldzuweisung allenfalls, wie unsinnig in den letzten Tagen des Krieges manchen Itzehoern das Festhalten an der nationalsozialistischen Ideologie erschien. Ob eine von den Aufklärungsflugzeugen gemeldete Fahne den Engländern jedoch vier Angriffswellen wert gewesen ist, nachdem sie schon lange eingeholt worden war, dürfte jedoch höchst zweifelhaft sein...

Veröffentlicht in Norddeutsche Rundschau (Itzehoe) 1.5.1995


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