Die Psychiatrie im Nationalsozialismus gehört zu dem Teil der NS-Medizin, der als relativ gut untersucht gelten kann. Auch der grauenhafteste Aspekt der Psychiatriehistorie, die als "Euthanasie" bezeichnete Ermordung psychisch kranker und behinderter Menschen, ist in jüngster Zeit Forschungsgegenstand zahlreicher Studien; einschlägige Publikationen hierzu liegen sowohl für einzelne Regionen als auch in Form von überregionalen Gesamtdarstellungen vor. Für Schleswig-Holstein hingegen ist die "Euthanasie" bisher recht rudimentär erforscht. Umso verdienstvoller ist der zu besprechende Austellungskatalog Der Hesterberg, der sechs Beiträge zu unterschiedlichen Aspekten der Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig enthält. Dabei bildet die NS-"Euthanasie" den thematischen Schwerpunkt der Publikation.
Die Historikerin Susanna Misgajski, die die sehenswerte Austellung konzipierte und gestaltete, stellt in ihrem Beitrag die Geschichte der Schleswiger Kinder- und Jugendpsychiatrie von der Gründung der Anstalt 1852 bis zum Zusammenbruch des "Dritten Reiches" dar. Dem Aufsatz vorangestellt ist ein Exkurs über die sozialgeschichtlichen Entwicklungen der Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Dabei findet die These Klaus Dörners von der Entstehung und Entwicklung der "Sozialen Frage" Berücksichtigung. Es folgt eine detailreiche Darstellung der Gründungsgeschichte der Schleswiger Anstalt. Die Verfasserin arbeitet hier heraus, daß die Betreuung der psychisch kranken und geistig behinderten Kinder zunächst als primär pädagogische Aufgabe gesehen wurde; medizinische Konzepte fehlten bzw. erwiesen sich als erfolglos. Erst mit der Jahrhundertwende vollzog sich auch auf dem Hesterberg ein für die deutsche Psychiatrie kennzeichnender Wandel von der pädagogischen Betreuung zur medizinischen Versorgung der Kinder; personeller Ausdruck dessen war der Leitungswechsel vom Pädagogen Friedrich Ludwig Stender zum Mediziner August Stender, Sohn des Vorgenannten, im Jahre 1895. Die Belegungszahlen der 1900 von einer privaten Einrichtung in die öffentliche Hand der schleswig-holsteinischen Provinzialverwaltung übergegangenen Anstalt expandierten von 11 Kindern im Gründungsjahr auf 226 zum Zeitpunkt der Deprivatisierung. Dem weiteren kontinuierlichen Anstieg der Patientenzahlen auf schließlich ca. 500 Kinder und Jugendliche im Jahre 1923 wurde durch großzügige räumliche und personelle Erweiterungen Rechnung getragen. Der Beginn der Dualität von Kinder- und Jugendpsychiatrie und Fürsorgeerziehung auf dem Hesterberg ist gekennzeichnet durch die Aufnahme von 40 "Fürsorgezöglingen" im März 1918, da in den Provinzial-Erziehungsheimen Unterbringungsschwierigkeiten bestanden.
Recht ausführlich werden die Betreuungs- und Therapiekonzepte in den Jahren der Weimarer Republik dargestellt. Neben fortschrittlichen Methoden wie der Arbeitstherapie für die psychiatrischen Patienten und einer sonderpädagogischen Betreuung für die als "schwer erziehbar" geltenden "Fürsorgezöglinge" sowie der konsequenten Beschulung mit der Möglichkeit der Erlangung von Schulabschlüssen und Berufsqualifikationen für beide Klientengruppen fanden auch gewaltgeprägte Maßnahmen, etwa Fixierungen, "Dauerbäder" in kaltem Wasser und die sog. Elektroschock"therapie" Anwendung. Ausdruck des Versuches der Somatisierung psychiatrischer Erkrankungen war das Hesterberger Röntgeninstitut, in dem die Kinder und Jugendlichen Röntgenbestrahlungen des Kopfes erhielten.
Mit Beginn des "Dritten Reiches" vollzogen sich tiefgreifende Anstaltsumstrukturierungen zu Lasten der Psychiatriepatienten und "Fürsorgezöglinge". Die Patienten wurden vollkommen willkürlich und wahllos innerhalb Schleswig-Holsteins in andere Anstalten verlegt, von dort teilweise weitertransportiert oder wieder nach Schleswig-Hesterberg zurückgebracht; so stieg in den dreißiger Jahren die Zahl der "Fürsorgezöglinge", während die Anzahl der Psychiatriepatienten sank. Die Betroffenen waren "Verfügungsmasse" der nationalsozialistischen Provinzialverwaltung und die Anstalten dienten nunmehr der Verwahrung und Asylierung ohne primären therapeutischen Auftrag.
Der den Beitrag abschließenden Darstellung der Schleswiger "Kinderfachabteilung" vorangestellt ist ein kurzer Abriß der geistes- und realgeschichtlichen Entwicklung von der Eugenik zur NS-"Euthanasie". Opfer dieser verhängnisvollen Entwicklung wurden auch Kinder und Jugendliche der Hesterberger Anstalt, wobei Schleswig erst relativ spät von der T4-Mordaktion erfaßt wurde. In der Zeit von Mai bis August 1941 wurden die Opfer mit insgesamt fünf Sammeltransporten in die Tötungsanstalt Bernburg deportiert. Auch im letzten Jahr der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, im September 1944, wurden 697 Schleswiger Patienten in den Tod geschickt; sie wurden in die Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde deportiert. Die leitende Ärztin der Hesterberger Anstalt, Dr. Erna Pauselius, wußte zu jeder Zeit von dem Zweck der Transporte und von der tödlichen Funktion der Zielanstalten.
Unter Leitung von Erna Pauselius bestand seit Dezember 1941 auf dem Hesterberg eine "Kinderfachabteilung", die der Selektion und Tötung behinderter Kinder im Rahmen der NS-Kinder"euthanasie" diente. Folglich stieg seit Ende 1941 die Mortalität in der Hesterberger Anstalt signifikant an; die Kinder starben vorwiegend in Folge pflegerischer und therapeutischer Nichtversorgung somatischer Erkrankungen, wie die Autorin an Einzelschicksalen belegt. Die Tötungsmethode unterlassener Pflege und verweigerter adäquater Therapie ist kennzeichnend für die sog. zweite Phase der "Euthanasie".
Der notwendige Hinweis auf die erschreckenden inhaltlichen Parallelen von Eugenik bzw. Rassenhygiene und der aktuellen Bioethik beschließt den auf umfassender Quellengrundlage basierenden und informativen Beitrag.
Der Frage 216 verstorbene Kinder der Kinderfachabteilung Schleswig - Tötung, Verwahrlosung oder 'natürlicher Tod'? geht die Medizinerin Annette Grewe mit gutachterlicher Qualität nach. Ihr Beitrag basiert auf der Analyse therapeutischer Standards und ihrer Anwendung bei der an Lungenentzündung erkrankten und verstorbe-nen Patienten der Schleswiger Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dabei wird belegt, daß ein großer Anteil der Kinder und Jugendlichen mit einer Lungenentzündung keinerlei medizinische Therapie erhielten, obwohl diese Erkrankung seit Entdeckung der Sulfonamide Mitte der dreißiger Jahre ursächlich behandelbar war. Die Verfasserin weist die die NS-Medizin kennzeichnende, an gesellschaftlichen Nützlichkeitserwägungen orientierte Selektion hinsichtlich therapeutischer Maßnahmen nach; Patienten mit einer geringradigen psychischen oder neurologischen Behinderung wurden im Falle einer Lungenentzündung mit Sulfonamiden zumeist erfolgreich behandelt, während solche mit schwerwiegender Behinderung nicht therapiert wurden und verstarben. Diese Kinder wurden sodann dem "Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden", der zentralen und weisungsbefugten Institution der Kinder"euthanasie", als "behandelt" - Nazijargon für ermordet - gemeldet.
Die gescheiterte juristische Nachkriegsauseinandersetzung mit der NS-"Euthanasie" in Schleswig-Holstein zeichnet der Historiker Uwe Danker in seinem Beitrag Verantwortung, Schuld und Sühne - oder: "...habe ich das Verfahren eingestellt" nach. In zwei Verfahren (1945 bis 1950 und 1961 bis 1965) wurde gegen mutmaßliche Verantwortliche der Patientenmorde in Schleswig-Holstein ermittelt. Beide Verfahren wurden eingestellt, ohne daß nur einer der Beschuldigten strafrechtlich belangt wurde; beide Verfahren leitete der Oberstaatsanwalt Dr. Paul Thamm, der als Ankläger des schleswig-holsteinischen Sondergerichtes ein exponierter Repräsentant der NS-Unrechtsjustiz gewesen war. Es ist ein ernüchternder Befund der ausgezeichneten Darstellung Dankers, daß die Ermittlungsverfahren ohne strafrechtliche Konsequenzen blieben, obwohl sich die Staatsanwaltschaft ein sehr präzises Bild der "Euthanasie"-Aktionen erarbeitet hatte und die Beteiligungen der Beschuldigten daran bekannt waren. In den beiden staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen trat ein perfektes System der Delegierung von Verantwortung in der Durchführung des geplanten, arbeitsteiligen Massenmordes zutage, das den Tätern mit der Verantwortungsdelegierung auch die projektive Abwehr von Schuldgefühlen ermöglichte. Dieses System der Verantwortungsleugnung und -delegierung hatte offenbar wirkungsvollen Bestand bis in die sechziger Jahre und konnte von der schuldhaften "Unschuld" der Vollstrecker der nationalsozialistischen Ausmerzepolitik überzeugen.
Der Beitrag Kieler Nachkriegsordinarien der Medizin und die NS-Euthanasie des Juristen Klaus-Detlev Godau-Schüttke zeigt, daß die Protagonisten des Kranken- und Behindertenmordes nicht nur in juristischer Hinsicht ungestraft davonkamen, sondern außerdem ihre berufliche und wissenschaftliche Karriere haben ungehindert fortsetzen können - so etwa der Pädiater Werner Catel. Catels Berufung zum Ordinarius für Kinderheilkunde nach Kiel 1954 wurde mit breiter Unterstützung der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität erwirkt, obwohl seine Funktion als "Gutachter" im Rahmen der Kinder"euthanasie" hier hinlänglich bekannt war. Auch der international steckbrieflich gesuchte "Euthanasie"-Massenmörder Werner Heyde, der unter dem Falschnamen Dr. Fritz Sawade als medizinischer Gerichtsgutachter im Schleswig-Holstein der fünfziger Jahre Karriere machte, wurde von zahlreichen Mitgliedern der Kieler Medizinischen Fakultät jahrelang gedeckt. An Hand dieser Beispiele macht der Aufsatz von Godau-Schüttke deutlich, daß neben ideologischen auch personelle Kontinuitäten des Nationalsozialismus einen demokratischen Neubeginn - freilich nicht nur in Schleswig-Holstein - konterkarierten.
Die letzten zwei Beiträge gelten der Gegenwart der Schleswiger Fachklinik. Die Leitende Ärztin Dörte Stolle stellt die Entwicklung und den aktuellen Stand der Arbeit der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Schleswig dar. Nach der Beschreibung der Genese der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu einer eigenständigen medizinischen Fachdisziplin stellt die Autorin die Entwicklung der Schleswiger Einrichtung seit dem Kriegsende bis in die Gegenwart dar. Diese Entwicklung war offenbar derart defizitär, daß erst mit Beginn der neunziger Jahre ein diagnostischer und therapeutischer Standard erreicht werden konnte, der dem nationalen und internationalen Vergleich standhält. Leider werden die Gründe für diese erstaunlich späte Optimierung der Klinik nicht dargelegt. Es folgt eine sehr ausführliche Darstellung der vielfältigen diagnostischen und therapeutischen Methoden, die einen interessanten Einblick in die kinder- und jugendpsy-chiatrische Arbeit gibt, sowie eine kritische Würdigung der die Kinder- und Jugendpsychia-trie beeinflussenden gesellschaftspolitischen Situation. Der Beitrag schlägt also den Bogen in die Gegenwart und stellt somit eine sinnvolle Ergänzung zum Aufsatz von Susanna Misgajski dar.
Der Psychologe Franz Kiefer stellt das Schleswiger Heilpädagogikum vor. Diese Institution ist eine aus dem Langzeitbereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie hervorgegangene heilpädagogische Einrichtung der Behindertenhilfe; hier hat sich also ein Paradigmenwechsel von der medizinischen Versorgung zur pädagogischen Begleitung vollzogen. Es werden mit heilpädagogischen Methoden geistig und körperlich behinderte Menschen mit zumeist hospitalisierungsbedingten Schädigungen betreut und gefördert. Diese Arbeit ist geprägt von dem Ethos, daß behinderte Menschen in ihrem Anderssein gegenüber den Nichtbehinderten als gleichwertige Existenzform ohne spezifischen Krankheitswert akzeptiert sind - eine ausgesprochen wohltuende Aussage angesichts der gegenwärtigen utilitaristisch-bioethischen Propaganda für den prä- und postnatalen Behindertenmord. Unter dieser Prämisse skizziert der Autor die Leitlinien einer akzeptierenden Behindertenpädagogik: Normalisierung der Lebensverhältnisse, Integration und Personalität behinderter Menschen. Das so akzentuierte Verständnis Behinderter droht allerdings in Zeiten schwindsüchtiger öffentlicher Kassen preisgegeben zu werden zugunsten der kostengünstigeren "Satt-und-sauber-Pflege" Behinderter ohne jede heilpädagogische Förderung. Also erneut bloße Verwahrung statt professioneller Begleitung und Hilfe?
Die Ausstellung zur Geschichte der Hesterberger Kinder- und Jugendpsychiatrie wird 1998 als Wanderausstellung in verschiedenen Orten Schleswig-Holsteins zu sehen sein.
Ein Besuch lohnt sich!