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Frank Omland

"Neumünster im Nationalsozialismus" - eine alternative (Fahrrad-)Rundfahrt

Am Samstag, dem 5. November 1994 fand in Neumünster die Premiere statt: Zum ersten Mal konnten Interessierte sich bei einer Rundfahrt vor Ort über Ereignisse der NS-Zeit informieren lassen. Eingeladen hatte der Jugendverband Neumünster e.V., der auf Initiative von Ulf Schloßbauer vor knapp einem Jahr eine Seminarreihe zur Thematik angeboten hatte. Die Teilnehmer dieser Kurse hatten dann vor Ort Spuren "ausgegraben" und anschließend ein Konzept für eine Stadtrundfahrt erarbeitet.

Der Stadtführer stellte eingangs die (soziale) Lage Neumünsters vor 1933 dar und machte deutlich, daß die Stadt mit 40.000 Einwohnern faktisch völlig von der Tuch- und Lederindustrie sowie dem damit verbundenen verarbeitenden Gewerbe abhängig war. Industriearbeiterschaft dominierte, so daß sowohl SPD als auch KPD in Neumünster großen Zuspruch fanden. Der Aufstieg der NSDAP verlief zugunsten der bürgerlichen Interessenparteien (soweit dies ohne empirische Wahlforschung feststellbar ist) und hatte mindestens zwei für Neumünster typische Gründe: 1. die Folgen des "Landvolkboykotts", d. h. der Weigerung der Bauern aus dem Umland, in Neumünster einzukaufen, nachdem es im August 1929 zu brutalen Polizeieinsätzen gegen Bauerndemonstrationen gekommen war, und 2. der industriellen Monokultur, die natürlich anfällig für die Weltwirtschaftskrise war, was nach der Schließung mehrerer Lederfabriken zu einem massiven Anstieg sozialer Probleme führte.

Vor der katholischen St. Maria Vicelin-Kirche in der Bahnhofstraße ging es um die Rolle der Pastoren und Pfarrer bzw. allgemeiner der katholischen und evangelischen Kirchen im "Dritten Reich". Und hier wird ein Mangel der Fahrt deutlich: an einigen Stationen dominierte das Allgemeine vor dem Lokalen, zu dem eben manchmal noch zu wenig Wissen vorhanden ist. Zudem versperrte das hohe Engagement der Gruppe zuweilen den Blick für das Wesentliche bzw. führte zu Beurteilungen, die zumindest stark diskussionsbedürftig waren (etwa wenn es um Thesen zur "Allmacht" des NS-Regimes oder um den Zwang zur Teilnahme an der "Volksgemeinschaft" ging).

Dementsprechend waren diejenigen Stationen am eindrucksvollsten, welche sich um die lokale Ebene drehten. So wurde am Gänsemarkt von einem blutigen Zusammenstoß zwischen NSDAP und KPD erzählt, bei dem ein Nazi getötet und ein Kommunist später dafür verurteilt wurde. Beim Rathaus ging es um die "Machtergreifung", und bei der Holstenschule wurde vorstellbar, wie der Unterricht gewesen sein könnte - an einer Schule, die von einer ns-treuen Lehrerschaft und einer HJ-dominierten Schülerschaft geprägt war.

Aus Zeitgründen - ursprünglich waren 16 (!) Stationen geplant - fiel der Weg zum Textilmuseum fort. In einem Park hatte dort nämlich ein Museum für Germanische Trachten gestanden, die auch als Wanderausstellung durchs Deutsche Reich die Idee von der "arischen Rasse" propagieren sollte. Der


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Museumsbau wurde 1945 durch Bombenangriffe zerstört; Teile der Ausstellung befinden sich heute im Textilmuseum bzw. im Schloß Gottorf.

Die Fahrradrundfahrt endete auf dem Nord- bzw. Südfriedhof, wo neben den Gräbern von ZwangsarbeiterInnen auch ein Feld für die Kriegs- und Bombenopfer zu finden ist.

Neumünsters Geschichte im Nationalsozialismus ist noch so gut wie unerforscht, so daß die Stadtführer - alles Männer - hier gänzlich Neuland betraten, wofür ihnen nicht nur Dank, sondern im weiteren Verlauf auch jegliche Unterstützung zu wünschen ist. Und die kommende Praxis mit solchen Rundgängen wird die anfangs gemachten Fehler bald vermeiden helfen.

Zum Abschluß noch ein Hinweis: Der Hauptinitiator, Ulf Schloßbauer, hat seine Diplomarbeit zum Thema Die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die Arbeiterstadt Neumünster in den Jahren 1930 - 1945 unter sozialen und pädagogischen Aspekten geschrieben. Sie ist im Landesarchiv, in der Landesbibliothek, dem Neumünsteraner Stadtarchiv und in der Stadtbücherei ausleihbar und enthält eine Fülle von Dokumenten, Materialien, Fotos und Zeitungsausschnitten, so daß sie u.a. als Quellensammlung für den lokalen Geschichtsunterricht dienen kann.

Nähere Informationen zu Stadtrundfahrten/-rundgängen gibt der Jugendverband Neumünster e.V., Gartenstraße 32, Tel. 04321/44355.

Frank Omland


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 26 (November 1994) S. 101-102.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 26

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