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Frank Omland

Jürgen W. Falter: Hitlers Wähler.

München: C. H. Beck Verlag 1991. 444 S.

Eine Anmerkung vorweg: Obwohl dieses Buch bereits drei Jahre alt ist, soll es hier vorgestellt werden, weil meines Erachtens die darin gesammelten Erkenntnisse in den Wissensschatz all derjenigen gehören, die sich mit der NS-Zeit beschäftigen.

Jürgen W. Falter hat mit Hilfe einer großen Zahl von wissenschaftlichen Hilfskräften in 12 ½ Jahren wohl erschöpfend alle Daten zu den Reichtags- und Reichspräsidentenwahlen der Weimarer Zeit analysiert und konnte durch die Methode der "ökologischen Regressionsanalyse" wissenschaftlich fundierte Schätzungen zu WählerInnenwanderungen, Prozentanteilen der Parteien, Einfluß von Propaganda und Presse etc. bezüglich des Aufstiegs der NSDAP ableiten.

Den Kern des Buches machen die Analysen zur Wählerschaft der NSDAP aus: Soziale Zusammensetzung, Geschlechterverteilung, JungwählerInnenAnteil, regionale Ausbreitung, Konfessionszugehörigkeit, Verschuldung und das Presseklima werden behandelt. Dabei räumen Falter und sein Mitarbeiterstab mit einer Reihe von Vorurteilen auf und belegen einige landläufige Thesen.


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So ergeben die Berechnungen zum WählerInnensaldo, daß die NSDAP bis wann ca. 7.5 Millionen Stimmen aus dem liberal-konservativen bzw. interessengruppen-orientierten Parteienlager (DNVP, DDP/DVP, Splitterparteien), ca. 6 Millionen von den NichtwählerInnen, etwas über 2 Millionen von der SPD, knapp 600.000 vom politischen Katholizismus (Zentrum und BVP) und rund 350.000 von der KPD hinzugewann (S. 369). Behauptungen, daß gerade viele KPD-WählerInnen zum anderen "Extrem" abwanderten, kann Falter ebenso widerlegen wie eine oft behauptete "Immunität" seitens der ArbeiterInnen.

Da die Schichtzugehörigkeit keineswegs zwangsläufig mit einem klassenkämpferischen Bewußtsein einherging und nur knapp 10 % der ArbeiterInnen zum großstädtischen Proletariat bzw. der Industriearbeiterschaft zählten, verwundert es nicht, wenn Falter feststellt, daß ab "Juli 1932 mehr Arbeiter die NSDAP gewählt hätten, als jeweils der KPD oder der SPD ihre Stimme gaben", und "Kreise mit vielen Arbeitern [...] zeigten sich in ihrer Gesamtheit zwar weniger anfällig als der Durchschnitt aller Kreise, keineswegs aber waren sie resistenter als Gebiete mit vielen Angestellten" (S. 277). Und Angestellte haben - entgegen der Thesen insbesondere linker Wissenschaftler - eben nur unterdurchschnittlich oft NSDAP gewählt: "Die Sicherheit wächst, daß Angestellte insgesamt keineswegs eine besondere NSDAP-Anfälligkeit aufweisen, ja sogar eher seltener als der Durchschnitt aller Wahlberechtigten für die Nationalsozialisten stimmten." (S. 232).

Es können hier nicht alle Ergebnisse vorgestellt werden, so daß ein paar weitere kurze Hinweise genügen sollen: So ist beispielsweise der Unterschied zwischen den Geschlechtern beim Wahlverhalten derart gering, daß nicht mehr von einer besonderen Anfälligkeit der Frauen gesprochen werden kann. Desweiteren ist keinesfalls zu belegen, daß die NSDAP überdurchschnittlich viele JungwählerInnen für sich gewinnen konnte. Indizien gibt es hingegen für die "Immunität" der gläubigen Katholikenschaft sowie den Anstieg der NSDAP in ländlichen protestantischen Gebieten.

Propaganda, rechtes Presseklima, Überschuldung infolge der Wirtschaftskrise beförderten die Wahlsiege der NSDAP ebenfalls. Falsch ist es aber, von einem kausalen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und NSDAP-Aufstieg zu reden: Neben der katholischen Konfessionszugehörigkeit erwies sich die Erwerbslosigkeit als stärkster Resistenzfaktor gegenüber dem Nationalsozialismus. JedeR sechste Arbeitslose stimmte für die NSDAP, aber jedeR vierte für die KPD.

Doch nicht nur reine Wahlanalyse, soweit dies heute noch möglich ist, haben Falter und seine Mitarbeiter betrieben; sie beschäftigen sich u. a. auch mit der Reaktion von Zeitgenossen auf die Erfolge der NSDAP und zeigen beispielhaft anhand von Zeitungskommentaren und -artikeln auf, wie unterschiedlich die damaligen Einschätzungen waren. Auffallend ist die (verständliche?!) Verharmlosung und Abwertung der NSDAP bzw. die Unterschätzung ihrer Erfolge.

Neben zeitgenössischen Erklärungsversuchen erläutert Falter zudem die drei Standardtheorien zum Aufstieg der NSDAP: den klassentheoretischen und


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den massentheoretischen Ansatz sowie die Theorie des "politischen Konfessionalismus", um jeweils im Laufe der Untersuchung kritisch deren Thesen auf ihre (Fehl-)Annahmen zu durchleuchten. Seine Kernfrage lautet dabei immer wieder: Woher wissen die Autoren das überhaupt, was sie behaupten?

Interessant ist Falters Analyse auch dort, wo er "Typische Fehler wahlhistorischer Untersuchungen über den Nationalsozialismus" aufzeigt und daraus "Methodische Anforderungen an historische Wahluntersuchungen" ableitet. Dabei bemüht er sich immer, seine Sprache an einem interessierten Laienpublikum auszurichten, faßt Ergebnisse zusammen und gibt Lesebeispiele, wenn Tabellen, Abbildungen und Übersichten verwendet werden. Gerade letzteres ist ihm hoch anzurechen, und selbst im für die Empiriker geschriebenen Anhang werden noch Lesehilfen für "Korrelationen" oder "Multiple Regression" gegeben!

Alles in allem ist Hitlers Wähler ein Buch, das allen historisch Interessierten wärmstens empfohlen werden kann und dessen Ergebnisse eine große Verbreitung verdient haben.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 26 (November 1994) S. 102-104.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 26

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