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Gerhard Paul

Perspektiven der NS-Forschung in Schleswig-Holstein

Wer in der zweiten Hälfte der 90er Jahre und im 50. Jahr nach der Befreiung von dem braunen Spuk beginnt, sich wissenschaftlich mit der Aufarbeitung der NS-Zeit zu beschäftigen, wird sich gewiß der Frage nicht erwehren können: Welchen Sinn macht die Auseinandersetzung mit einem historischen Gegenstand, der wie kein anderer in der deutschen Geschichte bis in die feinsten Verästelungen hinein erforscht, ja z. T. sogar bereits überforscht zu sein scheint? Ich pflege solchen Fragestellern zu antworten: Wie keine zweite Epoche der deutschen Geschichte bietet die Auseinandersetzung mit der Zeit des Dritten Reiches Einblicke in die widersprüchliche Potentialität der Moderne als gleichzeitiger Einheit von Zivilisation und Barbarei. Wie die gegenwärtige Entwicklung etwa auf dem Balkan hautnah demonstriert, wissen wir noch immer viel zu wenig über die Freisetzungsbedingungen der barbarischen Potentiale der Moderne. Die Beschäftigung mit der Zeit des Dritten Reiches kann daher mittelbar ein Beitrag zu einer friedlichen und menschlichen Gesellschaft sein, die den Rückfall in die Barbarei wenn nicht unmöglich macht, so doch erschwert. Sie sollte daher - wie es kürzlich der Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Oberstaatsanwalt Alfred Streim, angeregt hat - eine ständige Aufgabe in Schule und Universität sowie bei der Weiterbildung von Offizieren und Polizeibeamten sein, wobei es hier weniger um historische Daten und Ereignisse, als um die Erkenntnis von Entstehungsbedingungen und Zusammenhängen gewaltförmiger, demokratiefeindlicher politischer Systeme in der deutschen Geschichte ginge.

NS-Forschung in den 90er Jahren geschieht nicht voraussetzungslos und in einem luftleeren Raum. Sie hat vielmehr von einigen Prämissen und Rahmenbedingungen auszugehen, die ich zunächst einleitend skizzieren möchte, weil sie Folgen für Fragestellungen, Begrifflichkeit, Forschungsdesign und Empirie auch einer regionalgeschichtlichen NS-Forschung haben. In einem zweiten Teil werde ich dann konkret auf Forschungsvorhaben einer künftigen NS-Regionalgeschichtsforschung in Schleswig-Holstein zu sprechen kommen.

I.

NS-Forschung in den 90er Jahren kann nicht so tun, als habe es die epochalen weltpolitischen Veränderungen mit ihren gravierenden Auswirkungen auch für Deutschland nicht gegeben. Der Zusammenbruch der realsozialistischen Diktaturen einschließlich der DDR und die Rückkehr des Krieges als Mittel der Politik in den europäischen Alltag provozieren neue Fragestellungen, eröffnen neue internationale Kooperationszusammenhänge und erschließen zugleich neue Archivbestände, die der bundesrepublikanischen Zeit- und Regionalgeschichtsforschung bislang weitestgehend verschlossen waren. Denken Sie etwa


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an die riesigen Bestände des Moskauer Sonderarchivs, des Instituts für Marxismus-Leninismus und des Stasi-Archivs in Ostberlin oder auch nur an die in Prag wieder aufgetauchten Akten des Reichskriegsgerichts. Die Akten dieser Bestände machen heute Forschungsvorhaben möglich, die vor zehn Jahren noch als Utopie abgetan wurden.

Lassen Sie mich schlaglichtartig und ganz allgemein einige der die NS-Forschung heute bewegenden Fragen benennen. Unser täglich sich erweiterndes Wissen über die Strukturen der stalinistischen Zwangsherrschaft, über die Dimensionen des Archipel Gulag und den realsozialistischen Überwachungsstaat provoziert geradezu vergleichende empirische Untersuchungen der diktatorischen Herrschaftsformen des Stalinismus und des Nationalsozialismus wie etwa deren Lagersysteme oder Vertreibungspraxis, ohne daß in relativierender Absicht die historische Einzigartigkeit des Holocaust bestritten werden soll. Wir können nicht länger so tun, als ob es bei aller Unterschiedlichkeit nicht auch gemeinsame Strukturmerkmale und Verwandtschaften beider Systeme gegeben habe. In universalgeschichtlicher Perspektive wird daher auch die regionalgeschichtliche NS-Forschung die Frage nach den allgemeinen Wesensmerkmalen von Diktaturen jenseits der nationalsozialistischen Besonderheiten bei der Bewertung ihrer Ergebnisse zu berücksichtigen haben. Und sie wird sich der nicht erst von Detlev Peukert aufgeworfenen und angesichts der Entwicklungen auf dem Balkan und in Tschetschenien gar so aktuellen Frage nach den barbarischen Potentialen der Moderne stellen müssen.

50 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches mit systematischen Forschungsvorhaben zur regionalen NS-Geschichte zu beginnen, impliziert die große Chance, neben dem Aufgreifen solch universalgeschichtlicher Fragestellungen die versteinerten Positionen der bisherigen Forschung zu transzendieren, die unproduktive Fokussierung auf die zwölf braunen Jahre zu überwinden und den volkspädagogischen Opfer- oder Denkmalskult zahlreicher bisheriger Forschungsvorhaben hinter sich zu lassen. So ist es erst jetzt möglich, die traditionalistische unfruchtbare Bipolarität von Verfolgung und Widerstand zu transzendieren, deren tatsächliche Interdependenzen zu entfalten, wie dies Martin Broszat gefordert hat, und bislang tabuisierte Fragestellungen systematisch zu entwickeln. Wenn wir dies berücksichtigen, sind durchaus neue Erkenntnisse zu erwarten, werden allerdings auch bisherige Heroisierungen und einseitige Verurteilungen relativiert, wird unser Geschichtsbild des Dritten Reiches vielleicht weniger eindeutig, als es bislang war.

Lassen Sie mich dies an einem Beispiel erläutern. In den 70er und 80er Jahren, als es aus legitimatorischen Gründen darum ging, an den Widerstand gegen Hitler zu erinnern, wurde die Gruppe der "Edelweißpiraten" zum Idealbild jugendlichen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus stilisiert. Dies war nur möglich, weil sich die Forschung verengend auf die Jahre 1933 bis 1945 fixiert hatte. Neue Längsschnittuntersuchungen über subkulturelles jugendliches Protestverhalten, die den Gesamtzeitraum von 1930 bis 1950 berücksichtigten, kommen zu ganz anderen Ergebnissen, indem sie zeigen, daß "Edelweißpiraten" auch den alliierten Besatzungs-


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mächten zu schaffen machten, es sich keineswegs nur um eine antinationalsozialistische, sondern eher um eine allgemeinere subkulturelle Protestformation von Jugendlichen gegen die Zwänge der Erwachsenenwelt handelte.

Neue Technologien ermöglichen uns - wie dies Jürgen Falter eindrucksvoll für den Bereich der historischen Wählerforschung zum Aufstieg der NSDAP demonstriert hat - neue quantifizierende Forschungsvorhaben und die Auswertung etwa von biographischen Massendaten, die die Verarbeitungskapazitäten eines einzelnen Forschergehirns überfordern. Kollektivbiographische Strukturen von Tätern und Opfern des NS-Terrors werden so erstmals auf breiter empirischer Datenbasis erkennbar. Das heißt: auch methodologisch wird eine jetzt beginnende NS-Forschung nicht hinter den erreichten Stand der Informationstechnologie zurückfallen dürfen, sondern sich der neuen technologischen Möglichkeiten und Hilfestellungen vergewissern müssen.

Wie vielfach hervorgehoben, hat sich die Zeitgeschichtsforschung regional keineswegs gleichzeitig der NS-Zeit angenommen, sondern kam es - aufgrund spezifischer Kontinuitätsmuster und Traditionsbestände in den regionalen politischen Kulturen - zu Ungleichzeitigkeiten mit dem für Schleswig-Holstein nicht gerade schmeichelnden Ergebnis, daß hier die Desiderate größer waren als anderswo und man sich in kaum einem anderen Bundesland mit der Untersuchung der NS-Geschichte schwerer tat als hier. Von dieser Tatsache ausgehend hat jede künftige NS-Forschung in Schleswig-Holstein daher notwendigerweise nachholenden Charakter, die erst jetzt systematisch angeht, was in anderen Teilen der Republik wie etwa Bayern, Bremen oder dem Saarland bereits als weitestgehend abgeschlossen gelten kann.

Nachholende regionalgeschichtliche NS-Forschung kann jedoch nicht heißen, einfach das zu reproduzieren, was in anderen Bundesländern z.T. bereits vor Jahrzehnten vorexerziert wurde. Zwar mag es Gründe im Bereich der politisch-kulturellen Traditionsbildung oder der Geschichtsdidaktik geben, den Spuren der NS-Diktatur vor der eigenen Haustür nachzuspüren; würde sich die regionalgeschichtliche NS-Forschung indes darauf beschränken, das überregionale Passepartout nur einfach mit regionalen Daten zu füllen bzw. das nachzukauen, was wir bereits aus anderen Teilen des ehemaligen Deutschen Reiches wissen, so hätte sie ihr Ziel verfehlt und wäre das in sie investierte Geld schlecht angelegt. Der wissenschaftliche Ertrag einer NS-Regionalgeschichtsforschung, die darauf hinweist, daß auch in den Städten Schleswig-Holsteins im Morgengrauen des 9. November 1938 die jüdischen Synagogen brannten, daß sich auch hier Hunderte von Zwangsarbeiterlagern befanden oder es auch hier - angefangen von den Bibelforschern bis hin zu den Kommunisten - Widerstand gab, ist denkbar gering. Forschungen dieser Art können und sollen eine Sache von Traditionsvereinen, Verfolgtenorganisationen, Geschichtswerkstätten, gymnasialen Leistungskursen und studentischen Seminararbeiten bleiben.

Eine wissenschaftliche NS-Regionalgeschichtsforschung indes kann nicht so tun, als habe es eine systematische und theoriegeleitete NS-Forschung außerhalb Schleswig-Holsteins bislang nicht


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gegeben. Vielmehr hat eine moderne regionalistische NS-Forschung ihre Fragestellungen, Methoden und Befunde im Kontext des erreichten Forschungsstandes zu begründen und zu diskutieren. Ein sinnvoller und in seinen Ergebnissen ertragreicher Forschungsansatz zur NS-Geschichte Schleswig-Holsteins sollte daher vor allem komparativ angelegt sein. Eine nachholende Aufarbeitung der zwölf braunen Jahre in der "Nordmark" könnte aus der Not eine Tugend machen, wenn es gelänge, einen solchen komparativen Ansatz zum konstitutiven Bestandteil ihres Forschungsdesigns zu machen.

Es käme somit auf zweierlei an: einerseits wären die regionalen Besonderheiten, Verzerrungen und Brechungen der nationalen Entwicklung auf der Grundlage sozialstruktureller und politischer Spezifika und Sonderentwicklungen und dem Charakter Schleswig-Holsteins als früher Hochburg der NSDAP zu bestimmen. Andererseits ist von den zu erwartenden Ergebnissen zu fordern, daß sie unser Wissen über die Funktionsmechanismen des NS-Regimes erweitern und differenzieren. Denn eines ist gewiß, worauf Wilfried Loth in Geschichte und Gesellschaft kürzlich verwiesen hat: Fortschritte in der NS-Forschung werden künftig nur mehr durch regionalgeschichtlich orientierte Forschungsansätze zu erwarten sein, die das oft spekulativ gewonnene Bild der großen Überflieger der Zeitgeschichtsforschung - wie Karl-Dietrich Bracher oder Ernst Nolte, um nur zwei zu nennen - korrigieren dürften. Denken Sie etwa an die Regionalstudie des kanadischen Historikers Robert Gellately zur Gestapo-Herrschaft in Unterfranken, der nachweisen konnte, daß die Effizienz staatspolizeilichen Handelns zum ganz wesentlichen Teil der denunziatorischen Mobilisierung bzw. Selbstüberwachung der Bevölkerung geschuldet war und es viel zu einfach wäre, alle Verbrechen des Regimes verkürzend Gestapo und SS anzulasten, wie dies die exkulpierende Volkspädagogik der 50er und 60er Jahre vielfach praktiziert hat.

II.

Nach diesen zugegebenermaßen eher abstrakten Vorbemerkungen lassen Sie mich nun konkreter werden. Im folgenden möchte ich skizzieren, welcher Themen und Fragestellungen sich die regionalistische NS-Forschung in Schleswig-Holstein in den kommenden Jahren anzunehmen hätte, um sowohl die beschriebenen regionalgeschichtlichen Desiderata auszugleichen, als auch allgemein zum Erkenntnisgewinn über die Funktionsmechanismen der NS-Diktatur beizutragen. Dabei kann ich mich nur auf einige Aspekte konzentrieren.

Bedarf an nachzuholender Grundlagenforschung besteht zunächst im Bereich einer systematischen NS-Herrschaftsgeschichte auf den unterschiedlichen Ebenen der Herrschaftsausübung. Zu untersuchen wären sowohl im ganz konventionellen Sinne die Vorleistungen und Übergänge von den Herrschaftsinstitutionen der Weimarer Republik zu denen des Dritten Reiches, deren Verhalten gegenüber dem neuen Staat, als auch die Geschichte der neuen spezifischen NS-Herrschaftsinstitutionen wie der Gestapo, der Sonderjustiz und der


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mit qualitativ neuen Kompetenzen ausgestatteten Parteieinrichtungen.

Systematisch ginge es hier um das Verhältnis von nationalsozialistischem Maßnahmen- und bürgerlichem Normenstaat. Besondere Aufmerksamkeit wäre der Frage zu widmen, ob nicht gerade in Preußen - beispielsweise im Bereich der Polizei - bereits mit dem sog. "Papen-Putsch" bzw. "Preußenschlag" vom Juli 1932 zentrale Einschnitte in der Personalstruktur wie in der Feindbildorientierung erfolgten. So ist etwa für Schleswig-Holstein bekannt, daß eine Reihe von Polizeipräsidenten nicht erst nach dem 30. Januar 1933 ihr Amt verlassen mußten, sondern bereits nach der Absetzung der preußischen Regierung durch rechtskonservative Amtsinhaber ausgewechselt wurden, und daß nicht erst 1933 systematisch Listen von sozialdemokratischen Reichsbanner-Mitgliedern durch die Politische Polizei erstellt wurden, sondern noch zur Zeit der Republik im Frühherbst 1932, auf deren Grundlage dann später nach dem Reichstagsbrand die Nationalsozialisten ihre Razzien organisierten.

Lassen Sie mich exemplarisch einen Aspekt der NS-Herrschaftsinstitutionen herausgreifen. Noch immer fehlen grundlegende Studien zur NS-Gerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein, angefangen von den Sondergerichten über die zahlreichen Kriegsgerichte der Marine bis hin zu den marodierenden Standgerichten der Kriegsendphase. Dabei käme es auch hier darauf an, die Ebene der isolierenden Betrachtung eines Gerichtstypus zu transzendieren und zu einer alle Gerichtsformen des NS-Staates integrierenden Betrachtungsweise - einschließlich der traditionellen Gerichtsbarkeit - zu gelangen. Denn auch hier waren die Übergänge fließend, gab es zahlreiche Kooperationsformen zwischen traditioneller und nationalsozialistischer Sonderjustiz, und wäre es verfehlt, alles Übel nur den spezifischen NS-Sondergerichten anzulasten und damit die traditionellen Gerichte zu exkulpieren.

Zu untersuchen wären die Radikalisierungsprozesse dieser Gerichte und die Biographien der Richter bzw. Staatsanwälte, zumal gerade in Schleswig-Holstein viele von ihnen in der Gerichtsbarkeit der Nachkriegszeit Wiederverwendung fanden und neue Karriere machten. Gleiches gilt für den Bereich der Polizei und der Gestapo, deren Strukturen, Veränderungsprozesse und personale Basis nicht nur in Schleswig-Holstein bislang kaum erforscht sind, obwohl alle Welt das Kürzel "Gestapo" im Munde führt und sich zu Vergleichen mit dem Staatssicherheitsdienst der DDR berufen fühlt.

Über eine traditionelle Institutionengeschichtsschreibung "von oben" hinaus - die allzu oft nur bei der Beschreibung von Plänen und Entwürfen stehen bleibt und von hier verkürzend und ohne empirischen Beleg auf die Praxis schließt - wären im Sinne einer von Gellately geforderten, längst überfälligen vergleichenden Sozialgeschichte des NS-Terrors "in Aktion" die alltäglichen Wirkungs- und Durchsetzungsweisen dieser Institutionen, d.h. deren konkrete Herrschaftspraxis, zu analysieren. Ein solcher Perspektivenwechsel wäre zugleich in der Lage, am regionalen Untersuchungsgegenstand Qualität und Quantität der gesellschaftlichen Akzeptanz und Unterstützung dieser Praxis - z.B. in Form eines weitverbreiteten Denunzian-


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tentums - zu bestimmen, worüber noch immer viel zu sehr spekuliert wird.

Im Unterschied zu anderen Regionen sind die verschiedenen Phasen, Verlaufsformen und sich wandelnden Feindbildorientierungen der nationalsozialistischen Verfolgungspraxis - angefangen von den politischen Gegnerverfolgungen der ehemaligen Linksparteien bis hin zur rassistischen Generalprävention - in Schleswig-Holstein weitestgehend unerforscht geblieben. Am eklatantesten erweist sich die Nichtexistenz einer Geschichte der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Über eine Dokumentation der bereits in der Weimarer Republik massiv einsetzenden Diskriminierung dieses Bevölkerungsteiles bis hin zu ihrer Deportation in die Vernichtungslager des Ostens hinaus ist es unbedingt an der Zeit, einmal systematisch diese keineswegs nur von der Gestapo betriebene Verfolgungspraxis zu analysieren.

Im Sinne der angemahnten Sozialgeschichte des NS-Terrors könnte und müßte eine solche nachholende Geschichte des Holocaust das arbeitsteilige Geflecht der zahlreichen Hilfsorgane - angefangen von den traditionellen Verwaltungs- und Herrschaftsinstitutionen in Gestalt der Bürgermeistereien, der Arbeits- und Gesundheitsämter sowie der grünen Polizei bis hin zur tätigen Unterstützung durch Teile der nichtjüdischen Bevölkerung - einmal systematisch unter die Lupe nehmen. Dabei wäre die These zu überprüfen, daß der Genozid auch in den Strukturen einer positivistischen Rechtstradition und in der arbeitsteiligen Rationalität moderner Verwaltungen wurzelte. Über die regionale Aufarbeitung hinaus wären von einem solchen Ansatz zugleich weiterreichende Kenntnisse über das Ausmaß des Wissens und der gesellschaftlichen Unterstützung des Holocaust zu erwarten.

Gleiches gilt für die Praxis der Euthansie, die Verfolgung von Roma, Sinti und Homosexuellen in Schleswig-Holstein und die Behandlung der Zehntausenden von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Unter regionalgeschichtlichen Aspekten wäre darüber hinaus vor allem nach dem Verhalten des NS-Staates gegenüber der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein, aber auch nach deren eigenen Anpassungs- und Kollaborationsleistungen zu fragen.

Das Dritte Reich war kein statisches Regime, sondern veränderte sich kontinuierlich in der Zeit. Die Gestapo der Anfangszeit etwa unterschied sich zum Teil fundamental von der des Jahres 1945. Dieser Prozeßcharakter der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis ist bislang nur selten wahrgenommen worden, weil sich zahlreiche Studien isolierend nur auf einzelne Phasen des Dritten Reiches - und hier wiederum schwerpunktmäßig auf die Anfangsjahre - konzentrierten. Insbesondere der Prozeß der in den Kriegsendphasenverbrechen des Jahres 1945 eskalierenden kumulativen Radikalisierung von Polizei, Justiz und Parteidienststellen ist systematisch bislang kaum einmal untersucht worden, sieht man von der instruktiven Lokalstudie von Bernd A. Rusinek zu Köln einmal ab. Gerade Schleswig-Holstein jedoch bietet reichhaltiges Anschauungsmaterial über diese Radikalisierungs- und Brutalisierungsphase der letzten Kriegsmonate. Eine exemplarische Studie könnte sowohl Aufschluß geben über die Prozesse des Machtverfalls, die angesichts der bisherigen Fixierung auf die Regie-


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rung Dönitz und die Flüchtlingsfrage völlig unerforscht geblieben sind, als auch über die komplementären Prozesse der Radikalisierung der um ihre Macht besorgten Eliten.

Aus der Perspektive von Auschwitz und der volkspädagogisch motivierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich nach 1945 verblaßte die Tatsache, daß der Nationalsozialismus für die große Mehrheit der Bevölkerung nicht nur Unterdrückung und Terror, Angst und Leiden bedeutete. Unzähligen sei es unter dem Hakenkreuz gar nicht schlecht gegangen, erinnerte Theodor W. Adorno bereits 1959, ohne daß diese Erkenntnis bislang konstitutiv in die NS-Forschung eingegangen ist. Studien zu den propagandistischen und sozialpolitischen Aussöhnungs- und Integrationsstrategien der Nationalsozialisten gegenüber den einst NS-resistenten Populationen fehlen vor allem auf regionaler Ebene fast vollständig, obwohl gerade sie Auskunft geben könnten über Formen und Erfolge der "braunen Revolution". Zu untersuchen wären die regionalen Strukturen und Formen der propagandistischen Selbstdarstellung des NS-Regimes in der "Nordmark", dessen differenziertes sozialpolitisches Integrationsangebot sowie die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen, die sie zu befriedigen vorgaben. Nur mit Terror allein ließ sich die deutsche Gesellschaft nicht regieren. Und auch Propaganda kurzschlüssig auf die Begriffe Verführung und Manipulation zu reduzieren, würde der Komplexheit der Verhältnisse nicht gerecht werden. Zuckerbrot und Peitsche gehörten zusammen, wobei ihr Verhältnis noch einer näheren Bestimmung bedarf.

Wenden wir uns einem anderen zentralen Desiderat der NS-Regionalgeschichtsschreibung zu: dem Bereich Verweigerung und Widerstand. Neben der überfälligen, quellengesättigten und komparativ angelegten Rekonstruktion des Widerstandes der ehemaligen Linksparteien jenseits jedes Heroenkultes - einschließlich der Analyse der z.T. hausgemachten Zerfallsprozesse des proletarischen Milieus - sowie der Untersuchung der Formationsversuche konservativer und kirchlicher Oppositionsgruppen könnte eine erst jetzt einsetzende regionalgeschichtliche Widerstandsforschung allgemeinere Erkenntnisse etwa über das Verweigerungsverhalten von zwei Sondergruppen erbringen, über das wir bislang nur wenig wissen: der Soldaten der deutschen Wehrmacht und der ausländischen Zwangsarbeiter.

Als allgemeines Desiderat der Widerstandsforschung erweist sich noch immer der Widerstand der ausländischen Arbeiter, die bislang vielfach nur in ihrem Status als Objekte der Repression, kaum aber einmal als Subjekte von Verweigerung und Widerstand wahrgenommen wurden. Auch hier bietet Schleswig-Holstein reichhaltiges Anschauungsmaterial über Fluchten, Verweigerungsverhalten und Organisationsversuche ausländischer Zwangsarbeiter. Aber auch hier gilt es, die Dialektik von Verfolgung und Widerstand zu berücksichtigen und zu registrieren, daß sich nicht wenige Zwangsarbeiter in Hitlerdeutschland einrichteten, sich mit ihren neuen Herren arrangierten, sich teilweise auch als V-Leute der Gestapo zur Verfügung stellten und nach dem Kriege in Deutschland heirateten und heimisch wurden.

Ein weiteres Desiderat der bundesdeutschen Widerstands- wie der Exilforschung stellen die vielfältigen, wider-


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sprüchlichen Kommunikationsbeziehungen zwischen innerdeutschem Widerstand und Exil - in unserem Falle Dänemark - dar. In internationaler Kooperation zum Beispiel mit der internordischen Forschungsgruppe "Hitlerflüchtlinge im Norden" sollten und könnten einmal die wechselseitigen, vielfach gestapozersetzenden Beziehungsmuster zwischen "Land" und Exil jenseits spekulativer Annahmen über die "Anleitung" des Widerstandes etwa durch kommunistische Exilorganisationen untersucht werden.

Anders als vielfach angenommen, hörte der Widerstand - zumal der kommunistische - nicht mit den großen Verhaftungsaktionen der Gestapo in den Jahren 1936/37 auf, wie dies selbst Peukert glaubte, sondern formierte sich nach der Überwindung der Sinn- und Organisationskrise zwischen dem Hitler-Stalin-Pakt und der Kriegswende von Stalingrad neu, wobei es zugleich zu neuen Formen und Kooperationen kam. Die DDR-Forschung hat sich im Gegensatz zur bundesdeutschen Widerstandsforschung aus nachvollziehbaren legitimatorischen Gründen schon früh mit diesem Widerstand beschäftigt. Die Geschichte des Widerstandes in Schleswig-Holstein bietet hier die große Chance, sich den Rekonstruktionsversuchen des kommunistischen Widerstandes nach Stalingrad und besonders der letzten Kriegsmonate zu widmen und exemplarisch Aufschluß über die Formen und Inhalte der Zusammenarbeit zwischen deutschen und ausländischen Widerständlern zu liefern, die schließlich in gemeinsamen Aufstandsplänen gegipfelt haben sollen.

Unter regionalgeschichtlichen Aspekten schließlich bleibt erklärungsbedürftig, welche langfristigen politischen wie mentalen Auswirkungen der Rückzug von zentralen NS-Führungsgruppen, staatspolizeilichen und sondergerichtlichen Funktionseliten 1945 nach Schleswig-Holstein auf die politische Kultur des Landes hatte und ob hier nicht vielleicht Ursachen für die regionale Tradition des Verdrängens und Schweigens zu verorten sind.

Sie werden mir beipflichten, daß schon diese wenigen hier skizzierten Forschungsaufgaben einer überfälligen und nachholenden NS-Regionalgeschichtsforschung für Schleswig-Holstein von einzelnen Historikern, Arbeitskreisen oder Institutionen wie dem IZRG oder dem historischen Seminar der Kieler Universität alleine kaum zu leisten sind. Ich möchte Sie daher zu einer gemeinsamen, arbeitsteilig organisierten Kraftanstrengung aller der an der NS-Zeit in Schleswig-Holstein interessierten Personen und Organisationen einladen. Und ich möchte Sie bitten: Geben Sie unserem Institut für Schleswig-Holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte eine Chance und messen Sie uns an unseren Ergebnissen. Denn es gibt noch mehr als genug zu tun.

Vortrag anläßlich der Veranstaltung der Landeszentrale für Politische Bildung Schleswig-Holstein "50 Jahre danach: Zum historisch-politischen Selbstverständnis der Deutschen" am 16. Februar 1995 im Kleinen Saal des Kieler Schlosses.


Veröffentlicht in den Informationen der Schlewig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 27 (Juli 1995) S. 68-75.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 27

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