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Gerhard Hoch

Annekatrein Mendel: Zwangsarbeit im Kinderzimmer. "Ostarbeiterinnen" in deutschen Familien von 1939 bis 1945. Gespräche mit Polinnen und Deutschen

Frankfurt/Main: dipa-Verlag 1994. 265 S.

Die Autorin - sie starb unmittelbar vor Erscheinen dieses Buches - hat uns eine wichtige Dokumentation zur Zeitgeschichte hinterlassen. Von Beruf Psychoanalytikerin, wollte sie wissen, wie in den deutschen Machtbereich verschleppte Mädchen aus Polen und der Ukraine in deutschen Haushalten als Kindermädchen eingesetzt wurden. Sie richtete Fragen an damals Beteiligte und läßt diese wiedergeben, was sie in ihrer Erinnerung aufbewahrt haben. Die Interviews folgen einen bestimmten Schema, und die so entstandenen schriftlichen Berichte oder Tonbandaufzeichnungen werden zunächst ohne Kommentar wiedergegeben. Nur in einzelnen Fällen greift die Autorin ein und vertieft Erinnerung und Aussagen auf überaus einfühlsame Weise (z.B. S. 173 - 186).

Zu Worte kommen zehn ehemalige Zwangsarbeiterinnen aus Polen, der Ukraine und Slowenien, ferner neun Frauen und fünf Männer, damals entweder Kinder der Jahrgänge 1928 bis 1943 oder Mütter der Jahrgänge 1907 bis 1910. Möglich wird so eine Rückschau aus drei verschiedenen Perspektiven: vom Standpunkt der Frauen aus dem Osten, der damaligen deutschen Kinder und der Mütter.

Die Frauen aus dem Osten empfanden sich als "lebende Beute" der Deutschen. Manche wurden im Alter von nur zwölf Jahren verschleppt, andere im Pubertätsalter, und fast immer geschah dies unter brutalen Umständen ("In der Kirche aufgegriffen", "auf der Straße mit meiner Cousine aufgegriffen", "sie und ihre Schwester von der Mutter weggerissen").

Stets erschienen sie nur mit dem bekleidet, was sie auf dem Leibe trugen, einen Beutel mit wenigen Brotresten über der Schulter. Vom Arbeitsamt wurden sie "verhökert", "hin- und hergeschoben", am Einsatzort gefühllos entkleidet, entlaust und gewaschen. Nicht selten beraubte man sie in den Familien ihres Namens und "verpaßte" ihnen willkürlich deutsche Namen. Lohn gab es fast nie, und wenn, dann nur einen lächerlich geringen Betrag. In der Regel war die von ihnen verlangte Arbeit viel zu schwer für ihr Alter, denn zum Umgang mit den Kindern kamen vielerlei Pflichten in Haus, Garten und Feld hinzu.

So stellten sich zu den seelischen Traumata auch gesundheitliche Schäden ein, wie Blutungen oder Ausbleiben der Menstruation, schwere Entwicklungsstörungen. Es gehörte wohl zur Überlebenskunst dieser Mädchen, sich den Bedingungen anzupassen, ihr Schicksal hinzunehmen, da es - verglichen mit dem ihrer Landsleute in den größeren Arbeitslagern - noch erträglich erschien. Es half ihnen, sich mit den Liedern ihrer Heimat zu trösten, Leidensgefährtinnen in der Nachbarschaft aufzusuchen und vor allem: die große Anhänglichkeit zu


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spüren, die die ihnen anvertrauten deutschen Kinder ihnen entgegenbrachten.

Doch das allzu leicht entstehende Bild einer warmen Familienidylle hat seine Kehrseite: diese sanften Wesen entsprachen so recht der ihnen zugedachten Rolle als Haussklavinnen. Das sicherte ihnen - wie übrigens allen Zwangsarbeitern - freundliche Aufnahme und Behandlung. Die "Toleranz" erreichte aber dort ihre Grenze, wo sich bei diesen verschleppten Menschen Stolz zeigte oder wo sie die ihnen aufgezwungene Arbeit nicht willig genug erledigten. Als Beispiel dafür wird einmal auf eine ukrainische Lehrerin hingewiesen, die man wegen ihres Selbstbewußtseins als feindselig empfand.

Zugeteilt wurden diese Mädchen an Haushalte, die sich beim Arbeitsamt darum bemüht hatten. Meistens geschah dies durch die bei der Wehrmacht befindlichen oder dienstverpflichteten Ehemänner, wobei gelegentlich auch "Beziehungen" eine Rolle spielten. Bei den in diesem Buch berücksichtigten Familien, die ausdrücklich nicht repräsentativ sein sollen, handelt es sich ausschließlich um solche in privilegierten, "besseren" Verhältnissen, die nicht immer einer solchen Hilfe bedurft hätten.

Die Hausfrau und "Herrin" erscheint in den Berichten gegenüber den Dienstmädchen überwiegend als ihnen zugetan, freundlich, hilfsbereit bis mütterlich; nur wenigen werden Grobheit oder gar Schläge nachgesagt.

Die tiefsten Einblicke vermitteln die Aussagen der damals von den Mädchen aus dem Osten betreuten Kinder. In ihren Augen erschienen diese fremden Wesen anfangs als typische Vertreter ihrer Völker, gekennzeichnet durch primitive Kleidung, grobes Schuhzeug, gefütterte Jacke, lange Röcke, Kopftuch, aus denen ein rundes Gesicht und lange Zöpfe hervorschauten. Manche Kinder erkannten bald, daß sie nicht in das ihnen in Schule und anderswo eingeredete Bild vom "bolschewistischen Untermenschen" paßten. Ein solches ließ man gelten bezüglich der Russen in den Kriegsgefangenenlagern. Andreas etwa räumt ein: "Um die hat man sich nicht gekümmert. Das ging einen nichts an. [...] Aber Nastasja galt nicht als Untermensch, weil sie im Hause war." Das böse Stereotyp blieb - ähnlich dem des "jüdischen Untermenschen" - in seiner Geltung, wurde aber im Einzelfall als Ausnahme aufgelöst, wenn eine besondere persönliche Nähe oder auch Nützlichkeit vorlag.

Alle Berichte der Kinder stimmen darin überein, daß sie jene Mädchen als geduldig, sanft, liebevoll, warmherzig empfanden. Nach Überwindung der ersten hindernden Kontaktschwierigkeiten entwickelte sich zwischen Kindern und Betreuerinnen ein sehr inniges Vertrauensverhältnis. Für die meisten Kinder war die Erfahrung einer solch starken emotionalen Bindung, solcher Wärme und Zuwendung überaus beglückend, besonders bei denen, die eben dieses bei ihren oft als hart erlebten Müttern entbehrt hatten. Charakteristisch dafür ist die Bemerkung: Nastasja "hat mir gutgetan [...] Sie war eine wichtige Person in meiner Kindheit und eine richtige Mutter."

Frau Mendels Buch ist ein Stück Oral History im besten Sinne, denn sie verfügt über die für diese oft heikle Methode unerläßlichen Kenntnisse der Primärquellen, von denen sie im Anhang eine Auswahl bietet, und kennt den Forschungsstand zur Frage der Zwangsar-


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beit. Entsprechend ist auch ihr - ebenfalls abgedruckter - Fragenkatalog angelegt. So vermag sie in einer den Band abschließenden Gesamtwürdigung den schönen Schein mancher sentimentalen Rückschau über eine so lange Zeit aufzudecken und die harten Tatsachen herauszustellen.

Es ist erstaunlich, wenn aus den Berichten der Kindermädchen kein Gefühl von Haß oder Feindschaft hervortritt, ja wenn sogar der Wunsch geäußert wird, mit der deutschen Familie und den damaligen Kindern wieder in Verbindung zu treten. Umso mehr Gewicht haben dann aber die auf diesem emotionalen Hintergrund oft nur angedeuteten Leiden und Verletzungen.

Auf deutscher Seite liegt über diesem halben Jahrhundert in den meisten Fällen ein Nebel des Vergessens. Kinder klagen: Es wurde nicht darüber gesprochen. Dieses für die Kindheit so überaus intensive Hineinwirken einer ganz fremden, selbst oft noch kindlichen Person wurde übersehen, wobei nicht selten ein nichtverarbeitetes Schuldgefühl mitgewirkt haben dürfte. Oft meldete sich erst im fortgeschrittenen Alter der Wunsch, der eigenen Kindheit und Entwicklung nachzugehen, auch das verschwommene Bild der Mutter und mehr noch des abwesenden Vaters aufzudecken. Dabei kamen endlich auch wieder die Kindermädchen in den Blick und in die Erinnerung zurück.


Veröffentlicht in den Informationen der Schlewig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 27 (Juli 1995) S. 76-78.


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