In meinem ersten Bericht über niederländische Zwangsarbeiter in Kiel und Lübeck [1] habe ich versucht, ein möglichst umfassendes Bild zu geben über diese "Zwangsarbeitergruppe germanischer Rasse", deren Zwangsrekrutierung in den Niederlanden zum Arbeitseinsatz in Deutschland, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen in Kiel und Lübeck, die Rückkehr nach Hause und ihre Situation nach 1945.
Nach Erscheinen dieses Artikels erhielt ich einen längeren Bericht von Petrus van Eekelen sowie einen weiteren von Jan Buiten, der bei der Electroacustic in Kiel arbeiten mußte. Dabei fiel mir auf, daß ich in meinem Bericht verschiedene Aspekte nur gestreift oder gar nicht erwähnt habe.
Hierzu ein Beispiel. Meinen Betrachtungen über die persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen der Niederländer mit den Deutschen liegen ausschließlich die Eindrücke und Beobachtungen zugrunde, die sie während ihres Arbeitseinsatzes hier in Kiel und Lübeck gesammelt haben. Die Niederlande waren aber bereits seit 1940 von den Deutschen besetzt, und somit hatte jeder der jungen Männer mehr oder weniger seine Erfahrungen mit und (Vor-)Urteile gegen die Besatzer, als er den Zug zum Arbeitseinsatz nach Deutschland bestieg.
Bei der Darstellung von Unterbringung und Lebensklima bin ich - außer bei Louis H. Hahn in Lübeck - kaum über einige Stichpunkte hinausgekommen. Aber das Leben bestand ja nicht nur aus arbeiten, essen und schlafen, aus Bombardierungen und Sorgen um Nahrung und Kleidung.
Wenn man in den Wohnlagern auf so engem Raum, teilweise über Jahre zusammenleben mußte - wie hielt man das aus? Gab es überhaupt eine "Privatsphäre"? Oder anders ausgedrückt: gab es so etwas wie eine Gemeinschaft, oder kämpfte jeder für sich selbst? Blieben die einzelnen Nationen unter sich, oder hatte man auch engeren Kontakt zu den anderen? Änderte sich das Verhalten untereinander mit zunehmender Dauer des Krieges und den damit verbundenen Versorgungsnöten?
Und schließlich: suchten die jungen Niederländer nicht auch Kontakt zu Frauen, oder wurde das durch die Alltagssorgen verdrängt? Als Niederländer stand man ja in der rassistischen Rangordnung der Nazis ziemlich weit oben, und die jungen deutschen Männer waren an der Front.
Überhaupt, welche Gefühle und Sehnsüchte erfaßte die über lange Zeit aus allem Geliebten und Gewohnten herausgerissenen jungen Männer? Dies sind einige Aspekte, deren nähere Betrachtung vielleicht nachvollziehbar macht, wie die niederländischen Zwangsarbeiter gelebt haben, um sich in deren damalige Situation hineindenken zu können. Es ist das Anliegen dieses zweiten Teils meiner Darstellung, etwas "in die Tiefe" vorzudringen.
An dieser Stelle möchte ich nicht zu erwähnen versäumen, daß meine teil-
weise bis in die Intimsphäre gehenden Betrachtungen ohne die Offenheit und das Vertrauen der von mir befragten Ex-Zwangsarbeiter unmöglich gewesen wären. Ihre uneingeschränkte Bereitschaft, sich Verdrängtes und Vergessenes wieder ins Bewußtsein zu rufen und auf meine vielen Fragen - trotz hohen Alters und teilweise angeschlagener Gesundheit - bereitwillig und ausführlich Antwort zu geben, verpflichtet mich zu großem Dank.
Man war nicht gut auf eine deutsche Invasion vorbereitet. General Reynders, der Oberbefehlshaber der niederländischen Streitkräfte, glaubte nicht daran, obwohl detaillierte Angaben des deutschen Invasionsplans Operation 'Fall Gelb' am 10. Januar 1940 bei der Notlandung eines deutschen Militärflugzeugs in belgische und niederländische Hände gefallen waren. Doch der Generalstab unterstellte, daß die Notlandung eine deutsche List wäre, um dem belgischen Stab gefälschte Dokumente zuzuspielen. Uneinigkeit herrschte innerhalb der niederländischen Militärführung sowohl über die Militärstrategie im Verteidigungsfall als auch über Prioritäten.
Am 10. Mai 1940 begann um 3.55 Uhr die Invasion der Deutschen. Der Angriff wurde mit einer erdrückenden Übermacht an Menschen und Material durchgeführt. Bereits am 13. Mai reiste Königin Wilhelmina nach England. Auch die Mehrheit der Minister setzte sich mit einem Torpedoboot von Hoek van Holland aus ab. Viele Soldaten warfen daraufhin ihre Gewehre weg. "Warum sollen wir kämpfen, wenn die Regierung die Beine in die Hand nimmt?" Am 15. Mai kapitulierte die niederländische Armee, und das Land war in deutscher Hand.
Die deutsche Invasion hat fast 2.200 niederländische Soldaten und beinahe ebensoviele Bürger das Leben gekostet. 1.200 deutsche Soldaten wurden unmittelbar vor der Kapitulation als Kriegsgefangene ins Ausland gebracht. 385 deutsche Flugzeuge, 38% der gegen die Niederlande eingesetzten Maschinen, waren abgeschossen worden. [2] Die Erfahrung, einer solchen militärischen Übermacht ausgeliefert zu sein, hat auch und gerade die jungen Niederländer geprägt.
Jules C. Vrancken: "Ich war damals 16 Jahre alt [und] fand das sehr schlimm, vor allem, weil es so unerwartet kam!" [3] Nach seiner Zeit als Zwangsarbeiter in Kiel meldete sich Jules Vrancken im Juni '45 als Kriegsfreiwilliger zur niederländischen Kriegsmarine. [4]
Jan Buiten: "Die Besetzung der Niederlande war auch für mich ein sehr schlimmes Ereignis. Kurz vor den Maitagen, am 5. Februar 1940, war mein Vater gestorben, Mutter nicht in Ordnung, also das war nicht einfach.
Als die Deutschen am 10. Mai einfielen, wohnten wir in Enkhuizen. Das ist ein Plätzchen am Ijsselmeer in Nord-Holland. Nach fünf Tagen Spannung kam die Kapitulation, und später kommen die Jungs zurück und deine Neffen vom Grebbeberg. Ein Nachbarsjunge von uns war am Kopf des Abschlußdeiches auf friesischer Seite stationiert. Wir waren alle sehr niedergeschlagen, aber wußten damals doch, daß es zwar lang dauern mag, aber wir doch gewin-
nen werden. Viel Besetzung durch Soldaten ist da in Enkhuizen nicht gewesen." [5]
Petrus van Eekelen erlebte die Bombardierung Roosendaals und die Ohnmacht der niederländischen Armee. Zusammen mit einigen Nachbarn suchte er in den umliegenden Wäldern Schutz vor den Luftangriffen.
"Am nächsten Tag ging ich mit einigen Freunden nachsehen, wo und vor allem wie groß die Verwüstungen waren. Während wir durch die Molenstraat liefen, wo einiges zerstört war, hörten wir in einem bestimmten Augenblick vollkommen unerwartet Motorengeräusch und sahen die ersten Deutschen in Roosendaal einziehen.
Schon bald wurde das Gefühl von Abneigung gegen diese Eindringlinge Herr über einen, die dann auch noch von einigen mit Jauchzen empfangen wurden. Wir begriffen jetzt, daß es mit dem Krieg gegen die Moffen vorbei, und daß wir jetzt besetzt waren.[...].
Natürlich war ich als Rotterdamer brennend daran interessiert, wie Rotterdam nach dieser Bombardierung aussehen würde. In einem bestimmten Moment habe ich Mut gefaßt und bin mit dem Fahrrad (ohne Probleme) in Rotterdam gewesen. Was ich da an Verwüstungen sah, war schrecklich, und ich werde das auch nie mehr vergessen.
Das paßte genau in das Bild von den Deutschen, das sich die meisten von uns später bilden sollten, nämlich eine enorme Abneigung gegen diese Eindringlinge, eine Abneigung, die sich in den kommenden Jahren noch stärker ausbilden sollte." [6]
Nachdem die Besatzung vollzogen war, versuchte man, wie gewohnt weiterzuleben und sich mit den Folgen wie Rationierungen, Verdunkelung, Sperrzeit usw. zu arrangieren.
Petrus van Eekelen gelang es, eine Anstellung beim örtlichen Verteilungsdienst in der Abteilung Bonkartenausgabe zu finden und sich so zunächst dem "Arbeitseinsatz"in Deutschland zu entziehen. "So vergingen die ersten Kriegsjahre bis zu dem Moment, wo ich den Mund etwas voll nahm gegenüber einem N.S.B.er. [7] Ich dachte, daß mein Ausweis ausreichend Sicherheit bieten würde, aber das erwies sich als sehr großer Irrtum. Ein paar Tage nach dem Zwischenfall lag ein Brief im Kasten. Ich mußte mich auf dem Arbeitsamt (das in den Händen der N.S.B. lag) zur Arbeitsvermittlung nach Deutschland melden. In solch einem Moment stürzt deine ganze Welt ein, denn abgesehen von den Gefahren war es auch die Frage, wie lange das dauern sollte. Auch die Vorstellungen, für die Deutschen arbeiten zu müssen, waren nicht gerade verlockende Aussichten.
Aber vorläufig blieb mir nichts anderes übrig, als zum Arbeitsamt zu gehen und die Sache erst einmal anzusehen. Dort wurde mir mitgeteilt, daß ich nach Kiel müßte und mich auf dem Arbeitsamt in der Stadt zu melden hätte. Gleichzeitig wurde mir mitgeteilt, daß ich am Tag der Abreise vor 12 Uhr abends in Bentheim (direkt hinter der Grenze) sein müßte. Sollte das nicht der Fall sein, so würde man bei mir zu Hause entsprechende Maßnahmen ergreifen. Mein Vater mußte dafür als Bürge stehen. Das lief mir ziemlich kalt den Rücken herunter, und ich hatte keine blasse Ahnung, was ich machen sollte.
An diesem Tag sagte ich zu mir: Du hättest vielleicht besser untertauchen können, aber dann? Durfte ich mein Zu-
hause in Gefahr bringen? Mußte ich die Bedrohung ernst nehmen, oder war es Angeberei?
Schließlich habe ich zuletzt den Entschluß gefaßt, zu gehen - in der Hoffnung, daß es nicht allzu lange dauern wird. (Leider wurden es zwei sehr lange Jahre.)" [8]
Jan Buiten wurde nach einem ersten Aufschub im Oktober 1942 zur Zwangsarbeit nach Deutschland verpflichtet. Nach seiner Ankunft in Kiel wurde er zunächst zusammen mit einigen seiner Landsleute vom Bahnhof aus mit dem
[Abb. 1: Jan Buiten und Kollegen vorm Bahnhofshotel Kronshagen]
Bus zu seiner künftigen Arbeitsstelle, der Electroacustic, gebracht, um die "Formalitäten" zu erledigen.
"Dann wieder in den Bus, und wir fuhren zu einem Barackenlager in Hassee, Hamburger Chaussee. Dort wurde dann Papierstroh an uns verteilt, um unsere Matratzen damit zu füllen. Wir bekamen zwei Decken und eine Kammer zugewiesen. In der Baracke gab es weder Heizung, noch Strom. Wir haben unsere warmen Bissen auf Feuerchen unter freiem Himmel fertig gemacht. Sehr primitiv also.[...]
Kurz vor Weihnachten 1942 ereignete sich eine unerwartete Veränderung: wir wurden zum Bahnhofshotel in Kronshagen gebracht. Die Adresse war: Kieler Straße 90, Kronshagen. (Vor drei Jahren bin ich das erste Mal wieder dorthin zurückgekehrt, und es ist bis auf eine kleine Veränderung noch genau dasselbe geblieben). Das war für uns eine enorme Verbesserung. Beheizt, eine
Küche mit zwei Herden, insgesamt acht Gasbrenner, wo wir mit 72 Mann kochen mußten. [9]
In Kiel sind wir erst mit dem Bus vom Bahnhofshotel zur Fabrik gebracht worden. Da stiegen dann auch Deutsche mit ein. Dann ging es zur Fabrik, und um 18.00 Uhr abends stand der Bus wieder bereit, um uns ins Lager zu fahren. Wir machten dann erst unsere Besorgungen in einem Krämerladen, so wie Brot und Marmelade und Nahrungsmittel. Als ich außerhalb der Fabrik arbeitete, mußten wir schon laufen und kamen dann durch den Eschenkamp, am Friedhof Eichhof vorbei, an der Eichhofkaserne entlang, und dann zum Eichkamp, Ecke Alte Weide, wo die Adlergarage war.
Im Lager bildetest du eine Gemeinschaft, und es gab einen Fußballclub,
[Abb. 2: Mannschaft des niederländischen Fußballclubs Die Schwalben]
'Die Schwalben', und der hat viele Wettkämpfe gespielt und gewonnen. Bis hin nach Hamburg-Geesthacht gingen wir spielen.[...]
Es gab eine Gruppe, die Unterhaltungsabende im Lager pflegte, und das lief unter der Leitung der Gebrüder Temme aus Hoorn. [...] Dann gab es noch eine Gruppe Mundharmonikaspieler. Es wurde also von uns selbst schon für Unterhaltung gesorgt." [10]
Über das Leben im Bahnhofshotel Kronshagen und die Gefühle der jungen Niederländer gibt ein selbstgedichtetes Lagerlied deutlich Auskunft. Zum Glück verstand der Lagerführer wohl kein Niederländisch.
Wij zijn de jongens van de Westkust.
Geen van ons allen die de fles niet lust.
Wij blijven optimisten, ook al gooien z'alles plat.
Wij blijven optimisten, maar we zijn t'allang hier zat.
Wij laten ons niet verleiden,
door al die Kieler meiden.
Wij blijven onze kameraden trouw
en hebben lak aan iedere vrouw.
We werken met genoegen bij de Elac,
Lachend gaan w´er heen en hebben aan alles lak.
Wat we klauwen kunnen, is voor ons niet veilig meer.
Laat r'es één wat zeggen, mens dan gaan we grof te keer.
Dikwijls een paar baggerpoten,
De modder reikt je soms tot aan je "KNIEEN".
Weg, jij pessimist, we willen vrolijk zijn,
onze naam is anti-saggerijn.
We eten en we slapen in een lager.
Ondanks de vettigheid werden we mager.
Twintig marken boete voor een fijne sjaffiaan.
Laat Marsje "'t hom maar krijgen", want ik trek m'er niets van aan.
We slapen op een heerlijk schoon laken.
Als je er naar kijkt, dan moet je braken.
Maar mijn beste knul, aan alles komt een end.
Huil maar niet en wees een flinke vent.
We houden veel van dammen en van schaken.
Daarbij hoort men ping-pong-ballen kraken.
"Küche saubermachen" is bij ons ook zeer geliefd.
Vanavond heb ik geen tijd, dus doe het zelf maar, als t'je belieft.
Sokken stoppen, hemden wassen, o wat een tijd.
Maar er komt een end en ook aan deze strijd.
Kijk toch niet zo somber, zet je zorgen aan de kant
en drink een glaasje op ons "NEDERLAND"
Auf deutsch lauten diese Verse in etwa wie folgt:
Wir sind die Jungs von der Westküste.
Keiner unter uns, den die Flasche nicht reizt.
Wir bleiben Optimisten, auch wenn sie alles platt werfen.
Wir bleiben Optimisten, aber wir haben schon lange die Schnauze voll.
Wir lassen uns nicht verführen,
von all diesen Kieler Mädchen.
Wir bleiben unseren Kameraden treu
und pfeifen auf jede Frau.
Wir arbeiten mit Vergnügen bei der Elac,
lachend gehen wir da hin und pfeifen auf alles.
Alles, was wir klauen können, ist vor uns nicht mehr sicher.
Laß' nur einen mal was sagen, Mensch, dann werden wir grob.
Häufig ein paar Schlammtöpfe,
der Modder reicht dir mitunter bis an deine "KNIEE".
Weg, du Pessimist, wir wollen fröhlich sein,
unser Name ist Anti-Griesgram.
Wir essen und wir schlafen in einem Lager.
Trotz der Fettigkeit werden wir mager.
Zwanzig Mark Strafe für eine feine Zigarette.
Laß den Mars "die Milch ruhig haben", denn ich kümmere mich nicht darum.
Wir schlafen auf einem herrlich reinen Laken.
Wenn du da nur hinsiehst, mußt du kotzen.
Aber, mein bester Lümmel, alles hat ein Ende.
Heul' bloß nicht und sei ein anständiger Kerl.
Wir lieben es Dame und Schach zu spielen.
Dabei hört man Ping-Pong-Bälle krachen.
"Küche saubermachen" ist bei uns auch sehr beliebt.
Heute abend habe ich keine Zeit, also mache es mal bitte selber.
Socken stopfen, Hemden waschen, was für eine Zeit.
Aber es gibt ein Ende, auch in diesem Streit.
Schau' doch nicht so finster, leg' deine Sorgen zur Seite
und trink' ein Gläschen auf unsere "NIEDERLANDE".
Es soll im weiteren Verlauf meines Berichts noch auf einzelne Passagen dieses Liedes eingegangen werden.
Als 20jähriger kam Petrus van Eekelen 1943 nach Kiel. Aus seinem Bericht wird sehr deutlich, unter welchen Verhältnissen er im Lager Flintbek leben mußte und mit welchen Ängsten und Sorgen er zu kämpfen hatte. Dabei hat-
ten, zumindest anfangs, die ungewohnte Umgebung und die erzwungenen Arbeits- und Lebensbedingungen natürlich erheblichen Anteil. Aber die Sorgen drehten sich nicht nur um Kleidung und Nahrung, Bombardierungen und Ungeziefer. Oft gingen die Gedanken nach Hause, und die Ungewißheit, wie es dort wohl aussehen möge, fraß in einem. In so mancher Stunde konnte man fast verrückt werden vor Heimweh.
"Im Laufe des Mittags kamen wir in Kiel an. Unser Auftrag war, uns auf dem Arbeitsamt zu melden. Nach vielem Suchen kamen wir auch schließlich dort an. Hier wurden wir eingeschrieben und bekamen zu hören, daß wir auf einer Schiffswerft, nämlich D.W.K. (Deutsche Werke Kiel) arbeiten sollten. Unterkunft würden wir in einem Wohnlager bekommen, was im Klartext hieß: ein Lager mit Holzbaracken. Dieses Lager lag in einem kleinen Dorf, ungefähr 10 km von Kiel, mit Namen Flintbek. Vom Arbeitsamt aus mußten wir wieder zurück zum Bahnhof, denn nach Flintbek fuhrst du mit dem Zug. Am Bahnhof mußten wir zunächst eine Weile warten, aber in einem bestimmten Moment strömte der Bahnhof voll mit "Ausländern", Niederländern, Belgiern und Franzosen.
Zusammen mit ihnen bestiegen wir den Zug, und in Flintbek stiegen ein paar hundert Jungens aus dem Zug. Auch wir stiegen aus und folgten der Meute zum Lager." [11]
"Ich weiß die Adresse des Lagers Flintbek nicht, aber ich werde dir erzählen, wo es ungefähr lag. Wenn wir abends mit dem Zug von Kiel nach Flintbek kamen, mußten wir vom Zug aus über einen Überweg auf die andere Seite der Eisenbahnlinie und danach einen Weg geradeaus folgen, der ordentlich in die Höhe lief, und dann um die Kirche herum, und dann etwas weiter war das Lager. Ich erinnere mich, daß da gerade außerhalb des Lagers ein Café war, dessen Eigentümer Buttenschön genannt wurde. (Ich weiß nicht, ob das sein richtiger Name war.)" [12]
"Man hatte uns auch gesagt, daß wir uns beim Lagerführer melden sollten, der in einer Einzelbaracke untergebracht war. Auch hier wurden wir eingeschrieben und uns Baracke 5, Kammer 3 zugewiesen.
Uns etwas fremd fühlend, gingen wir auf die Suche nach dieser Baracke, und als wir hineinkamen, schauten uns 15 Augenpaare etwas argwöhnisch an. Wir wurden durch den 'Stubenältesten' vorgestellt und bekamen einen Platz angewiesen. Dieser Platz bestand aus einer Holzkrippe und einem Schrank. Ich erhielt das oberste Bett eines Stapelbettes, auch mein Reisegefährte Piet, direkt neben mir (siehe Zeichnung).
So sollten wir zwei Jahre lang nebeneinander schlafen. Die Einteilung der Baracke war in etwa wie folgt: Dort standen neun Stapelbetten für 18 Männer. Jeder hatte einen schmalen Schrank, und ferner standen da zwei Holztische mit jeweils zwei Holzbänken. Dann gab es noch einen Verschlag, worin im Winter die Kohlen aufbewahrt wurden, und zentral in der 'Kammer' stand ein großer Ofen.
Nachdem wir uns einigermaßen ausführlich mit den übrigen Kammerbewohnern bekannt gemacht hatten, zeigte sich, daß die Gesellschaft aus verschiedenen Orten der Niederlande kam. Etwas später entstand doch eine etwas überschwengliche Stimmung, als ich ein neues Paket Tabak auf den Tisch legte. (Ich hatte nämlich ein Kilo belgischen
[Abb. 3: Skizze der Kammer von Petrus van Eekelen im Lager Flintbek]
Tabak bei mir.) Viel zu rauchen bekamst du in dieser Zeit natürlich nicht, und innerhalb kürzester Zeit stand die Kammer blau vor Qualm. Einer der Jungs bemerkte dann, daß es besser schmeckte als eine 'Bahnsteig zwo' Zigarette. Es wurde uns erklärt, daß einige Jungs Kippen suchten und diese hier als Zigarette des zweiten Bahnsteigs bezeichnet wurden.
Danach wurde es Zeit, um zur Kantine zu gehen, wo du mit deinem Eßnapf in der Schlange stehen mußtest, bis der Schalter geöffnet wurde, und dann bekamst du eine Kelle Essen aus einem Kessel. Du gingst dann zurück in die Kammer, und wenn du sehr schnell gegessen hast, so konntest du noch für ei-
ne zweite Portion zurückgehen, wofür du dich dann in eine separate Reihe stellen mußtest. (Meistens war es umsonst, denn es war selten etwas über.) Die erste Mahlzeit, die wir erhielten, bestand aus 'Kohlsuppe', womit geschnittener Weißkohl in Wasser mit hier und da einer Scheibe Wurst bezeichnet wurde. Nachdem wir das eben probiert hatten, schoben wir es weg, denn wir fanden, daß es reines Schweinefutter wäre. (Später sollten wir es schon gerne essen, denn Hunger macht alles lecker.)
Nach dem Essen wurden wir weiter über Dinge in der Baracke informiert. Jeder bekam der Reihe nach Kurierdienst, was beinhaltete, daß du morgens früh zur Kantine gehen mußtest, um 'Kaffee' zu holen. Der Kaffee wurde in einem emaillierten Kohleneimer geholt. Wir besaßen nämlich zwei, einen für Kohlen und einen für Kaffee.
Nachdem wir unseren Schrank eingeräumt hatten, mußten wir noch das Bett machen. Das bestand aus einer Matratze und einer Decke. Die Matratze war ein blau-weiß gestreifter Überzug, den du mit Papierstreifen füllen mußtest, und da haben wir zwei Jahre lang drauf geschlafen. In einem bestimmten Moment ging das Licht aus, und es war vorbei mit dem Spaß. Einige Jungs hatten Karbidlampen, womit man etwas Licht hatte. Später haben Piet und ich auch die Gelegenheit gehabt, um an eine solche Lampe zu kommen. Aber jetzt lagst du zum ersten Mal in deiner letztendlichen Bestimmung, rauchtest noch eine Zigarette und hast deinen Gedanken freien Lauf gelassen. Hunderte von Kilometern von zu Hause weg, in einem Stapelbett auf einer Papiermatratze liegend, auch noch schlechtes Essen, und was soll da noch alles kommen. Es waren nicht die allerbesten Gedanken, und die erste Nacht in diesem Wohnlager war wohl eine der schwersten." [13]
Einige Wochen später: "Im Lager begannen wir uns ein wenig an die Gegebenheiten und auch an das mitunter geschmacklose Essen zu gewöhnen. Da wir 1943 noch freie Wochenenden hatten (das sollte sich später drastisch ändern), gingen wir zusammen mit einigen Jungs Kiel entdecken, und es zeigte sich, daß es doch eine schöne Stadt mit einigen sehr schönen Parks war.
Am Anfang war der Samstagabend eine Art Festabend. Bei der Essenausgabe erhieltest du eine Art Brotbrei, der ausgezeichnet schmeckte. Außerdem bekamst du dann ein Brot, eine Art Kunsthonig, ein Stückchen Butter und etwas Wurst. Piet und ich beschlossen auf alle Fälle einmal in der Woche gut zu essen, und für den größten Teil der Woche hatten wir dann auch kein Brot mehr, aber daran gewöhnst du dich. 1944 war das jedoch vorbei, und das Essen wurde stets schlechter. [...]
Alles war so allmählich zur Routine geworden, obwohl sich die Situation mit dem Nahen des Winters schon verschlechterte. So eine Holzbaracke ist nicht gerade ideal zum Heizen, und natürlich waren die Kohlen rationiert. Es kam dann auch wiederholt vor, daß wir an strengen Winterabenden alle so gut es ging um den Ofen herumsaßen." [14]
Es gab erhebliche Einbrüche in der Produktion der Kieler Betriebe durch die starken Bombardierungen, auch bei den D.W.K. Deshalb versetzte man die Zwangsarbeiter teilweise in andere Bereiche. Petrus van Eekelen kam für zwei Wochen nach Hamburg zur Deutschen Werft.
"Bei meiner Rückkehr nach Flintbek zeigte sich, daß die gesamte Baracke mit unerwünschten Besuchern (Läuse) voll saß. Es hatte keinen Sinn, zu versuchen, die Bestien auszurotten. Es wurde alles versucht, wie z.B. alle Haare zu entfernen und abends zu probieren, sich selber zu entlausen. Hinterher klingt es unglaublich, daß du mit einer Anzahl junger Männer abends gesessen hast, um Läuse zu fangen. Es begann langsam aber sicher eine Plage zu werden, zumal keine Lösung geboten wurde. Beschwerden beim Lagerführer einzureichen, zeigte auch keine Wirkung.
So quälte man sich eine Weile durch, ohne daß sich etwas änderte. Schließlich wurde das dauernde Gejammer dem Lagerführer zuviel, und es wurden ein paar Maßnahmen getroffen. Die Maßnahmen bestanden zum ersten in einer "Entlausung" in Kiel, wo sämtliche Kleidung chemisch gereinigt wurde und wir selbst uns einer Lysolbehandlung unterziehen mußten. Die Baracken wurden natürlich auch in Behandlung genommen, und wir mußten vorläufig in ein anderes Lager in Raisdorf. Im Nachhinein schien dies alles nicht zu helfen, denn durch Mangel an Hygiene begann das Elend von vorn.
Alles in allem ging so auch 1944 seinem Ende entgegen, und wieder hatten wir Weihnachten, Sylvester und Neujahr. An solchen Tagen sank dir der Mut so allmählich in die Schuhe. Über den Kriegsausgang hatten die meisten unter uns nicht den geringsten Zweifel, aber es fing doch an, uns etwas sehr lange zu dauern.
Es kam noch eine Schwierigkeit dazu: wir wußten aus den Zeitungsberichten, daß die Süd-Niederlande befreit waren. Somit erhielten wir keine Nachrichten mehr von zu Hause, so daß du dich wohl hundert Male am Tag fragtest, wie das wohl da in Roosendaal abgelaufen war und wie es wohl der Familie ging, und das war wirklich eine ungewisse Marter." [15]
Karel Volder, selbst ehemaliger Zwangsarbeiter, hat drei Jahre lang mit etwa 100 niederländischen Ex-Zwangsarbeitern korrespondiert und seine Ergebnisse 1990 veröffentlicht. Bei der Vielzahl der Berichte wird deutlich, wie wichtig das Zusammengehörigkeitsgefühl gerade in den engen Unterkünften war. Wo diese Gemeinschaft fehlte, wirkten sich die teilweise miserablen Verhältnisse doppelt aus.
Ein ehemaliger Zwangsarbeiter berichtet aus einem Gemeinschaftslager der "Deutschen Arbeitsfront" D.A.F. in Johannisthal: "Aber Apathie und Gleichgültigkeit wurden stets größer, und mit einem Volk von allerhand Typen war es hier nach einigen Monaten auch ein fauler Haufen. Unvorstellbar. Als normal denkender Mensch ist dies fast nicht auszuhalten, lange und hart arbeiten, immer schlechtere Nahrung, fast täglich Fliegeralarm, wenig Schlaf und dann noch all der Schmutz. Hinterher habe ich mich oft gefragt, wie es möglich ist, daß ein Körper dies alles aushalten kann." [16]
Schlimm wurde es, wenn sich dann noch Sadismus und Gewalt untereinander breit machten. Ein Extrembeispiel: "Muß ich noch erzählen, daß in einer Nacht während ich schlief jemand auf meinem Kopfkissen stand und pinkelte,
also auch in meine Augen und Ohren!? Und daß an einem Abend ein Kees einem Sjaak mit einem Messer in den Rücken stach? Daß dann das Fenster aufging und Kees aus fünf Meter Höhe in den Schnee geschmissen wurde? Kees überlebte das glücklicherweise, und Sjaak auch. Solche Dinge geschahen wirklich. Und ein Hendrik, der war in ein offenes Eisloch eines Sees gelaufen. 'Selbstmord', sagte man". [17] Doch dieser Bericht bildet auch unter den vielen von Karel Volder gesammelten Erlebnissen eine Ausnahme.
Im Lager Flintbek und im Bahnhofshotel Kronshagen hat sich wohl zum Glück eine gewisse Gemeinschaft herausgebildet. J. Buiten über das Verhältnis im Bahnhofshotel: "Das Verhältnis untereinander war als gut zu bezeichnen. Es hat schon einmal eine Schererei gegeben, aber das wurde untereinander auch wieder zurechtgerückt, keine Erbsenzähler." [18]
Doch Gruppenbildung untereinander war wohl ziemlich verbreitet. Dabei spielten sowohl die soziale Herkunft, als auch der Wohnort in den Niederlanden (Stadt oder Land) eine zentrale Rolle. Karel Volder stellt fest:
"Entweder, du gehörtest zu einer Gruppe, oder nicht. Die Herkunft spielte dabei eine große Rolle. Und das wurde dadurch verstärkt, daß die reichen Jungs mehr Pakete erhielten. Na gut, einige, denn in der Stadt war nichts mehr zu kriegen. Und so blieben die Jungs vom Lande als 'bevorzugte Gruppe' übrig. So wie die Groninger, um eine Gruppe zu nennen, und ohne andere Gruppen von Vorrechten auszuschließen." [19]
Es ist verständlich, daß Argwohn gegenüber niederländischen Nazis angebracht war, auch wenn diese versuchten, sich in die niederländische Gemeinschaft einzufügen. Doch die Auswirkungen unterschiedlicher sozialer Stellung im Betrieb spürte zeitweise Jules C. Vrancken, der bei der Firma Land- und See Leichtbau in Hassee arbeitete.
"Bei L. u. S. Leichtbau waren hauptsächlich Niederländer sowie einzelne Russen. Viel Kontakt war da nicht. Die Russen hatten es schon erheblich schlechter als wir. [...] Das Verhalten der Niederländer untereinander war im allgemeinen gut. Da waren jedoch auch einige N.S.B.er und/oder S.S.er dazwischen, denen in unseren Augen also nicht zu trauen war. [...]
Am Anfang war da schon die Rede von Argwohn von Jungens aus der Fabrik gegenüber denen, die im Büro oder dem Zeichensaal arbeiteten. Die Zusammengehörigkeit wurde schon größer in dem Maße, in dem der Krieg andauerte." [20]
Feste fanden im Lager Flintbek zwar nicht zu Weihnachten oder am Nikolaustag statt, der in den Niederlanden eine größere Rolle als bei uns spielt, aber immer dann, wenn ein Paket aus den Niederlanden eintraf. Denn hier war es üblich, deren Inhalt untereinander zu teilen. Doch das Zusammenleben war oft nicht einfach, und man mußte sich häufig zusammenraufen.
Petrus van Eekelen: "Das war der Beginn des Dezembermonats, der Monat der Festtage. Aber Feiern gab es im Lager Flintbek nicht. St. Nikolaus ging so vorüber, und zu Weihnachten sind wir zwar mit einigen Jungs zur Nachtmesse gegangen, aber das war's dann auch. Abends im Bett, als es still war, gingen deine Gedanken nach Hause. Wir bekamen schon ab und zu Post von zu Hause, und auf die Art wußten wir so
[Abb.4: Post-Kontrollkarte für Jan Buiten]
ungefähr, wie es in den Niederlanden stand. [...] Nach Holland schreiben ging zwar auch, aber alles wurde zensiert, also blieb es sehr oberflächlich. Du brauchtest nicht zu versuchen, über eine Bombardierung zu schreiben, denn du bekamst deinen Brief bzw. Karte unmittelbar darauf zurück." [21]
Bemerkenswert ist, daß sich die einzelnen Stuben im Lager Flintbek voneinander abkapselten. Petrus van Eekelen über das Verhältnis untereinander: "Schwierig. Mit 18 Mann auf einem Zimmer. Zwei Jahre lang mit denselben Menschen. Die kamen aus verschiedenen Orten von Holland. Die kamen von Südholland, die kamen von Nordholland, Groningen, die kamen von Westen, Gouda, Rotterdam, Den Haag. Also alles verschiedene Jungs, 20, 21 Jahre alt, und die hatten verschiedene Hintergründe. Und zeitweise gab es doch Schwierigkeiten miteinander. Aber wir haben nur gelebt - das ist schwierig zu verstehen, glaube ich - nur mit diesen 18 Leuten. Die anderen 400 und noch was haben uns gar nicht interessiert. Wir waren immer mit Leuten vom selben Zimmer zusammen, niemals mit den anderen. Ich weiß gar nicht, wie die waren, weiß keine Namen. [...] Es gab drei Zimmer in einer Baracke, die habe ich nicht gekannt. Niemals in Zimmer 2 gewesen, niemals in Zimmer 1 gewesen, und die Leute von Zimmer 1 sind auch niemals bei uns gewesen. Bei den anderen war genau dasselbe. [...]
Wenn da Pakete aus Holland kamen - zeitweise kamen die, zeitweise kamen die nicht, die wurden auch geklaut - aber wenn ein Paket kam, wurde immer mit 18 Mann geteilt. Zigaretten oder was anderes, das war ein Fest, ja, das war ein ganz großes Fest, wenn ein Paket ankam." [22]
"Ich habe in der Tat geschrieben, daß das Lebensklima nicht 100%ig war, weil die Jungs unterschiedliche Hintergründe hatten, und auch weil da ziemliche Altersunterschiede waren. Als ich nach Flintbek kam (Juni 1943, ich war 20 Jahre alt), waren auf unserer Kammer verschiedene Männer, die da schon länger als ein Jahr waren (freiwillig?). Es war sogar von Jungs die Rede, die schon auf Urlaub in Holland gewesen waren, wobei jemand von der Kammer als sogenannter 'Bürge' stand. Wenn der Urlauber nicht zurückkehrte, so erhielt der Bürge keinen Urlaub. Bei mir und den beiden anderen, die mit mir nach Flintbek kamen, ist niemals die Rede von Urlaub gewesen.
Außerdem konntest du aus allerlei Gesprächen merken, daß es manchmal Unterschiede in den Auffassungen über die Deutschen gab; nicht jeder dachte da dasselbe drüber. So entstanden da von Zeit zu Zeit Irritationen, aber dabei mußt du schon bedenken, daß du mit denselben Menschen für unbestimmte Zeit unter unnormalen Verhältnissen zusammenleben mußtest, und zum Glück begriffen die meisten das auch schon. Privatsphäre gab es da nicht, und es war unvernünftig zu versuchen, das zu realisieren, denn dann wurdest du ein 'Einzelgänger' mit allen Folgen daraus." [23]
Als Einzelgänger hatte man einen schweren Stand. Man mußte aus sich selbst die psychische und physische Kraft zum Überleben unter diesen Verhältnissen nehmen - und dazu das ständige Bewußtsein aushalten, aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu sein.
Einer, der diese Erfahrung machte, berichtete später: "Jeder lebte für sich,
hatte genug mit seinen eigenen Problemen zu tun, also vom Auffangen von Losgenossen, wenn sie in Schwierigkeiten steckten, war kaum die Rede. Was meine Person angeht, so weiß ich noch sehr gut, daß ich mich häufig einsam und verlassen fühlte. Ich ging still und zurückgezogen meinen eigenen Weg. In den Tagen, in denen ich noch ungenügend Möglichkeiten fand, etwas Besserung für das Problem 'leerer Magen' zu finden, gab es andere, die das gut zu lösen verstanden hatten. Sie überließen dich dummdreist deinem Los. Daraus erwuchs in mir eine große Enttäuschung. Als ich es verstand, meine eigene Situation zu verbessern, fühlte ich mich meinerseits nicht mehr dazu berufen, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, als ihre Möglichkeiten etwas versiegten. Lediglich einem Stubenkameraden half ich ein wenig." [24]
Auf das Verhältnis zwischen Deutschen und Niederländern bin ich bereits in meinem ersten Bericht eingegangen und habe dabei zu zeigen versucht, daß es positive und negative Erfahrungen gibt und die unterschiedliche Mentalität eine große Rolle spielte. Hier möchte ich dem noch ein paar andere Aspekte und Einschätzungen hinzufügen.
Die Erfahrung, daß man als "Ausländer germanischer Rasse" bei weitem nicht die gleichen Rechte hatte wie die Deutschen, machte Petrus van Eekelen schon auf seiner Reise in Richtung Kiel.
"Wir sollten über Osnabrück, Bremen und Hamburg nach Kiel reisen. Im Zug fanden wir noch ein leeres Abteil, so daß wir noch sitzen konnten. In Osnabrück stiegen jedoch eine Anzahl Menschen zu, auch in unser Abteil, u.a. zwei S.S.-Offiziere. Mit einem geschnauzten 'Aufstehen!' war es vorbei mit dem Sitzen, und wieder wurde uns deutlich, daß alleine Deutsche zählten. Junge Jungs in Zivilkleidung konnten nur Ausländer sein. Glücklicherweise gab es einen Waggon mit einem Gang, so daß wir da noch ein wenig sitzen konnten." [25]
Das "Sitzvorrecht" für Deutsche blieb auch in Kiel bestehen... "Das Aufstehen geschah wie folgt. Jede Baracke wurde morgens benachrichtigt. Der Kurier ging dann zur Kantine, um einen Eimer Kaffee zu holen. Danach ging es schnell zum Waschverschlag und dann 'frühstücken', zumindest wenn du noch etwas hattest, und dann ging es zum Bahnhof. Mit dem Zug ging es dann nach Kiel. Meistens mußtest du im Zug stehen, denn Sitzen war für die Deutschen. Du kamst dann am 'Hauptbahnhof' an. Danach mußtest du zu einem Anlegesteg laufen, wo eine Anzahl Boote klar lagen, um dich zur Werft zu bringen." [26]
Interessant ist, daß die Kriegslage entscheidenden Einfluß auf das Verhalten der Deutschen gegenüber den Zwangsarbeitern hatte. Karel Volder stellt fest: "Die Stimmung und das Benehmen der Deutschen hing sehr stark von der Situation an den Fronten ab. Übermütig und hart, wenn es gut lief mit dem Krieg, freundlich bis kleinlaut, wenn es schlecht ging." [27]
Diese Einschätzung teilt auch Jules C. Vrancken: "Am Anfang (Mitte 1943) ließen die Deutschen es uns sehr deutlich spüren, wer die Herren waren und
[Abb. 5: Der Bahnhofskai in Kiel - Abfahrts- und Ankunftsort der Zwangsarbeiter]
wer die Knechte. Wohl möchte ich einen Unterschied machen zwischen drei Gruppen, nämlich
- Nazis (SA, NSDAP, Gestapo etc.)
- sehr große Gruppe 'Mitläufer'
- Gegner des Regimes
Die Verhältnisse wurden mit dem Verstreichen des Krieges schon lockerer." [28]
Die zunehmenden Bombardierungen auf Kiel wirkten sich natürlich auch aus. Petrus van Eekelen: "An allem begannst du zu merken, daß die Deutschen stets ängstlicher wurden. Das war am meisten in den Bunkern und Schutzkellern zu merken. Die großen Bunker waren in einzelne Abteilungen unterteilt, worin Lautsprecher hingen, die genau wissen ließen, wo die Bombenwerfer signalisiert wurden. Sobald durch die Lautsprecher der Bericht kam: 'Achtung, Achtung! Feindliche Flugzeugverbände sind auf Kiel angeflogen', so wußten sie nicht mehr, was sie machen sollten. Natürlich hatten auch wir Angst, aber wir hatten in solchen Momenten nur an uns zu denken, wohingegen die Deutschen natürlich an ihre Häuser und Familien dachten." [29]
Das Verhalten der Deutschen hing also sehr davon ab, ob sie noch an den "Endsieg" glaubten oder nicht. Fanatische Nazis konnten das wohl bis zum Ende, wohingegen Deutsche, die nicht voll auf Seiten der Nazis standen, oft ein recht gutes Verhältnis zu den Niederländern hatten, auch unabhängig vom Frontverlauf. Bei der großen Zahl der Mitläufer hing das Verhalten auch sehr von den jeweiligen Umständen ab, ob sich die Zwangsarbeiter an die gegebenen Verhältnisse anpaßten und einfügten, ob sie Deutschkenntnisse besaßen, ob Vorgesetzte zugegen waren etc. Diese Differenzierung findet ihre Bestätigung in allen Berichten, die ich erhalten habe.
Zunächst Petrus van Eekelen: "Bei den D.W.K. gab es deutliche Unter-
schiede. Die Deutschen, die da arbeiteten, waren viel älter als wir, und verschiedene von ihnen verlangten, genauso wie wir, nach dem Ende des Krieges. Leider dachten die meisten anders darüber und glaubten noch immer an den 'Endsieg'. Da wir auf einer Schiffswerft arbeiteten, liefen da auch viele junge Männer der Kriegsmarine herum, und die waren sehr fanatisch. [...]
Auf deine Frage, wie die Deutschen es uns wissen ließen, daß sie eine andere Meinung als die 'Nazis' hatten, kann ich ein Beispiel geben. Unser Kolonnenführer (ein älterer Mann) war sehr kulant und nahm sich auch schon einmal die Zeit, um mit dir auf eine freundschaftliche Art über Holland zu reden, und so gab es schon noch einige, aber die meisten waren doch ziemlich fanatisch. Vor allem die Kriegsmarinemenschen und sicher die U-Boot-Besatzungen waren (auch zum Ende hin) noch stets sehr scharf in ihrem Benehmen." [30]
Jan Buiten bei der Elac: "Das Verhältnis zu den deutschen Arbeitnehmern aus der Abteilung, wo ich später beschäftigt war, war nicht schlecht. Jemand von der Kontrolle dieser Abteilung gab mir mittags schon einmal einen Zuschlag-Bon, so daß ich mir noch eine Portion holen konnte. Es gab schon ein paar fanatische Menschen, aber wir wurden von einer holländisch sprechenden Frau gewarnt, nicht über Politik zu sprechen, das war nicht so gut. Wir arbeiteten damals mit zwei Holländern in der Abteilung FW 7 (Feinmechanische Werkstatt) in Gebäude 7. Heute ist darin die Universität untergebracht." [31]
"Ich habe wenig vom Verhalten der deutschen Bevölkerung gemerkt. Wir gingen schon in Kiel zur Kirche und sind dort von den Menschen immer sehr herzlich behandelt und sogar auf Besuch nach Hause eingeladen worden. Es war, glaube ich, von der Baptistenkirche. [...] Es gab Deutsche, die uns als Ausländer ansahen, aber es gab auch genügend, die uns ganz normal behandelten, vor allem, wenn du die Sprache ein wenig beherrscht hast. Die, die nicht mit uns sprachen, mit denen redeten wir auch nicht, denn das hatte auch gar keinen Sinn." [32]
Hans Kiel war ein Arbeitskollege von Jules C. Vrancken bei Land- und See Leichtbau. Er war wegen eines "Scherzes" mehrere Monate im "Arbeitserziehungslager Nordmark" interniert worden. [33] Jules C. Vrancken über ihn: "[Das] Verhältnis zu ihm war sehr gut, war meines Erachtens kein Nazi. Von seinen politischen Auffassungen weiß ich nichts. Auch mit meinem Chef Alfred Gruppe kam ich sehr gut aus. Ohne es beweisen zu können, weiß ich fast sicher, daß er mich häufig 'gedeckt' hat." [34]
Das war so eine Sache, mit den Frauen. Natürlich war es offiziell nicht erlaubt, daß deutsche Frauen Kontakt zu Ausländern hatten. Aus Arbeitskräftemangel mußten ja aber auch Frauen in den Betrieben arbeiten, da ließen sich Begegnungen schwerlich vermeiden. Im "Lagerlied vom Bahnhofshotel Kronshagen" heißt es nicht umsonst:
Wir lassen uns nicht verführen,
von all diesen Kieler Mädchen.
Wir bleiben unseren Kameraden treu
und pfeifen auf jede Frau.
J. Buiten berichtet über seine Erlebnisse mit russischen Zwangsarbeiterinnen: "Die Abteilung, bei der ich arbeitete, war bei der Adlergarage untergebracht. Die war dicht an der Eichhofkaserne. [...] Es war eine Abteilung, wo Echolote für U-Boote gebaut wurden. Die Meerestiefe konnte man damit bestimmen. Die Abteilung ist ausgebombt worden, und nachdem wir die Geräte in der Werkstatt wieder brauchbar gemacht hatten, wurde die gesamte Abteilung nach Tönning überstellt. Wir mußten auch mit, ebenso eine Anzahl russischer Mädchen. [...]
Was das Verführen von Kieler Mädchen angeht, da habe ich wenig von gemerkt. Später, in Tönning, verkehrten wir viel mit den Russinnen, und das kam von alleine. Du mußtest zusammen lange Tage durchstehen, und sie waren erst im selben Schuppen wie wir, aber später wurden wir privat untergebracht. Sie wuschen und reparierten meine Kleider, und wenn ich etwas Fisch oder Brot ergattern konnte, dann ging das da hin." [35]
"In Tönning ist einmal ein russisches Mädchen für einen Monat in ein Straflager geschickt worden, nachdem sie von dem tschechischen Vorarbeiter Kitzler gemeldet worden war, aber sie war nicht klein zu kriegen. Dann ist in Kiel einmal eine Explosion gewesen, die eines von den russischen Mädchen das Leben gekostet hat, Wera Boikova aus Leningrad. Zwei Mädchen wurden verletzt, sind aber wieder gesund geworden." [36]
Propaganda und Erziehung ließen die deutschen Frauen wohl auch sehr zurückhaltend gegenüber den Ausländern sein. Petrus van Eekelen: "Im allgemeinen fand ich, daß die deutschen Mädchen uns gegenüber ziemlich feindlich waren. Das einzige, daß ich weiß ist, daß in Flintbek ein Niederländer ein 'Verhältnis' mit der Tochter des Lagerführers hatte." [37]
Wenn aus einem Verhältnis etwas Festeres wurde, dann hatte man - auch als niederländischer Zwangsarbeiter - ernste Probleme. Wie groß diese werden konnten, berichtet ein Niederländer, der in einem Salzbergwerk in Eisleben arbeitete: "In der Umkleidekammer hat sich ein holländischer Junge aufgehängt. Er hatte, wie man behauptete, ein Verhältnis mit einer deutschen verheirateten Frau und ist durch Drohungen derartig in die Enge getrieben worden, daß er keinen Ausweg mehr sah." [38]
In Jan Buitens Bericht wird angedeutet, daß viele Verhältnisse auch deshalb eingegangen wurden, um "hausfrauliche Arbeiten" erledigen zu lassen, wofür die Frauen als Gegenleistung Lebensmittel o.ä. erhielten. Das ist wohl, vor allem bei den Russinnen, Teil ihres Überlebenskampfes gewesen.
Auch Jules C. Vrancken erlebte diese "Nutzverhältnisse". "Einzelne von uns hatten schon Kontakt. Manche sogar bis hin zum Zusammenwohnen und/oder auch heiraten. Aber meistens hörte die Verbindung auf, wenn keine Lebensmittel mehr gegeben wurden oder die Wäsche nicht mehr gewaschen wurde." [39]
Der Kriegsverlauf spielte bei den Zwangsarbeitern eine wichtige Rolle. Die meisten niederländischen Zwangsarbeiter waren von einem letztendlichen Sieg der Alliierten über Deutschland überzeugt, nur wann es endlich so weit
war, bereitete ihnen Kopfzerbrechen, denn die Niederlage Deutschlands würde ihnen die Freiheit bringen. Die propagandagefärbten Zeitungen und Radionachrichten in Deutschland ließen höchstens ahnen, wie der tatsächliche Frontenverlauf war. Also suchte man nach Gelegenheiten, um den englischen oder sowjetischen Sender zu hören. Oder noch besser Radio Oranje, den Sender der niederländischen Exilregierung, der von London ausgestrahlt wurde.
Jules C. Vrancken hatte das Glück die meiste Zeit privat unterzukommen. [40] Hier fand er öfters Gelegenheit, um Radio Oranje zu hören. "[Das] Abhören von Radio Oranje [fand] vor allem bei Privatpersonen unter dem Vorwand [statt], daß es eine Ausstrahlung aus den Niederlanden wäre, oder wenn die Wirtin nicht zu Hause war. Für Deutsche war BBC nicht gut zu erkennen." [41]
Erstaunlicherweise besuchte er später einen regelrechten Englisch-Kursus im Keller der heutigen Fachhochschule in der Wilhelminenstraße. Ob dieser Kursus wirklich auf die Niederlage vorbereiten sollte, wie J. Vrancken vermutet, vermag ich nicht zu beurteilen. Erstaunlich finde ich, daß er als ausländischer Zwangsarbeiter dazu Zugang hatte.
"[Ich] weiß nicht mehr, ob dieses nun schon/oder nicht erlaubt war. Es lief jedenfalls auf regelrechte Englisch-Lektionen hinaus und fand statt in einem Schulgebäude einmal pro Woche, dauerte ca. drei Monate unter der Maske von besseren Kommunikationsmöglichkeiten bei einer Niederlage der Deutschen???" [42]
Die folgenden Ereignisse, die sich in Kiel gegen Ende des Krieges abgespielt haben, zeigen, wie gefährlich es gewesen ist, "Feindsender" zu hören.
Der 24jährige Cornelius Dorsmann war im Juli 1943 nach Deutschland gekommen und arbeitete bei der Firma Anschütz in Kiel-Neumühlen. Sein Bruder Gysbertus arbeitete in Hamburg, und Cornelius schrieb am 7. Dezember 1944 einen Brief an ihn, worin er einen Bericht von Radio Oranje wiedergab und u.a. erwähnte, daß er gelegentlich Tabak von einem Friseur kaufe. Der Brief wurde abgefangen und Cornelius Dorsmann am 18. Januar 1945 von der Gestapo verhaftet. In der Vernehmung gab Dorsmann an, er habe die Nachricht des Senders Oranje von seinem Landsmann Jan Seriese gehört und den Tabak von Rainer Bruinewoud erhalten.
Bereits am nächsten Tag wurden die anderen beiden Niederländer verhaftet. Rainer Bruinewoud, geb. 1922, war seit Juni 1943 als Friseur in Kiel-Gaarden in der Kaiserstraße beschäftigt. Er gab zu Protokoll, den Tabak von dem Deutschen Hans B. gekauft zu haben. Der 20jährige Jan Seriese war ebenfalls seit 1943 zur Arbeit bei Anschütz eingesetzt worden und sagte aus, er habe die Nachricht des Radio Oranje von seinem deutschen Arbeitskollegen Johannes H. erzählt bekommen.
Einen Monat später wurden die beiden Deutschen vernommen, wobei Johannes H., der von 1926 bis 1940 in den Niederlanden als Bergmann gearbeitet hatte und als Sozialdemokrat bekannt war, vehement bestritt, jemals "Feindsender" gehört oder gar Nachrichten an Seriese weitergegeben zu haben. Am 12. März 1945 fand die letzte Gegenüberstellung von Jan Seriese und Johannes H. statt, ohne daß einer der beiden seine Aussage widerrief. Am 13. März ersuchte die Gestapo das Kieler Amtsgericht um Erlaß eines Haftbe-
[Abb. 6: Todesmeldung der Gestapo Kiel]
fehls für Cornelius Dorsmann, Rainer Bruinewoud, Jan Seriese und Hans B. Der Hauptbeschuldigte, Johannes H., lag als Patient in der Kieler Nervenklinik und war somit nicht haftfähig.
Doch zu einem Haftbefehl gegen die Niederländer kam es nicht mehr. Lediglich gegen Hans B. wurde am 26. April Haftbefehl erlassen. In der "Haftsache Dorsmann, Seriese, Bruinewoud und Andere" teilte die Gestapo dem Amtsgericht mit Schreiben vom 31. März 1945 mit: "Die Besch. Dorsmann, Seriese und Bruinewoud, sind während der Schutzhaft im Arbeitserziehungslager "Nordmark" verstorben. Der Dorsmann wurde bei einem Fluchtversuch erschossen und die übrigen sind an Darmerkrankungen gestorben." Hans B. wurde am 4. Mai 1945, als die ersten Engländer bereits in Kiel waren, aus der Untersuchungshaft entlassen. [43]
Die Grabplatten der drei Niederländer auf dem Friedhof Eichhof tragen die folgenden Todesdaten:
Cornelius Dorsmann: 19.03.1945
Jan Seriese: 21.03.1945
Rainer Bruinewoud: 22.03.1945
Im "Lagerlied vom Bahnhofshotel Kronshagen" findet sich die Zeile
Zwanzig Mark Buße für eine feine Zigarette
Was es damit auf sich hatte, erklärt Jan Buiten: "Im Lager, wo wir in Kronshagen waren, schliefen wir mit 72 Männern in einem großen Schlafsaal, der
sich links vom Eingang befand. [...] Im Schlafsaal durfte absolut nicht geraucht werden (Brandgefahr), und es wurde vom Lagerführer streng darauf geachtet, daß das nicht geschah. Wurdest du erwischt, dann mußtest du 20,-- RM bezahlen. Das ist in der Zeile des Lagerliedes gemeint mit 20,-- Mark Buße für eine feine 'sjaffjaan' (Zigarette).
Ein Rotterdamer, der ertappt wurde, sagte: 'Bitte, 40,-- Mark, dann ist es gleich mit für das nächste Mal.'" [44]
Protest gegen scheinbar Unveränderliches hatten J. Buiten und seine niederländischen Kollegen schon gleich zu Anfang ihrer Zeit in Deutschland ausprobiert, als sie nicht, wie geplant, zusammen mit den anderen in Neumünster, sondern in Kiel landeten. "Am 8. Oktober 1942 fuhren wir von Enkhuizen aus mit dem Zug ab, um über Alkmaar, Amsterdam, Amersfoort, Hengelo zum Grenzübergang Oldenzaal/Bentheim zu reisen. Die Grenzpolizei versah unsere Pässe mit einem Stempel, und wir bekamen ein Päckchen Brote verabreicht. Danach ging es wieder in den Zug. Unser Bestimmungsort war Neumünster in Schleswig-Holstein, um bei der Land- und See Leichtbau arbeiten zu müssen. Ich glaube, das war eine Fabrik für Flugzeugunterteile.
Unsere Reise ging über Osnabrück und Hannover nach Hamburg-Altona. Dann ging es in den Zug in Richtung Kiel, um in Neumünster auszusteigen, aber diese Rechnung ging nicht auf. Der Zugwaggon wurde abgeschlossen, und so mußten wir also mit nach Kiel. Angekommen, mußten wir aussteigen, aber das wollten wir nicht, denn wir sollten doch hier nicht hin. Zusammen mit unserem Reisebegleiter aus Alkmaar fand dann eine Beratung mit den Menschen vom Arbeitsamt statt. Wir sind aus dem Zug gestiegen, haben uns auf unser Gepäck gesetzt, und dann sollten sie mal sehen, wie sie uns da wegbekommen würden. Aber als sie uns mit der Gestapo drohten, verließen wir den Bahnsteig und fuhren in einem Bus zur Elektroacustic." [45]
Als niederländischer Zwangsarbeiter erhielt man auch einen "anständigen" Lohn. Von diesem Lohn wurden, wie bei den deutschen Arbeitern auch, Pension und Krankengeld abgezogen und auch ein Beitrag für das Winterhilfswerk. Doch damit war J. Buiten nicht einverstanden. Sein Protest gegen diesen Abzug hatte Erfolg!
"[...] später warst du Umgeschulter, und du konntest auch nicht so viel verdienen. Von diesem Lohn wurden Pension und Krankengeld abgezogen und noch ein Betrag für das WHW (Winterhilfswerk), aber dagegen habe ich protestiert, und es wurde daraufhin nicht mehr einbehalten. Der Gedanke war: 'Ihr wollt Krieg, dann seht mal zu, wie ihr klar kommt, aber nicht mit meinem Geld.'" [46]
Wir arbeiten mit Vergnügen bei der Elac,
lachend gehen wir da hin und pfeifen auf alles.
Alles, was wir klauen können, ist vor uns nicht mehr sicher.
Laß' nur einen mal was sagen, Mensch, dann werden wir grob.
Was hatte es mit diesem Zitat aus dem Lagerlied auf sich? Jan Buiten: "Nun, wenn wir die Gelegenheit sahen, um in der Fabrik etwas mitzunehmen, dann
taten wir das, ohne um Erlaubnis zu fragen. Und sagte man da etwas, dann hatte man eine große Schnauze, das war in der Regel damit gemeint. Was wurde da so alles gestohlen? Da ist für mich aus einer 2 mm Stahlplatte eine Kochpfanne auf einer Drehbank hergestellt worden. Der Mann mit den 40 Mark Buße hat das für mich getan. Daran baute ich einen Stiel aus Hartholz, und wir konnten die Pfanne benutzen.
In der Fabrik wurden Preise für einen Schachwettbewerb gebaut. In der Abteilung FW 7 in der Fabrik ist von mir eine Dampfmaschine gebaut worden, Feuerzeuge (für Zigaretten) aus Messing. In Tönning habe ich Töpfe und Pfannen mit einem neuen Boden aus 1 mm Messingblech versehen, und die wurden dann ganz verzinnt. Später habe ich noch ein kleines Küchenherdmodell für einen deutschen Kollegen gebaut, um zu Hause darauf zu kochen. Die Taschen meiner Regenjacke waren verschlissen, und da habe ich ein paar Stücke der Verdunklungsvorhänge abgeschnitten und da neue Taschen draus gemacht.
Deine Kleidung mußtest du auch selbst instandhalten. Die Reparaturen in Tönning an den Töpfen und Pfannen wurden mit Mehl oder Zigaretten bezahlt. Das Mehl ging an die russischen Mädchen. Dann wurde daraus etwas gebacken und aufgegessen. Einmal ist in Kiel jemand geschnappt worden, aber da war ich schon aus Kiel abgereist, und ich weiß nicht, wie das abgelaufen ist." [47]
"Organisiert" wurde so ziemlich alles, vor allem gegen Ende des Krieges, als an allem Mangel herrschte und das Durcheinander durch die vielen Luftangriffe immer größer wurde. Petrus van Eekelen: "Der Versuch, Extra-Nahrung zu bekommen, war praktisch unmöglich. Was die Kleidung angeht, so hatte ich als Schweißer Betriebskleidung. Als ich nach Deutschland mußte, hatte ich natürlich Kleidung bei mir, aber du verstehst, daß da nach zwei Jahren unter diesen Verhältnissen nicht mehr viel übrig war. Ich kann dir sagen, daß ich in meiner Schweißerausrüstung nach Hause gelaufen bin.
An Brennstoff gab es natürlich auch keinen Überfluß, aber vor allem im letzten Jahr brachte jeder auf der Kammer Brennstoff (Holz) unter der Kleidung verborgen mit ins Lager. (Vor allem nach einer Bombardierung fandest du schon immer Holz.)" [48]
Aber das Risiko war groß. Jules C. Vrancken hat einmal in einem Geschäft in Hassee Lebensmittelmarken "organisiert". Darauf stand zu dem Zeitpunkt mit Sicherheit die Todesstrafe. "[Das] Organisieren von Lebensmittelmarken spielte sich ein einziges Mal ab, als wir genug Mut hatten. Beim sog. 'Voralarm' gingen wir nicht in den Bunker, sondern stellten uns verdeckt auf, um während des 'Alarms' bei offenstehenden Geschäftstüren nach drinnen zu gehen, um Marken zu stehlen. War sehr gefährlich! und fand statt gegen Ende 1944. [...] Auch 'Schwarzhandel' wurde betrieben, z. B. 'richtiger Bohnenkaffee' vermischt mit Torfmull auf dunklen Plätzen hinter dem Bahnhof." [49]
Später fand Jules Vrancken die Gelegenheit, um sich bei der Kieler Post unweit des Hauptbahnhofes mit Hilfe von niederländischen Bekannten Lebensmittelmarken zu "besorgen". "Als ich ausgebombt wurde in der Wilhelminenstraße [50], bin ich ein paar Wochen als Gast im Lager bei der Post gewesen. [...] Die Leute kannte ich, weil mehrere von ihnen Mitglieder einer Band waren. Die haben Auftritte in anderen Zwangs-
arbeiterlagern gemacht, und ich bin oft dorthin mitgefahren.
[...] Die Leute von der Post, die hatten so einen Werkanzug wie damals bei den Fallschirmjägern an. Die Unterseite war zugemacht mit Elastik oder so, und die Pakete und Briefe haben sie dann in die Hosenbeine gesteckt und sind so nach Hause gelaufen.
Da haben wir die Briefe und Pakete aufgemacht, um zu sehen, was darin ist, und dann haben wir die Lebensmittelmarken rausgeholt. Schade für die Leute, die sie nicht empfangen haben, aber das war Post aus Flensburg, Rendsburg, und das ging nach Berlin. Das kam sowieso nicht mehr an wegen der Luftangriffe der Jäger auf die Züge. So war das nicht so schlimm. [...]
Nach ein paar Wochen bin ich wieder zurück ins Werk gegangen und habe dann bis Kriegsende im sogenannten Luftschutzlager an der gegenüberliegenden Seite des Werkes gewohnt. Zu meinem Erstaunen haben meine Kollegen und Vorgesetzten und auch der Werksschutz gar nichts zu meiner Abwesenheit gesagt." [51]
Über Sabotage in deutschen Rüstungsbetrieben während des Zweiten Weltkriegs ist viel geschrieben, geredet und gestritten worden. Untergrund- und Widerstandsgruppen in ganz Europa riefen ihre Landsleute, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland mußten, zur Sabotage auf, so auch in den Niederlanden. Aber die Möglichkeiten dazu waren sehr unterschiedlich. Innerhalb einer Produktionskette unter ständiger Aufsicht mit strengen Vor- und Endkontrollen zu sabotieren, konnte mitunter nur als Selbstmord bezeichnet werden. Da versuchte man schon eher, langsamer zu arbeiten oder sich vor der Arbeit zu drücken, wo man konnte, etwa durch häufigen "ausgiebigen Latrinengang". Den Verantwortlichen in den Betrieben blieben solche Dinge natürlich nicht verborgen, und man mußte schon auf der Hut sein, um nicht aufzufallen.
Wie Petrus van Eekelen dazu kam, auf der D.W.K.-Werft ein "klein wenig" zu sabotieren, hängt somit auch von Zufällen und speziellen Gegebenheiten auf der Werft ab. Begonnen hat alles bereits mit seinem ersten Arbeitstag. "Am nächsten Tag gingen wir zum ersten Mal zur Werft. Wenn du in Kiel aus dem Zug stiegst, so lagen da Boote klar, die dich zur Werft brachten. Nachdem wir uns wieder gemeldet hatten, mußten wir in eine Art Werkstatt, wo wir zu unserer großen Überraschung ein Stück Eisen, einen schweren Hammer und einen Meißel erhielten.
Das Stück Eisen war ca. 1 cm dick und 20 x 10 cm groß. Die Aufgabe bestand darin, mit dem Meißel Streifen von 2 cm Breite und 20 cm Länge abzuhacken. Das war für mich eine unglaubliche Kleinarbeit, denn ich hatte noch nie mit einem Meißel auf diese Art gearbeitet, und es dauerte dann auch nicht lange, bis meine Hand voller Quetschungen und Wunden war. Dieses sinnlose Getue dauerte noch eine Zeit, bis sie fanden, daß es genug war. (Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, wofür das gut war.)
Danach mußten wir mit Elektrizitätssachen üben. So verging der erste Tag, und wir waren froh, daß wir wieder zu-
rück ins Lager Flintbek konnten. Abends erhielten wir als Mahlzeit eine Art Knollensuppe, die sog. Steckrübensuppe (eine Art Suppe, die man heutzutage als Schweinefutter bezeichnen würde).
An diesem Abend habe ich mit einem der Jungs zusammengesessen und gequatscht, Frans aus Gouda. Er gab mir den Rat, zu versuchen, Elektroschweißer zu werden. Diese Art Arbeit bot dir eine Anzahl von Vorteilen. Du arbeitetest praktisch immer alleine, denn wenn du am Schweißen warst, blieb jeder außer Reichweite aus Angst vor Schweißaugen. Und außerdem bestand eine gute Gelegenheit, daß du draußen arbeiten konntest. Den Rest des Abends wurde noch etwas geredet und Karten gespielt, und dann aber wieder nicht zu spät ins Bett, denn morgens wurde wieder früh zum Aufstehen geblasen. [...]
Ich habe dann allen Mut zusammengenommen und unseren Lehrmeister gefragt, ob die Möglichkeit besteht, um Elektroschweißer zu werden. Zu meiner großen Überraschung wurde diese Bitte nahezu unmittelbar honoriert. Ich wurde dann in die Schweißerschule versetzt und bekam zunächst eine komplette Schweißerkleidung, die aus einer dicken, braun-gelben Hose mit gleicher Jacke, einem Satz dicker Handschuhe mit langen Stulpen und einem Paar Holzschuhe bestand. Die Schuhe waren aus einer Art Jute mit einem Paar dicker Holzsohlen an der Unterseite hergestellt. In die Sohlen hatte man eine ganze Serie 'Moffenspieker' geschlagen, so daß sie länger hielten. Diese Kleidung sollte ich zwei Jahre lang tragen und damit selbst noch in die Niederlande zurückkehren. Von Frans habe ich später noch eine fast neue Mütze erhalten. So war ich dann als Schweißer herausgeputzt.
Die erste Zeit in der Schweißerschule werde ich nicht so bald vergessen. Ich bekam regelmäßig Schweißaugen, was ein dummes Elend ist, denn damit kommt man nicht in den Schlaf. Das Schweißen wurde dir schon gründlich beigebracht. Du mußtest erst lernen, normal vor der Hand zu schweißen. Wenn du das gemeistert hattest, mußtest du lernen, von unten nach oben und danach über Kopf zu schweißen, was tatsächlich am schwersten war. Außerdem mußte alles wasserdicht sein, denn wenn man das Schweißen vollständig beherrschte, bestand die Aufgabe, an U-Booten zu arbeiten, und da wurde praktisch alles geschweißt.
Meine erste Arbeit bestand im Aneinanderschweißen von Panzerplatten, die auf die Schiffshellinge 1, 2 und 3 gelegt wurden, als Schutz gegen Bombenangriffe, denn unter den Hellingen waren Bunker gebaut, die völligen Schutz vor Splittern boten, aber nicht gegen Volltreffer beständig waren, wie sich später zeigen sollte. [...]
Auf der Werft änderte sich nach dem Schweißen der Panzerplatten mein Arbeitsbereich. Ich bekam es jetzt mit der Kriegsindustrie zu tun, und das bedeutete, daß jetzt auf den U-Booten gearbeitet werden mußte, die mitunter (zu unserer Genugtuung) tüchtig beschädigt in Kiel einliefen. Oder du mußtest auf einem Neubau arbeiten, denn es wurden stets neue U-Boote gebaut. Vor allem, wenn du auf einem eingelaufenen U-Boot eingesetzt wurdest, konntest du eigentlich schon einen Eindruck davon bekommen, wie es da an Bord zuging, und du sahst dann auch, daß da kein Quadratzentimeter ungenutzt gelassen wurde.
So vergingen Sommer und Herbst
1943. Da die Arbeit so allmählich ein klein wenig Routine wurde, begannen wir uns schon zu fragen, ob es nicht möglich wäre, ein klein wenig zu sabotieren. Eins der Dinge, die möglich waren, war folgendes: Ein U-Boot wurde in verschiedenen Teilen auf diversen Werften gebaut, wonach die Teile später zusammengefügt wurden. Weil beim Tauchen natürlich entsprechender Druck auf so ein Boot kommt, wird alles mittels einer V-Naht geschweißt. Das Zuschweißen einer V-Naht war eine langwierige und eintönige Aufgabe.
Die 'Sabotage', die wir vorsichtig durchführten, bestand darin, daß wir die V-Naht Stück für Stück mit Eisenstücken auffüllten und darüber die Naht schnell dichtschweißten. Stark belastbar war die Naht natürlich nicht mehr, aber von außen sahst du das nicht. Du konntest das tun, weil du als Schweißer wegen der Gefahr von Schweißaugen praktisch immer alleine gearbeitet hast.
Was wir am Anfang (also 1943) auch noch ausprobiert haben, war folgendes: Piet und ich fragten uns einmal, ob wir nicht versuchen konnten, einen Tag krank zu sein. Eines schönen Tages sind wir zwar nach Kiel gefahren, aber nicht auf die Werft gegangen. Wir haben einen der Jungs gebeten, uns auf der Werft krank zu melden. Das Problem war natürlich, wo du den ganzen Tag bleiben solltest. Du konntest nicht in der Stadt herumlaufen, denn Jungs tagsüber in der Stadt konnten nur 'Ausländer' sein, und die mußten arbeiten. Somit war das Risiko, von der Grünen Polizei verhaftet zu werden, zu groß. Glücklicherweise hatte Kiel ein paar schöne Parks, und darin tauchten wir unter. Es glückte dieses Mal, die Sache am nächsten Tag mit einem Schmu zu klären.
Später schien das 'krank sein' nicht mehr möglich. Die Deutschen kamen dahinter, daß zu viele - wie sie es nannten - 'blau gemacht' hatten. Also mußtest du in Zukunft eine Erklärung des Lagerführers haben, woraus hervorging, daß du wirklich krank gewesen warst und auch im Lager im Bett gelegen hattest." [52]
Durch die immer häufigeren Luftangriffe auf Kiel wurde die Produktion nicht nur erheblich eingeschränkt, sondern Bomben zerstörten auch ganze Fabrikteile. Das führte dazu, daß ganze Produktionsbereiche ausgelagert wurden, zunächst innerhalb Kiels, dann auch in "ruhigere" Landstriche. Jan Buiten arbeitete bei der Elac zunächst in der Abteilung FW 7, der feinmechanischen Werkstatt.
"Zusammen mit drei Franzosen und einem jungen Deutschen unterstanden wir einem Kolonnenführer, dem Herrn Fehrens. Wir mußten elektrische Geräte zusammenbauen, akustische Apparate für U-Boote. Alles war vorgefertigt, und wir mußten die Trafos, Spulen, elektrischen Schalter und Lampenfüße festschrauben. Die dazu notwendigen Schrauben und Muttern wurden in Kisten beigestellt. Alle Gewindebohrungen waren gezapft, und dann mußten wir in die Schlacht. War der Auftrag fertig, dann stand da schon der nächste und wartete auf uns.
In dieser Abteilung arbeiteten wir von 6.30 Uhr bis 12.30 Uhr, dann zum Eß-
[Abb. 7: Jan Buiten (rechts) mit einem Kollegen vor den Rämen der Elac in der Adler-Garage]
saal, um 13.00 Uhr wieder angefangen, bis 18.00 Uhr bzw. freitags bis 16.00 Uhr und samstags bis 14.00 Uhr; das waren 60 Stunden in der Woche.
In dieser Abteilung habe ich bis ungefähr Oktober 1943 gesessen, und dann mußte ich in die Nachtschicht, um in einer Abteilung zu arbeiten, wo Kristalle für Radioempfänger geschliffen wurden. Danach ging es wieder zurück zur ersten Abteilung, und anschließend wurde ich der Echolot-Abteilung überstellt.
In dieser Abteilung habe ich bis zum Ende des Krieges gearbeitet, d.h. als wir im Juli 1944 ausgebombt wurden, saßen wir in Kiel in einem Teil der Adler-Garage. Die lag zwischen der Straße der SA und der Eichhof-Kaserne.
Am 31. August 1944 sind wir nach Tönning bei Eiderstedt gegangen, da wurde die Sache erneut aufgezogen. Zuerst wurden wir zu zweit in einer Kammer oberhalb der Fabrik untergebracht. Später kamen wir zur Einquartierung bei Frau Dölz, Katrepel 22 in Tönning. Sie hat wie eine Mutter für uns gesorgt. Mein Kollege ist später wieder zurück nach Kiel geschickt worden, aber ich mußte in dieser Abteilung weiterarbeiten. Da arbeiteten auch eine Anzahl russischer Mädchen aus Leningrad und der Ukraine. Die Arbeitszeiten wurden dann länger: von 6.30 Uhr bis 1.30 Uhr. Das mußte ich sechs Wochen lang tun, und dann habe ich protestiert, und es kam zu einer anderen Arbeitsaufteilung. Meine Aufgabe war Instandhaltungsmonteur. [...] Eindringliche Erlebnisse sind die Bombardierungen gewesen, das vergißt du dein ganzes Leben nicht." [53]
Seine erste Bombardierung hat auch Petrus van Eekelen nicht vergessen. Wochenlang hatte es Alarm gegeben, wobei die gesamte Werft aus speziell installierten Nebeltanks eingenebelt wurde, um die Zielsuche für die Bombenwerfer zu erschweren, ohne daß es zu einer wirklichen Bombardierung gekommen war. Dadurch wurde man etwas leichtsinnig und suchte bei Alarm nicht immer den nächsten Bunker auf.
"So kam es zum Monat Dezember 1943. Und an einem Montagmorgen sah ich, während ich auf der Damsterdijk von der Holland-Amerika-Linie (die Deutschen hatten das Schiff im Mai 1940 geklaut) am Schweißen war, daß am Signalturm zum sovielten Mal ein Ball gehißt wurde. Kurz darauf war es zwölf Uhr und somit Essenszeit. Ich ging zusammen mit Piet zur Kantine der Schweißwerkstatt, wozu du zwei Treppen hoch mußtest. Auf dem 'Speiseplan' stand an diesem Tag Nudelbrei, was gar nicht so schlecht war.
Wir hatten gerade ein Schüsselchen erhalten, als die Sirenen auch wieder zum sovielten Mal 'Vollalarm' gaben. Die Deutschen flogen die Treppen runter, um in einen Bunker zu gehen. Wir zuckten mit den Schultern und schauten vergnügt auf die Nudelschalen, die da herrenlos auf den Tischen standen. Wir würden unseren eigenen Weg gehen können. Wir wollten gerade beginnen, als vollkommen unerwartet Bomben fielen. Wir erschraken furchtbar und sahen uns gegenseitig an. Schon rannten wir in großer Angst die Treppen hinunter. Draußen sahen wir durch den Nebel so gut wie nichts mehr, und hustend und prustend versuchten wir, einen Schutzkeller zu finden, aber wir konnten zu wenig sehen. Plötzlich lief ich gegen einen großen Kran, und weil wir uns keinen Rat wußten, haben wir uns bei diesem Kran auf die Erde gelegt. Es war glücklicherweise keine schwere Bombardierung, und die Bomben fielen nicht bei uns, sondern hauptsächlich bei der angrenzenden Germania-Werft. Wir waren aber doch so furchtbar erschrocken, daß wir in Zukunft schon etwas vorsichtiger waren. Das war die erste Bombardierung, leider sollten noch viele folgen." [54]
Auch auf den Werften wirkten sich die zunehmenden Zerstörungen erheblich aus, und es kam zu der schon er-
wähnten Auslagerung von Zwangsarbeitern. Petrus van Eekelen wurde nach Hamburg geschickt, aber da lief es auch nicht besser. "Sylvester 1943 feierten wir ein wenig miteinander, und jeder hoffte, daß wir es 1944 zu Hause sollten feiern könnten. Das Frühjahr 1944 brachte eigentlich wenig Neues. Regelmäßig gab es Alarm, und auch die Bombardierungen wurden vielfältiger, und allmählich wurden die Folgen deutlich sichtbar. Bei fast allen Werkstätten war keine Scheibe mehr heil, aber der Bau von U-Booten ging stetig weiter.
An einem gewissen Morgen kam der Befehl, daß die Arbeit unterbrochen werden müßte und sich jeder zum Hauptgebäude zu begeben hätte. Der Oberingenieur der Werft sprach zu uns und erzählte, daß die Alliierten auf den Stränden der Normandie gelandet wären. Er fügte aber sofort hinzu, daß sie mit großen Verlusten zurück ins Meer geworfen würden. Aber wir kannten die Deutschen so allmählich und begriffen, daß es nichtssagende Worte waren.
Es war der 6. Juni 1944, und die Invasion war eine Tatsache. Von diesem Tag an wurde jeden Tag eine 'Kieler Zeitung' gekauft. Freilich waren die deutschen Berichte gefärbt, aber zwischen den Zeilen konntest du schon lesen, daß es mit den Deutschen bergab ging. Von diesem Tag an wurden die Alarmphasen stets vielfältiger, und auch die Bombardierungen nahmen zu.
Abends im Lager konntest du sehr deutlich die Bombardierungen auf Kiel sehen, und häufig fielen die Splitter des Abwehrgeschützes ins Lager. Aber auch tagsüber kamen die Bombenwerfer nach Deutschland und so auch nach Kiel.
So ging es den Sommer über weiter, und es wurde für die Deutschen immer schwieriger, das Rad am Laufen zu halten. Häufig gab es Störungen in der Elektrizitätsversorgung, und für Schweißer bedeutete das weniger Arbeit. Wir fanden das natürlich prima, denn es konnte uns nicht schlecht genug gehen. Aber es begannen Gerüchte zu zirkulieren, daß es Verlegungen geben würde. Und tatsächlich bekamen wir Anfang August zu hören, daß eine Anzahl Schweißer an andere Werften ausgeliehen wurden. Anlaß hierfür war eine schwere Nachtbombardierung auf Kiel, wobei großer Schaden angerichtet wurde. Die Folge war, daß solche großen Störungen entstanden, daß vorläufig nicht alle Schweißer zum Arbeiten bleiben konnten.
Ich erhielt eine Zugfahrkarte nach Hamburg und die dazugehörigen Instruktionen, wo ich mich melden mußte. Es schien, daß ich auf der 'Deutschen Werft' in Finkenwerder, einem Vorort von Hamburg, arbeiten mußte. Ich war neugierig, ob ich wieder in einem Wohnlager biwakieren mußte. Das schien jedoch nicht der Fall zu sein, denn ich mußte zu einer alten Schule, die in einer schmalen Straße lag, parallel zur bekannten Reeperbahn im Hafenviertel Sankt Pauli. Morgens mußte ich dann zum Hafen und dann mit dem Boot nach Finkenwerder.
Die Arbeit auf der Werft bestand hauptsächlich aus Reparaturtätigkeiten, vor allem an den Docks, worin die U-Boote repariert werden mußten und wo die neuen U-Boote in Erwartung ihrer Besatzungen vorläufig abgebunden wurden. Diese Docks waren durch die fortlaufenden Bombardierungen so schwer beschädigt, daß die Abschlußtore fast perforiert waren. Es war glücklicherweise nur Tagesarbeit, aber es galt fast
[Abb. 8: Petrus van Eekelens Fahrausweis nach Finkenwerder. Das H steht für Holländer]
jede Nacht, vor den Angriffen Schutz im Bunker zu suchen, der vorn an der Reeperbahn stand. Auf diese Weise habe ich 14 Tage in Hamburg verbracht, aber was die Arbeit betrifft, war es so, als ob man bei offenem Hahn aufwischen sollte. Letztendlich begriffen die Deutschen das auch, und wir wurden zurück nach Kiel geschickt." [55]
In Kiel war die Situation inzwischen nicht besser, sondern eher schlechter geworden. Als die Produktion bei den D.W.K. zum Stillstand kam, verlegte man die Zwangsarbeiter in die umliegenden Dörfer zum Bau der letzten "Verteidigungsanlagen". Von hier aus gelang Petrus van Eekelen zusammen mit einem Kollegen die Flucht in die Niederlande. [56]
"Der Winter 1944 schien obendrein auch noch ein sehr strenger zu sein, so daß das draußen arbeiten keine Freude war. Auch die Bombardierungen wurden häufiger, und regelmäßig mußte die Arbeit gestoppt werden, da nach einer Bombardierung ein großes Chaos herrschte. Das wurde manchmal so schlimm, daß wir am Ende des Tages nicht mehr mit dem Zug von Kiel nach Flintbek fuhren, sondern lieber zu Fuß gingen. Regelmäßig wurden die Züge beschossen, und das war somit sehr gefährlich. Und sobald Alarm gegeben wurde, mußten die Züge den Bahnhof verlassen. Mit Flugzeugen in der Nachbarschaft war das kein so schöner Gedanke. [...]
Auf der Werft wußte man so allmählich nicht mehr, was sie mit den vielen Ausländern machen sollten, denn es gab immer weniger Arbeit. Ab einem bestimmten Zeitpunkt begann man damit, ganze Gruppen in andere Örtlichkeiten zu versetzen. Auch ich kam an die Reihe und wurde in ein kleines Dorf, 'Süderwisch' genannt, versetzt.
Wir kamen dort mit 50 Mann in einer alten Dorfschule unter, wo wir uns auf Stroh auf der Erde mit einer Decke einrichten mußten. Wir fragten uns mit großem Staunen, was wir in dem kleinen Dorf zu suchen hatten. Am nächsten Morgen wurde uns das sehr schnell deutlich gemacht. Ein deutscher Soldat jagte uns mit dem Schrei 'Raus!' aus dem 'Bett'. Wir erhielten etwas Brot und Kaffee und mußten unter Bewachung auf die rings um das Dorf gelegenen Weiden. Bald zeigte sich, daß wir Panzergräben graben und Maschinengewehrnester bauen mußten. Die zwei uns begleitenden deutschen Soldaten gaben uns Anweisungen. Material, wie Schaufeln, Holzhämmer, Pfähle, Stacheldraht usw. lag alles bereit.
Wir begriffen nichts von diesem unsinnigen Tun. Es war eine große Weidefläche mit einer durchlaufenden Eisenbahnlinie. Wir versuchten natürlich, uns auf alle möglichen Arten zu verdrücken, aber du mußtest schon etwas tun. Um zwölf Uhr kam ein Bauernkarren mit einem großen Kessel, und es wurde eine halbe Stunde Pause gemacht. Es gab natürlich wieder eine Art Kohlsuppe, aber nun, es gab zumindest etwas. Abends bekamst du wieder Suppe, und das war es dann. Du durftest in den Abendstunden nicht nach draußen, es war also eine unglaublich unangenehme Zeit. So verrückt es auch klingen mag, aber ich wollte zurück nach Flintbek." [57]
Dem Bericht von Petrus van Eekelen möchte ich den eines deutschen Chemikers gegenüberstellen, der erzählt, wie er die letzten Wochen bei den D.W.K. erlebte. "Alle Leute taten nach außen so, als ob die Arbeit übermorgen weitergehen würde. Es gehörte noch in den letzten Apriltagen 1945 zum guten Ton, eine siegessichere Miene zu zeigen. Ich war damals im chemischen Laboratorium tätig. [...]
Es hatte nichts Sinn. Es gab auch keine Leute mehr, die sich nach den Anordnungen richteten. Sie hörten sie an, als ob sie sie ernst nähmen, und wandten sich dann wieder ihrer normalen Beschäftigung zu. Die normale Beschäftigung bestand darin, nach Tieffliegern Ausschau zu halten oder in den Trümmern nach Dingen zu suchen, die man privat gebrauchen konnte. [...]
Auf der kieloben im Binnenbassin liegenden 'Admiral Scheer' (einige unmittelbar neben ihm ins Wasser gegangene Bomben hatten das 10.000 Tonnen große Panzerschiff kentern lassen) waren Matrosen bemüht, vom Kiel aus in den Schiffsrumpf einzudringen, um ihre eigene Habe oder auch fremde Kostbarkeiten zu retten. An die darin sich noch befindenden Leichen dachte niemand.
Überall wurde gefleddert. Die ganze 'Betriebsgemeinschaft' war mehr oder weniger emsig für ihren Privatbedarf tätig. Auf den Lohnzetteln nannte sich das 'Aufräumungsarbeiten'. Das Herausschaffen aus dem Werk machte auch für größere Objekte keinerlei Schwierigkeiten. Zwar waren die Tore nach wie vor von Werftsicherheitspolizei besetzt, aber diese Tore waren längst nicht mehr die einzigen Ausgänge. Die Werftmauer war fast überall niedergelegt.
Zwischendurch gab es natürlich immer wieder Fliegeralarm. Dann saßen wir Chemiker in unserem Frontlaboratorium im Hochbunker. Meist stand ein halbgefüllter Einliter Rundkolben mit Schnaps auf dem Tisch. Wenn eine Bombe einschlug, geriet der Schnaps in Bewegung. Die Oberfläche tanzte und
schlug Wellen. Der gläserne Kolben wurde so für uns zum Seismographen. Wir konnten entsprechend der hochschlagenden Flüssigkeit ziemlich genau Richtung und Entfernung der explodierenden Bombe ermitteln. 'Das war das Konstruktionsbüro' oder so ähnlich lauteten die entsprechenden Randbemerkungen. Und dann genehmigten wir zur Stärkung erstmal wieder einen aus dem Kolben. Tragisch nahm man die Dinge nicht mehr. Was hatte es schon zu bedeuten, wenn noch ein Gebäude mehr draufging." [58]
Ende Mai 1995 machten sich Petrus van Eekelen und Jules C. Vrancken zusammen mit ihren Frauen auf den Weg, um Kiel einen Besuch abzustatten. Fünfzig Jahre nach Kriegsende suchten sie ihnen bekannte Plätze auf, wo sie gewohnt, gelebt und gearbeitet hatten. Obwohl die Stadt Kiel stark zerstört worden war und sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel verändert hat, gelang es den beiden Ex-Zwangsarbeitern doch, erstaunlich viel wiederzufinden und neu zu entdecken. Dabei kamen auch viele Erinnerungen wieder hoch.
Stellvertretend für viele niederländische Zwangsarbeiter faßte Jules C. Vrancken noch einmal zusammen, warum er nach Deutschland gehen mußte. "Ich war 16 Jahre alt, als der Krieg in Holland ausbrach, und 19, als ich nach Kiel gefahren bin - auch nicht freiwillig. Jetzt kann man einfach sagen, warum bist du nicht untergetaucht? Aber das ist ganz einfach, das jetzt zu sagen. In einer großen Stadt, in dieser Zeit, da gab es überhaupt keine Untertauchadressen. Vielleicht, wenn man einen Vater hatte mit einem Haufen Geld und Beziehungen. Und dann gab es die Drohungen von der Behörde aus: wenn du nicht kommst, dann holen wir deinen Vater. Ich glaube nicht, daß das überhaupt passiert ist, aber das haben wir ja nicht gewußt. Also bin ich gegangen." [59]
Nach seiner Rückkehr in die Niederlande hatte Petrus van Eekelen das Gefühl, er müsse die verlorenen zwei Jahre nachholen. "Das Nachhausekommen war natürlich unbeschreiblich, und innerhalb kürzester Zeit war das Haus voll mit Freunden und Bekannten. Es war ein besonderer Tag, aber ich war schließlich froh, daß ich nach zwei Jahren wieder in meinem eigenen Bett schlafen konnte. Es war jedoch schwierig, in Schlaf zu kommen. Allerlei Ereignisse gingen wieder an mir vorüber, und dann stellte ich plötzlich fest: Der Krieg und meine Jugend sind vorbei!" [60]
"Wir haben damals gedacht - 22 Jahre alt, als wir zurückkamen - wir wollen die zwei Jahre einholen. Ganz verrückt natürlich, das geht nicht. Aber wir haben das trotzdem versucht. Jeden Abend ins Kino oder tanzen, Fest auf der Straße, monatelang. Aber dann habe ich gedacht, es muß doch gearbeitet werden. Und da bin ich zur Arbeit gegangen, im Januar '46. Und da habe ich 37 Jahre bei Phillips gearbeitet, und dann pensioniert. Und einige Jahre nach der Pensionierung, da war es bei mir so, da kamen die Erinnerungen zurück an die zwei Jahre hier in Deutschland, und die wurden immer stärker. Ich weiß nicht, warum." [61]
Nicht nur bei Petrus van Eekelen, sondern auch bei Jules Vrancken kamen
die Erinnerungen an seine Zeit in Kiel nach Ende des aktiven Arbeitslebens an die Oberfläche. Beide bestreiten, daß die Jahre in Deutschland ihr späteres Leben geprägt haben, aber beide haben, auch heute noch, das Gefühl, daß Deutschland ihnen ihre Jugend genommen hat.
Petrus van Eekelen: "Ja, das habe ich jetzt noch. Ich will sagen, warum. Ich habe mich einige Monate vor der Besetzung geistig und körperlich prüfen lassen für eine Ausbildung zum Piloten. Ich sollte im September '40 anfangen in einer Schule in Doordrecht, das war die Funkerschule. Und dann kamen die Deutschen im Mai '40, und die haben sofort die Schule geschlossen. Das hat mich immer aufgeregt, auch jetzt noch. Das ist meine Jugend, die man genommen hat. [...]
Da ist auch noch etwas anderes, so ist das bei mir. Wenn ich die 22 Jahre rechne, bevor ich nach Deutschland zurückkam, das waren 22 Jahre. Von diesen 22 Jahren, da haben die zwei Jahre so einen schrecklichen Eindruck gemacht, daß alles - nun, alles ist übertrieben, aber 90 % von dem, was sich da abgespielt hat... - ich habe von all den Jahren nur bestimmte Teile behalten. Aber von den zwei Jahren kann ich mich eigentlich beinahe von Tag zu Tag daran erinnern, was da passiert ist. Natürlich nicht jedes Detail. Von diesen 22 Jahren haben die zwei Jahre einen unbeschreiblichen Eindruck gemacht. Nicht nur im negativen Sinn, überhaupt nicht, aber alles, was du mitgemacht hast." [62]
Auch Jules Vrancken konnte seinen Traumberuf nicht ergreifen. Wie tief die Enttäuschung darüber saß, spürte auch seine spätere Frau Dirkje. Jules Vrancken: "Vor dem Krieg war ich schon eingeschrieben an einer Schule für Schiffsbetriebstechnik. Ich wollte auch damals schon zur See fahren, und ich war angemeldet an einer Schule in Vlissingen, das war die Seefahrtsschule, und das sollte von Shell bezahlt werden. Da hatte ich einen Vertrag, wenn ich die Ausbildung in drei Jahren richtig gemacht hätte, sollte ich fünf Jahre im Fernen Osten fahren. Aber das ist nicht passiert - genau wie bei Piet - die Ausbildung wurde geschlossen. Es gab überhaupt keine Schiffahrt mehr in Holland. [...]
Aber meine Jugend... So, wie wir das jetzt sehen, 18, 19 Jahre alt, die gehen in Discos, die gehen nach Spanien in Urlaub, das haben wir ja nie gemacht. Die Zeit ist weg, ja, das ist wahr." [63]
Dirkje Vrancken: "Ich kann da nicht so viel drüber sagen. Ich habe ihn '53 getroffen, und er hat sehr häufig gesagt, daß er sehr gerne zur Seefahrtsschule gegangen wäre. Und er findet das immer noch sehr schlimm, daß er das nicht gedurft hat." [64]
50 Jahre nach Kriegsende ist das allgemeine Interesse an dieser Zeit nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Niederlanden erwacht. Vor allem die jüngeren Generationen, die diese Jahre nicht selbst mitgemacht haben, wollen wissen, was sich damals abgespielt hat, was ihre Väter und Mütter, Omas und Opas erlebt haben. Über seine Kieler Zeit berichtete Petrus van Eekelen auch in der Schule seines Enkels.
"Ich bin in der Schule gewesen. Da wurden die Jungens in der Schule gefragt, ob sie nicht einen Opa haben, der den Krieg mitgemacht hat. Da sagt mein Enkel: 'Mein Opa hat nicht nur den Krieg mitgemacht, der ist auch in Deutschland
gewesen.' Und da fragte die Lehrerin, ob ich nicht kommen würde, um darüber zu sprechen. Und das war eine Gruppe von Jungens im Alter von elf, zwölf Jahren. Nun, das würde ich schon machen, und da habe ich begonnen, über die Zeit zu erzählen, in der ich in Deutschland war. Und dann durften die Jungens fragen, was sie wollten. Und wenn ich eine Antwort wußte, habe ich die gegeben. Ich war sehr erstaunt, was die Jungens alles wußten. Die wußten Bescheid über die Judenverfolgung, unglaublich viel. Sie wußten über Konzentrationslager unglaublich viel, Jungens von elf, zwölf Jahren, darüber war ich sehr erstaunt." [65]
Am Ende ihres Besuches in Kiel stimmten alle vier darin überein, daß es gut und richtig für sie gewesen ist, nach so vielen Jahren noch einmal zurückzukehren, um die alten Plätze aufzusuchen. Dirkje Vrancken über ihren Mann:
"Damals, nach seiner Pensionierung, da hatte er also mehr Zeit. Ich denke, daß man dann auch häufiger zurückfällt in die Vergangenheit. [...] Ich denke, daß nun, wo sie dies alles gesehen haben, die Neugier befriedigt ist. Ja, sie schauen darauf zurück, daß war eine Zeit, die sie selbst nicht gewollt haben." [66]
Jules Vrancken: "In Holland gibt es eine ganze Welle von Nostalgie. Überhaupt, was vor 50 Jahren passiert ist, und das wird ein bißchen aufgekocht durch die Zeitungen und das Fernsehen und so. Aber jetzt glaube ich, daß es Zeit wird, um - nicht einen großen Strich darunter zu setzen - aber daß man doch mal sagt, ja, jetzt ist es genug. Nicht, daß man das ganz vergessen will, das kann man ja nicht." [67]
Am letzten Tag ihres Aufenthalts in Kiel besuchten wir den Friedhof Eichhof. Die Motivation dazu war anfangs nicht sehr groß, und es herrschte eine Stimmung von "das gehört wohl mit dazu" bis "was soll ich auf dem Friedhof?"
Hinterher waren alle vier froh, daß sie das gesehen hatten, und das Gesehene und Gehörte hat bei ihnen einen tiefen Eindruck hinterlassen, den sie vorher nicht für möglich gehalten hatten. Petrus van Eekelen:
"Es haben mich drei Dinge verwundert, hier auf dem Friedhof. 1. daß da in der Tat Holländer liegen, so viele.
2. warum liegen die hier noch?
3. kommt da niemand von der Familie zu diesen Gräbern, aus Polen, aus der Ukraine, aus Holland, aus Frankreich, usw.?" [68]
Jules C. Vrancken: "Den tiefsten Eindruck hat der Friedhof gemacht, was ich nicht erwartet hatte. [...] Was ich auf dem Friedhof gesehen habe, das hat mich entsetzt. [...] Ich möchte gerne noch mal ganz klar sagen, daß die Behörden sich schämen sollen, wie das aussieht. Entweder sollen sie sich dessen entledigen, oder es schön halten." [69]
Petrus van Eekelen: "Entledigen kann man nicht." [70]
Jules Vrancken: "Alles kann man. Aber das, was jetzt da ist, das kann man nicht machen." [71]
Dirkje Vrancken: "Ich wußte nicht, daß da Grabsteine platt auf der Erde liegen, und daß da noch viele Niederländer liegen. Darum bin ich nun doch froh, daß ich das gesehen habe. [...] Wenn ich das vergleiche mit den Kriegsgräbern in Holland..." [72]
Petrus van Eekelen: "Nun, das sind Soldaten." [73]
Dirkje Vrancken: "...wie schön die da aussehen, auch von Deutschen. Aber, was ist da eigentlich für ein Unterschied
[Abb. 9: Das sog. Kriegs- und Bombenopferfeld der Stadt Kiel, wie es sich zum 50. Jahrestag des Kriegsendes präsentiert]
zwischen einem Militär und jemandem, der aufgegriffen wurde und zur Arbeit verpflichtet wurde - unfreiwillig? Das begreife ich nicht. [...] Diese Menschen, die da liegen, unfreiwillig hergeholt, [...] haben gearbeitet - nicht nur Holländer, auch die Russen, Polen, alle [...] und daß das so daliegt, [...] das haben sie nicht verdient. Und sie haben das Kostbarste gegeben - ihr Leben." [74]
1. Vgl. Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 25. August 1994. S. 3 - 52.
2. Albert Boer: Het Kamp Schoorl. Schoorl 1991, S. 21 - 28. Alle Zitate aus Quellen wurden von mir übersetzt.
3. Brief von Jules C. Vrancken, 9.2.1995.
4. Brief von Jules C. Vrancken, 2.12.1994.
5. Brief von Jan Buiten, 18.2.1995.
6. Bericht von Petrus van Eekelen. Roosendaal 1993. S. 6f.
7. N.S.B. war die Nationaal Socialistische Beweging, die Nazi-Partei der Niederlande.
8. Wie Anm. 6, S. 12f.
9. Brief von Jan Buiten, 16.11.1994.
10. Brief von Jan Buiten, 18.2.1995
11. Wie Anm. 6, S. 1 - 7.
12. Brief von Petrus van Eekelen, 24.2.1995.
13. Wie Anm. 6, S. 16 - 19.
14. Wie Anm. 6, S. 24, 27.
15. Wie Anm. 6, S. 31 - 33.
16. Karel Volder: Werken in Duitsland 1940 - 1945. Amsterdam 1990. S. 167.
17. Wie Anm. 16, S. 168.
18. Brief von Jan Buiten, 18.2.1995.
19. Wie Anm. 16, S. 171.
20. Brief von Jules C. Vrancken, 9.2.1995
21. Wie Anm. 6, S. 28f.
22. Interview mit Petrus van Eekelen. Alle auch später zitierten Interviews wurden am 31.5.1995 von mir durchgeführt.
23. Brief von Petrus van Eekelen, 24.2.1995.
24. Wie Anm. 16, S. 171.
25. Wie Anm. 6, S. 15.
26. Wie Anm. 6, S. 20.
27. Wie Anm. 16, S. 221.
28. Brief von Jules C. Vrancken, 9.2.1995.
29. Wie Anm. 6, S. 33f.
30. Brief von Petrus van Eekelen, 24.2.1995.
31. Brief von Jan Buiten, 16.11.1994.
32. Brief von Jan Buiten, 18.2.1995.
33. Vgl. Abschnitt 9 meines ersten Berichtes (wie Anm. 1).
34. Brief von Jules C. Vrancken, 9.2.1995.
35. Brief von Jan Buiten, 18.2.1995.
36. Brief von Jan Buiten, 16.11.1994.
37. Brief von Petrus van Eekelen, 24.2.1995.
38. Wie Anm. 16, S. 220.
39. Brief von Jules C. Vrancken, 9.2.1995.
40. Vgl. Abschnitt 3 meines ersten Berichtes (wie Anm. 1).
41. Brief von Jules C. Vrancken, 9.2.1995.
42. Brief von Jules C. Vrancken, 9.2.1995.
43. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 358, Akte Nr. 4853.
44. Brief von Jan Buiten, 18.2.1995.
45. Brief von Jan Buiten, 16.11.1994.
46. Brief von Jan Buiten, 18.2.1995.
47. Brief von Jan Buiten, 18.2.1995.
48. Brief von Petrus van Eekelen, 24.2.1995.
49. Brief von Jules C. Vrancken, 9.2.1995.
50. In meinem ersten Bericht (wie Anm. 1) hatten Jules Vrancken und ich angenommen, daß er in der Gartenstraße gewohnt hatte. Bei seinem Besuch in Kiel im Mai '95 entdeckte er das Haus, auf dessen Hinterhof er oberhalb eines Handwerksbetriebes privat gewohnt hatte, in der Wilhelminenstraße.
51. Interview mit Jules C. Vrancken.
52. Wie Anm. 6, S. 19 - 26.
53. Brief von Jan Buiten, 16.11.1994.
54. Wie Anm. 6, S. 27f.
55. Wie Anm. 6, S. 29 - 31.
56. Vgl. Abschnitt 10 meines ersten Berichtes (wie Anm. 1).
57. Wie Anm. 6, S. 33 - 35.
58. Schleswig-Holsteinische Volkszeitung vom 30.4.1948.
59. Interview mit Jules C. Vrancken.
60. Wie Anm. 6, S. 45f.
61. Interview mit Petrus van Eekelen.
62. Interview mit Petrus van Eekelen.
63. Interview mit Jules C. Vrancken.
64. Interview mit Dirkje Vrancken.
65. Interview mit Petrus van Eekelen.
66. Interview mit Dirkje Vrancken.
67. Interview mit Jules C. Vrancken.
68. Interview mit Petrus van Eekelen.
69. Interview mit Jules C. Vrancken.
70. Interview mit Petrus van Eekelen.
71. Interview mit Jules C. Vrancken.
72. Interview mit Dirkje Vrancken.
73. Interview mit Petrus van Eekelen.
74. Interview mit Dirkje Vrancken.
Die Abbildung 6 stammt aus dem Landesarchiv Schleswig, alle übrigen
stammen aus der Sammlung Peter Meyer-Strüvy.
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 28 (Dezember 1995) S. 37-70.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 28