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Gerhard Hoch: Kaltenkirchen - es war die Mühe wert

Nicht anders als die meisten Kommunen in unserem Lande hatte es auch Kaltenkirchen geschafft, seine höchst-eigene nationalsozialistische Geschichte jahrzehntelang unter dem Teppich zu halten. Um so schockierender war es für viele, als dieser Teil der Stadtgeschichte 1980 ins Licht gerückt wurde -


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bei den einen, weil ihre und ihrer Eltern Teilhabe am Dritten Reich nun doch noch aufgedeckt wurde, bei den anderen, weil sie zuvor keine Ahnung von dem Ausmaß der Verstrickung und von den Schrecken in den dortigen Lagern gehabt hatten. Bei sehr vielen Bürgern wich der Schock allmählich einem lebhaften Interesse und dem Willen, aus jenen Vorgängen für heute und morgen zu lernen. Dies gilt besonders von der jüngeren Generation und ihren Lehrern im Ort. Andere dagegen luden sich auf mit Zorn und Abwehr. Sie konnten zwar die weitere örtliche und regionale Zeitgeschichtsforschung behindern, sie jedoch nicht verhindern. Auf Dauer gelang es nicht, die relevanten Dokumente unter Verschluß zu halten.

Die verzweifelte Abwehr der Wahrheit und der Aufklärung gipfelte noch einmal in dem Versuch, die Drucklegung des Buches "Zwölf wiedergefundene Jahre" dadurch zu unterbinden, daß die Mehrheit aus CDU und FDP in der Stadtvertretung die notwendige Bewilligung eines Druckkostenzuschusses ablehnte. Doch dieser Blockadeversuch hatte zwei nicht einkalkulierte Folgen: Die bei den öffentlichen Beratungen anwesende Presse sorgte für Schlagzeilen in ganz Deutschland. Mehrere Rundfunkanstalten strahlten ausführliche Sendungen aus. Das ZDF rückte einen 45minütigen Film ins Programm. Und ferner: eine spontan gegründete Bürgerinitiative sammelte binnen zweier Wochen etwa 20.000 DM, mit deren Hilfe das Buch zu einem sehr niedrigen Preis erscheinen und eine entsprechend große Verbreitung finden konnte.

Auch der Vorstand der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde glaubte, sich in die Abwehrfront einreihen zu müssen, dabei unterstützt von der Kirchenbehörde in Kiel. Erst nach Jahren der Verleugnung und Verweigerung öffnete sie ihr reichhaltiges Archiv, wohl weniger einer Einsicht folgend, als zermürbt durch die Unnachgiebigkeit der Bemühungen um Zugang.

Doch inzwischen ist eine Entkrampfung eingetreten. Nach endlich zustande gekommenen persönlichen Begegnungen mit dem Kirchenvorstand entschloß sich dieser, die auf dem allgemeinen Friedhof bestatteten Opfer der NS-Herrschaft durch deutliche Inschriften auf ihren Gräbern zu ehren und sie damit endlich zu sprechenden Zeugen zu machen. Die Beziehungen zu den traditionell sehr konservativen Kirchenvertretern ist nun auch so weit normalisiert, daß das Archiv der Gemeinde offen steht.

Der Prozeß der zeitgeschichtlichen Aufklärung nahm seinen Fortgang und brachte etliche erfreuliche Resultate. Die unkorrekte und irreführende Inschrift "Kriegsgräberstätte" auf den Hinweisschildern in der Stadt wurde ersetzt durch die Formulierung "Gräberstätte für Kriegsgefangene und KZ-Opfer". Für das Informations- und Begrüßungsblatt für Neubürger wurde ein Abriß zur NS-Geschichte angefordert und eingefügt. In der Stadtbücherei wurde dauerhaft das von Schülern einer Realschule zum 8. Mai 1995 angefertigte Modell des KZ-Außenkommandos Kaltenkirchen aufgestellt. Vier im Bau befindliche neue Wohnstraßen erhalten laut definitivem Beschluß von Magistrat und Stadtvertretung auf Antrag aus der Bevölkerung Namen von Personen aus dem Widerstand:

1. Richard Tackx - französischer Häftling des KZ. Trotz angedrohter Todes-


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strafe notierte er die Namen eines großen Teils der im Lager Verstorbenen und gab vielen von ihnen Kennzeichen mit ins Grab. Diese ermöglichten bei den Exhumierungen 1951 die Identifizierung vieler Toter und die Überführung ihrer Überreste in ihre Heimat.

2. Hertha Petersen - eine in Hamburg ausgebombte Frau, die gegenüber dem Lager ein Behelfsheim bewohnte und einer Gruppe französischer Häftlinge nach deren Flucht aus dem Lager einige Wochen hindurch das Überleben ermöglichte. Sie verwahrte auch die heimlichen Aufzeichnungen des Richard Tackx.

3. Else Stapel - deren Lebensbedingungen denen von Hertha Petersen glichen und die sich in ähnlicher Weise für die Häftlinge einsetzte.

4. Gustav Meyer - Mittelschullehrer in Kaltenkirchen. Aufgrund seiner humanen und weltbürgerlichen Grundeinstellung erschien er als offenkundiger und verhaßter Gegentyp zu dem in der Stadt herrschenden Lehrerbild. Er wurde von Schülern und deren Großvätern denunziert und vom Schleswig-Holsteinischen Sondergericht unter dem Richter Fuhst zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Nach der Befreiung setzte die Stadt alles daran, ihn aus dem Schuldienst fernzuhalten, bis er schließlich dem unerträglichen Druck wich und in eine andere Stadt zog.

Einen festen Platz im Selbstverständnis der Stadt hat die im Jahre 1978 errichtete "Gräberstätte", in der 184 Tote des KZ-Außenkommandos Kaltenkirchen und viele hundert sowjetische Kriegsgefangene beigesetzt wurden. Die Stätte, mehrere Kilometer von der Stadt entfernt gelegen, wird regelmäßig von Schulklassen, Familien und Einzelpersonen besucht. Gegenwärtig liegen Anträge bei der Stadt vor, die Aussagekraft der Anlage durch Informationstafeln zu verstärken und den langen Zuweg durch einen Wald angemessen zu gestalten und als Ruhezone zu schützen.

Gewiß, alle diese erfreulichen Entscheidungen wurden von einer Stadt getroffen, in deren parlamentarischer Vertretung inzwischen SPD und Grüne die Mehrheit bildeten. Aber auch das öffentliche Bewußtsein hat sich weiterentwickelt, wozu die örtlichen Redaktionen der regionalen Presse durch ihre sorgfältige und unverkürzte Berichterstattung nicht wenig beigetragen haben. Eine deutliche Wende also:

Vor einem Dutzend Jahren noch konnte man in der Kantine des Bundesarchivs in Koblenz ganz zufällig von einem Nachbartisch das Wort "Kaltenkirchen-Syndrom" hören. Das war kurz nach den Blockadeversuchen gegen die "Zwölf wiedergefundenen Jahre". Bei manchen ehemaligen Häftlingen verursachte schon der Name "Kaltenkirchen" ein gewisses Frösteln. Dies ist einem stark veränderten Verhältnis zu dieser Stadt gewichen. Unbeschwerter kommt man hierher, nachdem man erlebt, wie diese Stadt mit dem Gedächtnis der toten Kameraden umgeht. Die Witwe des Richard Tackx möchte dabei sein, wenn die Namensgebung der Straße nach ihrem Mann erfolgt.

So kann das Beispiel Kaltenkirchen für alle, die an der Aufhellung des dunkelsten Geschichtsabschnittes ihrer eigenen Gemeinde arbeiten, Ermutigung und Bestärkung sein, wenn sie genügend Ausdauer und Entschiedenheit aufbringen.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 28 (Dezember 1995) S. 75-77.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 28

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