Zu den zahlreichen Beiträgen und Veröffentlichungen - auch in der Presse [1] - zum "Altonaer Blutsonntag" am 17. Juli 1932 gesellt sich seit einiger Zeit ein weiterer Titel von Léon Schirmann: Altoner Blutsonntag 17. Juli 1932. Dichtungen und Wahrheit, Hamburg 1994. Der französische Naturwissenschaftler und ehemalige Partisanenkompanieführer Léon Schirmann, Jahrgang 1919, hat sich seit seiner Pensionierung mit der Endzeit der Weimarer Republik befaßt. Dabei deckte er Fälschungen amtlicher Stellen auf, die politische und behördliche Gewalttaten entstellten, um juristische Fehlentscheidungen zu erleichtern.
Nach seiner Veröffentlichung von 1991 Blutmai Berlin 1929. Dichtungen und Wahrheit bezieht sich der hier besprochene Titel auf eine Phase der Weimarer Republik, in der politische gewalttätige Auseinandersetzungen auf der Straße ihren Höhepunkt hatten.
Die von 1924 bis 1933 vom sozialdemokratischen Oberbürgermeister Max Brauer geführte Stadt Altona gehörte damals noch zur preußischen Provinz Schleswig-Holstein, auch wenn der räumliche und ökonomisch-sozial-kulturelle Bezug zu Hamburg stärker war als zur Provinzregierung in Schleswig. Ende des 19. Jahrhunderts war die Stadt durch Zuwanderung und Eingemeindungen (z.B. Othmarschen, Bahrenfeld) stark gewachsen, 1927 wurde mit weiteren zehn Gemeinden - darunter Blankenese und Eidelstedt - "Groß-Altona" geschaffen, das sich auch formal mit Verträgen in eine wirtschaftliche und verwaltungsmäßige Kooperation an Hamburg band, als handele es sich um ein einheitliches Stadtgebiet. Max Brauers "Kommunalsozialismus" schuf eine Reihe vorbildlicher kommunaler Einrichtungen, konnte aber die strukturelle Heterogenität der Stadt nicht beheben, weil wegen der Wirtschaftskrise und der dadurch bedingten schlechten kommunalen Finanzsituation am Ende der zwanziger Jahre die Sanierung der Altstadt, dem Gebiet dem heutigen Bahnhof Altona und Hamburg-St. Pauli, eingestellt werden mußte, obwohl hier etwa die Hälfte der gesamten Bevölkerung Altonas lebte.
Auch die Altstadt selbst war kein homogenes Wohnviertel. Gab es in den Vorderhäusern noch Kneipen, Trödelläden oder Geschäfte für die Grundversorgung, lebten in den Hinterhöfen die Ärmeren. Die Lebensverhältnisse lassen sich heute nur schwer rekonstruieren. Einiges spricht dafür, daß die bürgerlichen Vorstellungen von Privatsphäre und Individualität hier keine Rolle mehr spielten, sondern sich stattdessen ein "offenes Leben" entwickelte, in dem Nachbarschaft und Familie mit allen Spannungen und Problemen verschmolz. Die Wirtschaftstruktur der Altstadt war stark von Kleinhandel und -gewerbe geprägt. Dadurch waren auch Konflikte in der Arbeitswelt nicht weit von der Lebensumgebung entfernt angesiedelt, weil diese Gewerbezweige häufig Bestandteil der Wohnumgebung waren. Die Lebensbedingungen in der Altonaer Altstadt lassen sich nur schwer begrifflich fassen und sind auch erst in wenigen wissenschaftlichen Arbeiten untersucht worden. [2]
"Altonaer Blutsonntag" ist die Bezeichnung für den 17. Juli 1932, einen regnerischen Sonntag, an dem es zwischen etwa 7.000 Nationalsozialisten und der Bevölkerung Altonas zu Ausschreitungen kam, in die zusätzlich Polizeikräfte massiv eingriffen. [3] Wie kam es zum Altonaer Blutsonntag, der mit seinen 18 Todesopfern der Nazi-tolerierten Reichsregierung Papens Argumentationshilfe lieferte, um die geschäftsführende preußische Regierung abzusetzen ("Preußenschlag")?
Léon Schirmann versucht, in sieben Abschnitten seines Buches darauf eine Antwort zu geben und zugleich die amtlichen Desinformationen aufzudecken, die zu den ersten "legalen" Hinrichtungen der NS-Zeit durch Todesurteile des 1933 wiedergegründeten Altonaer Sondergerichts [4] führten.
In der Einführung zeichnet Schirmann unter Verwendung damaliger Zeugenaussagen zunächst ein plastisches Bild des 17. Juli 1932. Anschließend gibt er eine Einführung in die Konzeption und den Erfolg seiner Arbeit, der sich auch darin ausdrückt, daß die vier Todesurteile des Altoner Sondergerichts vom 1. Juni 1933 [5] aufgrund seines vorgelegten Materials nach mehr als 60 Jahren Ende 1992 in Hamburg aufgehoben wurden. Schirmann drückt außerdem seine Verwunderung darüber aus, daß es der "deutschen Geschichtsschreibung" nicht gelungen ist, die behördlichen Falschdarstellungen aufzudecken.
Der Anstieg der politischen Gewalttätigkeit und eine kurze Vorgeschichte des Altonaer Blutsonntag ist der Titel des zweiten Abschnittes, der zur Orientierung des Themas im historischen Rahmen beitragen kann. Die besondere Zunahme politischer Gewalttaten im Juli 1932 läßt sich aus der bevorstehenden Reichstagswahl am 31. Juli 1932 erklären und aus der durch Reichspräsident Hindenburg erlassenen Aufhebung des Uniformverbotes vom Juni 1932. Der Terror der SA, der vielfach erst die Gegenwehr anderer politischer Gruppen provozierte, wurde von der NSDAP dazu genutzt, auf die Handlungsunfähigkeit der Politik zu verweisen. Weder in Preußen (geschäftsführende Minderheitsregierung Braun) noch im Reich (von Papen, NSDAP toleriert) gab es politische Mehrheiten, die entsprechende Entscheidungen ermöglichten. Hindenburg hatte die "Reichsexekution in Preußen" [6] in Form von Notverordnungen bereits am 14. Juli unterschrieben, lediglich das Datum war noch offengelassen. Die insgesamt 23 Todesopfer in Preußen am 17. Juli 1932 gegen nur eines im übrigen Reich haben nur wenige Tage später die erhoffte öffentlichkeitswirksame Gelegenheit für den "Preußenschlag" geboten.
Schleswig-Holstein war eine "Nazi-Hochburg", wobei erhebliche Unterschiede zwischen ländlichen Regionen und den Städten bestanden. [7] Gewalttätige Auseinandersetzungen waren auch auf dem "platten Land" an der Tagesordnung [8]; in Altona gab es sie fast täglich. In dieser Situation wurden die angekündigten SA-Märsche durch Altona vom zuständigen sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Eggerstedt dennoch genehmigt. Anschließend ging Eggerstedt - am 17. Juli unerreichbar - auf Wahlkampfreise, denn er war nebenbei auch Reichstagsabgeordneter. Er erlaubte seinem Stellvertreter ebenfalls Wochenendurlaub und überließ das "Feld" einem unerfahrenen Beamten. Die KPD wollte noch erreichen, daß zumindest der Weg der Nazis durch das Arbeiterviertel "Altonaer Altstadt" verboten wurde, aber der Stellvertreter des Stellvertreters konnte darüber nicht entscheiden. So rief die KPD zur "Verteidigung" des Arbeiterviertels auf.
Die amtlichen Unwahrheiten lautet der Titel des dritten Abschnitts, der sich zunächst auf die erste amtliche Pressemitteilung der Altonaer Polizei vom Abend des 17. Juli 1932 bezieht. Die Beschreibung von Schützen auf "Dächern und Balkonen" wird sich auch in historischen Darstellungen und Zeitungsbeiträgen mehr als 50 Jahre lang wiederfinden, obwohl es keine Beweise in den Ermittlungen für diese Behauptung gab. Vielmehr begründet Schirmann hier eine "Psychose der Polizei", die sich durch ihre wilden Schüsse in den eng bebauten Gassen selbst getäuscht habe, indem die Einschläge der Schüsse der Kollegen zum Beispiel im Mauerwerk der Gebäude als Mündungsfeuer der vermeintlichen Dach- und Balkonschützen angesehen wurden.
Die weiteren behördlichen Berichte erstreckten sich vor allem auf Rechtfertigung und Erklärung des Verhaltens der Ordnungskräfte, wobei auch die jeweilige Verantwortlichkeit eine Rolle spielte; beispielsweise waren nicht nur die Leiter abwesend, sondern auch Teile der Bereitschaftseinheiten befanden sich in Urlaub und waren daher nicht verfügbar. Damit war dann auch der Einsatz des Hamburger Kommandos "Kosa" [9] gerechtfertigt, das für mindestens zwölf der 18 Todesopfer an diesem Tag verantwortlich war. Um die Härte des Einsatzes zu begründen, wurden neben der "Dachschützenerfindung" auch noch die Zahl der kommunistischen Opfer erhöht und Geschichten von barrikadenmäßig umgestürzten Fahrzeugen und Straßenbahnen erfunden oder zumindest stark übertrieben. Zeitliche Ungereimtheiten - zum Beispiel Häuser, die "gestürmt" wurden, tatsächlich aber nicht existiert haben oder Nazis, die "nicht geschossen" haben sollen - und weitere Falschdarstellungen runden die amtlichen Berichte ab, die dennoch zur Grundlage der staatsanwaltlichen Untersuchung und weiteren Fälschungen von Beweismitteln wurden.
Der nächste Abschnitt Die Frage des Umgangs mit den Quellen befaßt sich zunächst mit sogenannten Augenzeugenberichten, die nach dem Krieg verfaßt wurden und zum Teil erhebliche Ergänzungen enthalten, die nicht zutreffend waren. Zeitgenössische Presseberichte haben zumindest den Vorteil, daß sie aufgrund ihrer Zeitnähe und des Interesses an eigenen Sensationen der jeweiligen Redaktionen insgesamt ein Bild liefern können, daß realistisch erscheint, wenn auch die jeweilige Zeitung unterschiedlich gewertet hatte. Der "Überparteiliche Untersuchungsausschuß" unter Beteiligung namhafter Persönlichkeiten hatte zwar die Unwahrheiten der amtlichen Berichte herausgefunden, sein Einfluß blieb jedoch begrenzt. Die Archivmaterialien sind laut Schirmann zum Teil sehr lückenhaft, insbesondere vermißt er mehrfach ein "polizeiliches Archiv". [10]
Zum Urteil des ersten Blutsonntag-Prozesses ist anzumerken, daß es in einigen Teilen fast im Wortlaut den Darstellungen aus Aussagen von Nazis folgte. Der weiteren Literatur wirft Schirmann weitgehende Abhängigkeit von den behördlichen Falschdarstellungen aus 1932 und 1933 vor. Tatsächlich findet sich fast überall die Behauptung von Dachschützen wieder, wobei sich wirklich die Frage stellt, warum die einzelnen Historiker, darunter nach Schirmanns Darstellung auch die "Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg", sich auf diese Darstellung eingelassen haben, für die es von Anfang an keine Beweise gab.
Als nächster Abschnitt folgt Der Verlauf des Blutsonntags. Hier versucht Schirmann, die Ereignisse des Tages mit Hilfe der heute zur Verfügung stehenden Mittel zu rekonstruieren. Demnach gab es zwei aufeinander folgende Schwerpunkte: Zunächst Auseinandersetzungen zwischen Nazis und Kommunisten an der Ecke Große Johannis- / Schauenburger Straße [11], wobei Schirmann der Meinung ist, die Opfer (SA-Männer) seien "höchstwahrscheinlich von kommunistischen Kugeln getroffen worden". Den zweiten Schwerpunkt bildet die polizeiliche " Säuberung" der "roten" Altstadt. Die weiteren 16 Todesopfer - "höchstwahrscheinlich sind alle von polizeilichen Kugeln getroffen worden" - hielten sich "zum entsprechenden Zeitpunkt fern vom SA-Umzug" auf und waren "an keinen Unruhen" beteiligt. [12]
Die sehr detaillierte Darstellung geht auch der Frage nach Barrikaden durch Straßenbahnwagen und den angeblichen Beschießungen der Polizei durch Kommunisten nach und untersucht die Möglichkeit von organisierter Gegenwehr der Linken gegen den Umzug der Nazis in der Altonaer Altstadt.
Eine kurze Nachgeschichte vom Blutsonntag versucht, den Tag im politischen Umfeld des Deutschen Reiches zu orientieren, wobei Schirmann meint, daß es auch ohne Blutsonntag den sogenannten Preußenschlag gegeben hätte. Der am Blutsonntag nicht agierende Polizeipräsident Eggerstedt gerät wenig später zunächst in die Mühlen der nun "rechten" Beamten-Disziplinargewalt und wird wenig mehr als ein Jahr nach den Ereignissen von der inzwischen etablierten SS "auf der Flucht erschossen." [13] Schirmann sieht im Altonaer Blutsonntag ein Symptom für den Verfall der Weimarer Republik, zum Beispiel aufgrund des Versagens der Polizei, die durch ihre wilde Schießerei die meisten Opfer zu verantworten hat, und der Staatsanwaltschaft, die bereits im Sommer 1932 Beweisstücke fälschte, um den folgenden Prozessen den entsprechenden Verlauf zu geben.
Im Anhang findet sich zunächst noch ein Vergleich der sich teilweise widersprechenden Zeitangaben in den behördlichen Berichten und eine Tabelle über die Todesopfer mit Angaben über Todesart, -zeitpunkt, -ort, über die Tatgeschosse, politische Organisationszugehörigkeit, Wohn- und Aufenthaltsort zur Tatzeit. Die strukturierte Quellen- und Literaturliste und einige der sich widersprechenden behördlichen Berichte als Archivalien runden den Anhang als informativen Teil der Veröffentlichung Schirmanns ab.
Nach dieser Darstellung der inhaltlichen Strukturierung von Léon Schirmanns Veröffentlichung sei es dem Rezensenten gestattet, einige kritische Anmerkungen zu machen. Zunächst zur Gliederung: Es fällt schwer, Schirmanns kritischer Argumentation bereits zu Beginn zu folgen, weil der Verlauf der Ereignisse deutlich im hinteren Teil des Buches dargelegt wird. So bleiben die Leserinnen und Leser lange Zeit in einer Unwissenheit, es sei denn, man entschließt sich, gleich erstmal die "wichtigen" Seiten zu lesen. Eine Erklärung für die inhaltliche Struktur bleibt Schirmann schuldig; soll dadurch eventuell die Spannung des Buches gesteigert werden? Denn die Geschichte ist interessant genug, um sie auch in der vorliegenden Form zu lesen; nicht zu Unrecht bezeichnete "Die Zeit" die Veröffentlichung als "historische Reportage", wenn auch wichtige Fragen während der Lektüre damit lange unbeantwortet bleiben.
Wichtiger scheint jedoch eine Kritik daran zu sein, wie Schirmann mit den Kollegen "Geschichtswissenschaftlern" umgeht. Schon der Anspruch, den Schirmann an die "deutsche Geschichtsschreibung" [14] stellt, läßt beim Rezensenten die Frage aufkommen: Gibt es bei uns eine staatlich organisierte Geschichtsschreiberzunft?
Die von Schirmann für sich selbst gefundene Bezeichnung als "einzig existierender Fälschungsforscher" hat dabei eher noch einen humoristischen Klang; die Kritik an dem Historiker Wolfgang Kopitzsch ist, wenn auch inhaltlich vielleicht berechtigt, stilistisch eher abzulehnen. [15] Schirmann macht sich zum allwissenden Aufklärer, der über alle Kollegen zu werten in der Lage ist. Ähnlich geht er auch mit der "Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg" um. Wenn er dann mit Sätzen wie "Die Echtheit der ermittelten Fälschungen ist unbestreitbar und unbestritten." einen Absolutheitsanspruch setzt, wenn er wertende, interpretierende Ausführungen mit Ausrufungszeichen verstärkt, wenn er Berichte als "erdichtete Kindermärchen" bezeichnet, dann mag er zwar inhaltlich richtig liegen, einen produktiven, die Forschung stimulierenden Beitrag liefert sein Buch hier jedoch nicht, weil Schirmann jeder weiteren Forschungsaktivität die Luft abdrückt und eher den Endpunkt der Forschung zu setzen versucht, obwohl dieser eigentlich noch nicht angezeigt ist.
Fragen, die hier zu nennen wären, stehen vor allem im Zusammenhang mit dem zweiten Band, den Schirmann angekündigt hat, die gerichtliche Auseinandersetzung bis 1993. Aber auch auf mikrohistorischer Ebene scheinen durchaus weitere Untersuchungen gerechtfertigt, denn die soziale Struktur, die Meinung der Behördenvertreter über die in der Altonaer Altstadt lebenden Menschen und die Skizzierung der Lebensrealität in der Altstadt Altonas, die weitgehend dem Krieg zum Opfer fiel [16], könnten interessante Beiträge liefern, um die Geschichte und das Umfeld des Altonaer Blutsonntags weiter zu erhellen.
Daneben bleiben weitere Möglichkeiten der Untersuchung: Welchen Beitrag die Nazis selbst zu den Auseinandersetzungen leisteten, fragt sich auch Schirmann. Einigen Hinweisen - beispielsweise der nächtlichen Beschlagnahme von Waffen bei durchfahrender, zurückkehrender SA in Itzehoe - könnte hier durchaus nachgegangen werden. Es soll hier zum Ausdruck gebracht werden, daß Schirmanns Veröffentlichung ein wichtiger Schritt war, damit kann aber eigentlich noch lange nicht die Akte Altonaer Blutsonntag geschlossen werden.
Ein weiterer Kritikpunkt kann Schirmanns unentwegte Suche nach "Schuldigen" am Verlauf des 17. Juli 1932 sein. War es der Polizeipräsident, der sich auf Wahlkampfreise befunden und nicht einmal für kompetente Vertretung gesorgt hatte; die SPD, die zur "Deeskalierung" zu einer Kundgebung nach Itzehoe aufgerufen hatte; die KPD, die angeblich zur Verteidigung Altonas gegen die "Nazi-Mordpest" aufrief [17]; der Regierungspräsident in Schleswig, der es nicht für nötig gehalten hatte, sich über die Lage in Altona zu informieren?
Die Schuldfrage läßt sich aus rückblickender Perspektive vielleicht eingrenzen; in der damaligen Situation hätte es jedoch nahezu hellseherische Fähigkeiten erfordert, den Verlauf des Sonntags vorherzusehen und die daraus getroffenen Maßnahmen zu begründen. Vielleicht hätte ein Verbot des SA-Umzuges auch zu Gewalttätigkeiten - dann mehr zwischen SA und Polizei - geführt, vielleicht hatte Eggerstedt bereits eine Ahnung von der Gewaltbereitschaft der Polizeitruppen und zog es daher vor, sich selbst herauszuhalten. Den Spekulationen sind hier kaum Grenzen gesetzt.
Von Schirmann angesprochene Tabus in der Forschung zur Geschichte in der Weimarer Republik, des Dritten Reiches und danach könnten insoweit berechtigt sein, daß es lange Zeit bei uns schwer fiel, Kontinuitäten aufzuzeigen. Gerade der Altoner Blutsonntag kannt ein Indiz dafür sein, denn die hier weitreichendsten Untersuchungen haben (meines Erachtens) Léon Schirmann aus Frankreich und Anthony McElligott aus Schottland geführt.
Insgesamt gesehen ist Schirmanns Veröffentlichung "Altonaer Blutsonntag" ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der Geschichte der "ungeliebten" Weimarer Republik, die bald nach den Auseinandersetzungen im Sommer 1932 in den NS-Staat mündete. Auch die Fragen, die Schirmann zum Beispiel an die Kontinuität der Justiz stellt, von der Weimarer Republik über die NS-Zeit bis 1992 [18], ebenso wie mancher kritischer Hinweis an die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung der Geschichte des Altoner Blutsonntags verdienen - trotz der hier eingebrachten kritischen Anmerkungen - Anerkennung und lassen schon die Erwartung an den angekündigten zweiten Band wachsen.
1. Neben den in Léon Schirmanns Buch genannten Beiträgen auch folgende Artikel: Volker Ullrich: Krieg gegen die "Roten", in: Die Zeit, Nr. 43, 21.10.1994, Arnim Joop: Blutsonntag-Urteile noch immer rechtskräftig, in: taz Hamburg, 1.8.1993.
2. Zum Beispiel in: McElligott, Anthony: Das "Abruzzenviertel". Arbeiter in Altona 1918 - 1932, in: Herzig u.a.: Arbeiter in Hamburg, Hamburg 1983, S. 493 - 507.
3. Reinhard Barth, in Zentner, Christian und Bedürftig, Friedemann: Das große Lexikon des Dritten Reiches, München 1985, S. 23.
4. Sondergerichte sind keine Erfindung der NS-Zeit; sie ermöglichten aber mit ihrer Wiedereinführung durch Notverordnung im März 1933 die Umsetzung von Nazi-Terror in personeller Kontinuität. "Gewiß heißt es bei der Tatsachenfeststellung auch fürderhin: in dubio pro reo. Bei der Rechtsanwendung steht aber vor diesem Satz der Gedanke des Schutzes von Volk und Staat gegen den Rechtsbrecher." Crohne: Bedeutung und Aufgaben der Sondergerichte, in: Deutsche Justiz 1933, S. 385.
5. Schirmann schreibt vom 2. Juni 1933, S. 90.
6. Die Absetzung der geschäftsführenden Regierung Braun.
7. Regionale Abweichungen in der "Provinz" sind hierbei ebensowenig berücksichtigt, wie die Tatsache, daß beispielsweise in Altonas "Nobelvierteln" an der Elbe (z.B. Övelgönne 63,6%, Blankenese 54%) der Anteil der NSDAP bei der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 auch schon relativ hoch lag. (Schleswig-Holstein insgesamt: 51%, Altona insgesamt 38% NSDAP).
8. Am Sonntag zuvor, dem 10. Juli 1932, wurde bei Brunsbüttel der Kommunist Adolf Bauer von Nazis in einem Graben ertränkt. In Eckernförde überfielen Nazis am gleichen Tag eine Versammlung des SPD-nahen Landarbeiterbundes und töteten die Sozialdemokraten Johann Bues und Heinrich Junge.
9. Die Hamburger Polizei wurde hier im Sinne der Vereinbarung von 1927 tätig, so "als ob" es sich um ein gemeinsames Stadtgebiet handeln würde. Oberleutnant Kosa machte später als Anführer des Hamburger K.z.b.V. (Kommando zur besonderen Verwendung) Karriere.
10. Was Schirmann mit dem "verschollenen Polizeiarchiv" eigentlich genau meint, bleibt unklar.
11. Heute etwa Holstenstraße / W.-Möller-Park.
12. Schirmann S. 100/101.
13. Schirmann S. 142.
14. "Die deutsche Geschichtsschreibung hat sich nie mit der Frage der Fälschungen befaßt, die von verschiedensten Behörden bereits vor der NS-Machtergreifung vorgenommen worden sind. Dabei würde es schon genügen, das vorhandene Archiv sorgfältig, unvoreingenommen und ohne Tabus zu untersuchen, um solche Fälschungen zutage zu bringen." Schirmann S. 13.
15. "Für diesen Verfasser können polizeiliche bzw. behördliche Berichte in einem republikanischen Staat nur die reine Wahrheit ausdrücken. Sie dürfen weder bezweifelt noch kritisch analysiert werden". Schirmann S. 93.
16. Es gibt Spekulationen dahingehend, daß gerade die ärmeren Wohngebiete im 2. Weltkrieg verstärkt bombardiert worden waren.
17. Die Urheberschaft des Flugblattes vom 16. Juli 1932 konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden. Schirmann S. 30.
18. Interessant wäre vielleicht auch die Untersuchung der Kontinuität bei der Hamburger Polizei: Vom Altonaer Blutsonntag über die NS-Zeit zum Hamburger Kessel und zur Hafenstraße? Die Einsicht-Vermerke (lt. McElligott) in den lange Zeit unzugänglichen Quellen legen die Vermutung nahe, daß die Hamburger Polizei sich hier in den sechziger Jahren vielleicht Anleitung für "sachgerechtes" Vorgehen bei Konflikten mit der Bevölkerung holte.
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 29 (Juni 1996) S. 62-68.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 29