Fünfzig Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges erscheint mit "Kriegsende und Befreiung" der zweite Band einer Reihe, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, lokalgeschichtlich bedeutsamen Fragestellungen zum Themenkomplex der nationalsozialistischen Verfolgung nachzugehen.
In den Aufsätzen des Hauptteils werden überwiegend bislang wenig erforschte, zum Teil sehr spezielle norddeutsche Themen behandelt; so werden etwa die Vorgänge um die "Evakuierung" der Lager in Sandbostel und Bergen-Belsen beschrieben sowie die Todesmärsche infolge der Räumung der Konzentrationslager und das "Massaker von Gardelegen". Aufgezeigt wird auch die Bedeutung der bisher kaum beachteten Rolle des Schwedischen Roten Kreuzes, das dafür Sorge trug, daß aus dem "Skandinavierlager" in Neuengamme im Frühjahr 1945 dänische und norwegische Häftlinge nach Schweden transportiert werden konnten. Analysen der Situation der sogenannten "displaced persons" nach dem Krieg und das Schicksal der Überlebenden werden im Sammelband ebenso thematisiert wie der Umgang der internationalen Öffentlichkeit mit dem unfaßbaren Geschehen.
Darüberhinaus werden Aspekte spezieller Forschungsmethoden behandelt, zum Beispiel der "oral history": Ulrike Jureit beschreibt in ihrem Aufsatz "Suchen und zweifeln - Erinnerungen von weiblichen Überlebenden der Konzentrationslager" die Probleme ehemaliger KZ-Häftlinge, die sich der Frage nach den Bedingungen und Gründen ihres Überlebens stellen. Die psychischen Spätfolgen der damaligen Inhaftierung werden häufig erst dann deutlich, wenn die lang verdrängten traumatischen Erinnerungen während eines Interviews über das persönliche Schicksal zurückkehren. Diese schwierigen Momente im Gespräch sind nicht nur charakterisiert durch die Gedanken an grausamste selbst erlebte Situationen, sondern auch durch einen schwerwiegenden seelischen Konflikt: Die Furcht davor, daß das eigene Überleben in fremder Interpretation gleichsam eine fragwürdige Lebenshaltung implizieren könnte, ist verbreitet.
Die Frage "Warum gerade ich (nicht)?" bringt so die Notwendigkeit der ständigen Rechtfertigung für das Überleben mit sich. Hinzu kommt die Erinnerung an die empfundene Ohnmacht, die das Gefühl hervorruft, nicht genug geholfen und so den Tod anderer Leidensgenossen indirekt mitverschuldet zu haben. Dieser psychologische Aspekt bleibt in vielen Darstellungen, die sich mit dem Schicksal der ehemaligen KZ-Häftlinge beschäftigen, unberücksichtigt; er wird mit dem umstrittenen Fachterminus "Überlebensschuld" bezeichnet.
Thomas Rahe unterstreicht in seinem Aufsatz "Die Bedeutung der Zeitzeugenberichte für die historische Forschung zur Geschichte der Konzentrations- und Vernichtungslager" die Relevanz der Lebenserinnerungen ehemaliger Häftlinge; es ist kaum nachzuvollziehen, weshalb die etwa seit den späten 70er Jahren aufgezeichneten Interviews mit Überlebenden trotz ihres hohen statistischen Umfangs so wenig von der Geschichtswissenschaft genutzt werden. Zeitzeugenberichte ermöglichen sowohl eine wertvolle perspektivische Ergänzung der Aktenüberlieferung als auch eine Vorstellung vom Ausmaß der Schrecken der NS-Herrschaft, die durch andere Überlieferungsformen kaum vermittelt werden kann. Verdienstvoll ist die von Rahe aufgestellte Übersicht wichtiger Sammlungen von Interviews mit Verfolgten des NS-Regimes; sie erlaubt einen Einblick in den quantitativen Umfang dieser Quellengruppe.
Manfred Asendorf schildert in seinem Beitrag "Karl Kaufmann und Hamburgs langer Weg zur Kapitulation" kurz die Auswirkungen des Attentats vom 20. Juli 1944 auf Hamburg; anschließend geht er den Veränderungen in der Bewertung der Rolle des Hamburger Gauleiters nach. Kaufmann ist, entgegen der immer noch verbreiteten Meinung, nicht die kampflose Übergabe der Stadt zu verdanken, sondern er forderte vielmehr den rigorosen Kampf bis zum "Endsieg". Die Legende vom "Retter Hamburgs" dürfte, nachdem schon im letzten Jahr diverse Zeitungsartikel vorab die Ergebnisse Asendorfs präsentierten, damit endgültig zerstört sein.
In den auf den Aufsatzteil des Bandes folgenden Miszellen wird die Arbeit in speziellen Gedenkstätten unter didaktischen Gesichtspunkten analysiert, werden Methoden der "Erinnerungsarbeit" untersucht und Ergebnisse von Jugendworkcamps zu diesem Themenkomplex vorgestellt. Nach einer kurzen Präsentation aktueller Forschungsprojekte erfolgt eine Auswertung von neuesten Ausstellungsvorhaben, Tagungsberichten und Filmen, die sich mit dem Dritten Reich und seinen Auswirkungen auf Norddeutschland beschäftigen. Hervorzuheben sind schließlich die eindrucksvolle Bild- und Fotodokumentation, die kleine Auswahlbibliographie und die Rezensionen von jüngsten Publikationen aus der Forschung zum Antisemitismus, Rassismus und Nationalsozialismus.
Der Gesamteindruck des Buches ist geprägt durch die Aktualität und die Vielfalt von Einzelthemen, die doch dem Haupttitel "Kriegsende und Befreiung" zuzuordnen sind. Die Aufsätze des Hauptteils können als Ausgangspunkt angesehen werden für lokalgeschichtlich und politisch arbeitende Interessierte, denen ein hilfreicher erster Zugang zu komplexen Fragestellungen der neueren Forschung geboten wird. Die Bereitschaft des Lesers zu weiteren eigenen Nachforschungen und vertiefender Lektüre wird sicherlich geweckt, sofern dieser bereits mit der behandelten Thematik ein wenig vertraut ist und über Grundwissen vom Nationalsozialismus verfügt.
Insofern stellt die Reihe einen wertvollen Beitrag zur Untersuchung der NS-Vergangenheit in den nördlichen Bundesländern dar. Autoren unterschiedlichster Forschungsrichtungen garantieren eine analysierende Darstellung der Einzelthemen aus differierenden Perspektiven - und so vielseitig wie die behandelten Gebiete und die Autoren könnte auch die Leserschaft sein: ansprechende, mit umfangreichen Bildmaterial aufbereitete und "verständliche" Artikel machen das Buch auch für junge Leser attraktiv.
Historisch ambitionierte Leser dürfen somit gespannt sein auf den folgenden Band derselben Reihe: Schwerpunktthema darin werden die Nachkriegsprozesse gegen die Verbrechen in Konzentrationslager sein; es ist geplant, auch spezifische Aspekte der deutschen Gerichtsbarkeit zu beleuchten.
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 29 (1996) S. 69-71.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 29