Die nationalsozialistische Pädagogik ist in den letzten Jahrzehnten in zahlreichen Publikationen dargestellt worden. Auch die Ausbildung der Volksschullehrer in den Lehrerbildungsanstalten während des Zweiten Weltkrieges wurde gelegentlich untersucht. Dies gilt in sehr geringem Maße auch für die Lehrerbildungsanstalten (künftig LBA) in Schleswig-Holstein. [1]
Karl Knoop widmet in seiner Darstellung der Lehrerbildung in Schleswig-Holstein den LBA sehr viel Raum, war er doch selber Lehrer - in damaliger Terminologie "Zugführer" - in zwei dieser Anstalten, Lunden und Ratzeburg. Er lenkt den Blick nicht nur auf die organisatorische und strukturelle Außenansicht der LBA, sondern versucht auch, deren ideologische Ziele und die Mittel und Methoden zu ihrer Erreichung zu beschreiben. Doch findet sein gewiß ernsthaftes Bemühen offenbar eine Grenze in seiner eigenen damaligen Einbindung in das System der NS-Pädagogik und -Lehrerbildung. Diese Grenze tritt besonders deutlich zutage, wo er die öffentliche Aufarbeitung dieses Teiles der NS-Pädagogik beurteilt. So haftet seiner Darstellung manche Verzeichnung und erhebliche Verharmlosung an, was mich veranlaßt, Nachtragungen und Korrekturen aus meiner Sicht vorzunehmen - der eines Absolventen der LBA Lunden mit Knoop als einem der Zugführer.
Einen kurzen, summarischen Überblick über die LBA Lunden in Dithmarschen bietet auch der dortige Museumsleiter, der sich aber lediglich auf die wenigen sekundären Quellen stützen und keine hinreichenden Einblicke in das Anstaltsleben bieten kann. [2]
Im Folgenden soll versucht werden, die oben angedeuteten Lücken zu schließen. Dabei stehen leider keine Primärquellen wie Akten, Verwaltungs- oder Schulunterlagen zur Verfügung; solche fehlen sowohl in den Kieler Ministerien wie auch im Landesarchiv Schleswig. Meine Ausführungen stützen sich auf meine eigenen Erlebnisse und Erinnerungen während meiner Ausbildungszeit in Lunden zwischen 1940 und 1942, auf später von mir gemachte Aufzeichnungen und auf die im Heimatmuseum Lunden vorhandenen spärlichen Materialien. Unter ihnen werden berücksichtigt: einige Verzeichnisse von Schülern (damals "Jungmann" genannt und Lehrpersonen ("Zugführer" und "Schulführer"), mehrere "Heimatbriefe" von Jungen und später auch Mädchen der LBA an ihre im Fronteinsatz befindlichen Kameraden, ein Fotoalbum von Jungmann K. W. Zimball sowie der Bericht über ein Treffen ehemaliger Lundener im Jahre 1987.
Ich werde mich im wesentlichen auf den Versuch beschränken, gewissermaßen das Innenleben der LBA Lunden so zu beschreiben, wie ich selber es erlebt habe und wie es sich aus den angegebenen Sekundärquellen - oft freilich nur andeutungsweise - darstellt. Der historischen Forschung dürfte es nicht leichtfallen, den Schlüssel zum Verständnis dieser recht dürftigen Belege
und der oft ganz harmlos klingenden Andeutungen zu finden, und deren Interpretation seitens damals aktiv oder passiv Beteiligter erweist sich als überaus kontrovers, je nach dem, wie und ob deren persönliche Biographie nach 1945 verarbeitet wurde.
Vorausgeschickt werden soll jedoch eine kurze Einführung in die Entstehungsgeschichte der Lehrerbildungsanstalten und ihre Definition seitens der damaligen Machthaber.
Im Bewußtsein der Wichtigkeit des Volksschullehrers bei der ideologischen Formierung der Jugend des Volkes suchte die nationalsozialistische Führung - und hier besonders Hitler persönlich - nach der in diesem Sinne bestmöglichen Form der Volksschullehrer-Ausbildung. Dieses Bestreben führte zunächst zum Verzicht auf das Abitur als Voraussetzung, dann auch zur Abkehr von der akademischen Ausbildung überhaupt mit deren als unerwünscht und gefährlich geltenden Aktivierung der individuellen, intellektuellen und kritischen Fähigkeit und Orientierung in der überdies beargwöhnten städtischen oder gar großstädtischen Umwelt der Universitäten. Man ging den Weg zurück in die Tradition seminaristischer Gemeinschaftserziehung in kleinstädtischer oder auch ländlicher Umgebung. Dies geschah in zwei Schritten:
1. Mit Anordnung vom 18. Februar 1939 wurden "Aufbaulehrgänge zur Vorbereitung auf den Besuch der Hochschule für Lehrerbildung" eingerichtet. In deren Rahmen sollten Volksschulabgänger in einem fünfjährigen, Mittelschulabsolventen in einem dreijährigen Kursus auf die Erste Prüfung für das
Lehramt an Volksschulen vorbereitet werden. Daß die Ausbildung von Jungen und Mädchen getrennt wurde, entsprach dem nationalsozialistischen Menschenbild, das die "eigentliche Wesensart von Mann und Frau [...] in ihrer letzten Steigerung im symbolischen Bild des Soldaten und der Mutter" erblickte. [3]
2. Mit einem Erlaß Hitlers vom 8. Februar 1941 wurden diese Staatlichen Aufbaulehrgänge in "Lehrerbildungsanstalten" umgewandelt. Damit wurde auch auf eine anschließende Hochschulbildung vollkommen verzichtet und die gesamte Ausbildung ausschließlich in die Form intensivsten Gemeinschaftslebens gebunden.
Es ist durchaus berechtigt, die "Bildung" in der LBA als eine Art Gehirnwäsche zu bezeichnen. Wir haben es zu tun mit jungen Menschen in einem Alter, das von pubertärer Unsicherheit geprägt war, in dem sie auf der Suche nach ihrem Weg waren und auf dem sie für die verschiedensten Einflüsse und Entwicklungen offen waren. Das Milieu, dem sie entstammten - Elternhaus, Hitler-Jugend, Schule - war einer selbstbestimmten, souveränen Entscheidungsfreiheit wenig förderlich. Die überkommenen Werte verlangten von ihnen eher Anpassung und Gehorsam. Leitbilder für einen unabhängigen, kritischen Persönlichkeitsaufbau fehlten in ihrem Erfahrungsbereich und in den ihnen damals sehr spärlich zugänglichen Medien in aller Regel.
Eine solche Disposition bei den "Jungmannen", wie sich die Schüler der LBA nannten, war der ideologischen Beeinflussung und Überwältigung günstig. Man mag sich fragen, ob diese Jungen - als Volksschulabgänger fast noch Kinder - und insbesondere ihre Eltern wußten, auf was sie sich einließen. Schon die von der Regierung vorgeschriebene Auswahl der Schüler durch Schule, Schulverwaltung und HJ-Führung ließ die Zielsetzung der LBA deutlich erkennen. Zu den unbedingten Auswahlkriterien gehörte der Nachweis einer engagierten Mitgliedschaft in der HJ. Jeder Anwärter mußte sich einer Erprobung in einem bis zu zehn Tage dauernden "Musterungslager" unterziehen. (Der Anklang an die militärische "Musterung" war sicher nicht zufällig!). In den dort veranstalteten Leistungs- und Bewährungsproben sollten die Bewerber beweisen, daß sie hinreichende Voraussetzungen mitbrachten und die körperliche, charakterliche und geistige - in dieser Reihenfolge! - Eignung besaßen für das Gemeinschaftsleben in der LBA und später als nationalsozialistische Volksbildner.
Schon auf diesen Lehrgängen wurden die Prioritäten deutlich gesetzt: sportlicher Leistungswille, kämpferische Einstellung z.B. im Boxring, Mut gegenüber Schreck-Einlagen bei nächtlichen Übungen im Wald, sicheres, "zackiges" Auftreten beim Exerzieren und Kommandieren, "Haltung" bei allen Formen der Fremdbestimmung, Ordnung und Sauberkeit in Körper- und Kleiderpflege und beim täglichen "Betten-Bauen", unbedingte und rasche Ausführung der Befehle, daneben eine gewisse Fertigkeit im Diktat- und Aufsatzschreiben, in freier Rede und bildlicher Darstellung.
Das Musterungslager sollte den Teilnehmern einen Vorgeschmack geben auf die Art ihrer künftigen Ausbildung. Wenn die Berufsentscheidung bei sehr vielen Eltern auch bedingt gewesen sein
mag durch die kostenlose Ausbildung zum Lehrer und die Erwartung eines mit diesem Beruf verbundenen gesellschaftlichen Aufstiegs - die ideologischen Voraussetzungen mußten ebenso gegeben sein, wie die Zustimmung zur Vorherrschaft der NS-Ideologie bei der künftigen mehrjährigen Lagerausbildung ihrer Kinder. Die Antwort dieser jungen Menschen und ihrer Eltern auf das Musterungslager mußte ein eindeutiges Ja zu der Maxime des damals sehr einflußreichen Pädagogen Alfred Bäumler sein: "Ausgangspunkt der neuen Lehrerbildung ist das Lager." [4]
Knoop und manchem "Ehemaligen" - später fast alle als Schulleiter tätig - mag dieser Sachverhalt und das sich darin ausdrückende Maß der inneren Übereinstimmung dieser Jungen in der Rückschau nicht mehr erinnerlich sein oder schlicht störend erscheinen, obwohl dessen Eingeständnis doch nicht ehrenrührig, sondern für die nachträgliche Aufarbeitung nur förderlich sein kann. Es gehört zu dem Bild, "wie es wirklich war" und nicht "wie wir möchten, daß es gewesen sein soll". [5]
Ich selber habe das Musterungslager im Frühjahr 1940 in Lunden absolviert, um bald danach als Mittelschulabgänger in den dortigen Staatlichen Aufbaulehrgang - 1941 als LBA weitergeführt - einzurücken. Damit begann ein total uniformiertes Leben, und das in einem doppelten Sinn. Die Zivilbekleidung wurde verbannt; wir trugen HJ-Uniform, jedoch im Sommerhalbjahr - abweichend von der gewöhnlichen HJ - Hose und Jacke aus grauem Drillich, worin sich gewiß eine Annäherung an die militärische Uniform ausdrücken sollte. Empfunden und erlebt wurde diese Abweichung vom HJ-Üblichen als
Ausdruck unserer elitären Berufung zu besonders entscheidenden Trägern der NS-Weltanschauung.
Der Leiter der Anstalt, Studienassessor Hans Hartz, nannte sich "Schulführer", die ihm unterstellten Lehrkräfte hießen "Zugführer". Auch sie traten nur in Uniform auf, und zwar in der speziellen Uniform höherer HJ-Ränge. Nur Zugführer Knoop erschien bisweilen einmal in der schwarzen SS-Uniform.
Die Ausbildungseinheiten der Jungmannen wurden in "Züge" gegliedert. Für die weitere Untergliederung in je drei Kameradschaften wurde vom Schulführer je ein Scharführer bestimmt. Das gesamte Gemeinschaftsleben nahm den Charakter von "Dienst" bzw. von "Lager" an als der der nationalsozialistischen Weltanschauung angemessenen Lebensform. Damit war eine weitestgehende Prägung und Uniformierung im gewünschten Sinne garantiert. Es gab kaum einen Bereich, der nicht reglementiert war: vom morgendlichen Wecken mit Frühsport, Waschen, Betten-Bauen und Stubenappell bis zur Flaggenparade, danach Einrücken in den Speisesaal zum Frühstück, abends wieder Flaggenparade und abschließender Stubenappell durch den diensthabenden Zugführer und den "Jungmann vom Dienst" - mit deutlicher Anlehnung an das Kasernenhofleben.
Neben dem Lagerleben kam der Marschkolonne als zweiter typischer Organisationsform eine prägende Funktion zu. Man ging oder begab sich nicht einfach zu den Stationen des Tagesablaufes, man "trat an" und marschierte exerziermäßig, wohin auch immer: in den Speisesaal, in den Unterrichtsraum, auf den Sportplatz, zur Nachtruhe, ja sogar zum Tanzunterricht. Lager und
Marschkolonne wirkten als wahre Lebens-"Formen"; sie ergriffen und formten uns junge Menschen nachhaltig, wobei sich wiederum Bäumlers Grundgedanke über die neue Lehrerbildung bewährte, daß nämlich "der Schüler im Anstaltslager nicht nur 'lernt', sondern unmerklich zugleich ergriffen wird von dem, was ihn verwandelt" [6] - eine Kurzfassung für das, was man durchaus auch als Gehirnwäsche bezeichnen könnte. Die äußere Uniformierung diente dazu, die innere Formierung der Jungmannen zum Bild des NS-Lehrers zu gewährleisten. Diese vollzog sich dann wesentlich im Umgang mit den Führern, dem Unterricht und der Gestaltung des Gemeinschaftslebens.
Die in Lunden eingesetzten Lehrkräfte sollen nun kurz vorgestellt werden. Schulführer Hans Hartz, geboren 1905 in Blankenese, war als Assessor an deutschen Schulen in Hadersleben tätig gewesen, bevor er 1939 seinen Dienst in Lunden antrat. Offenbar hatte ihn die "Grenzlandsituation" in Nordschleswig herausgefordert. Er war naturwissenschaftlich orientiert und spielte sehr gut Geige. Mit seiner Frau und vier Kindern bewohnte er einen Trakt im Erdgeschoß des Schulgebäudes. Der hagere, blaubärtige Mann erschien stets überaus korrekt gekleidet. Sein in allen Situationen gezeigtes militärisch-straffes Auftreten sollte uns als Vorbild dienen. Kurz, hart, scharf waren seine Artikulationen gegenüber den Schülern. Unerbittlich verlangte er von uns "Haltung", ob in befehlender oder gehorchender Rolle. Das schlimmste Verdikt, mit dem er jemanden belegte, lautete: "Du Zivilist!" - ein solcher war für ihn der Inbegriff des Verachtenswerten. Alles Weiche, Barmherzige gehörte seiner Meinung nach ausgebrannt, damit in uns der rücksichtslose Herrenmensch herausmodelliert werden konnte - das Idealbild des politischen Soldaten, der aus unerschütterlicher Überzeugung und persönlichem Antrieb handelt. Wer diesem Bild entsprach oder sich doch hart genug darum bemühte, wurde mit einem Lächeln und mit Humor belohnt.
Dasselbe Ziel verfolgte auch der 1911 in Kiel geborene Zugführer Knoop, jedoch auf andere Weise. Eine schwere Handverletzung machte ihn für den Wehrdienst untauglich. Als junger Lehrer war er 1934 der SS beigetreten und hatte dort zuletzt den Dienstgrad eines Unterscharführers inne. Seine von ihm
selbst gerne zitierte Verankerung in Himmlers schwarzem Orden, sein philosophischer Habitus und sein ruhiges, überlegtes Auftreten empfanden wir als wohltuende Ergänzung zur Person des Schulführers, dem wir den Namen "Atli" beilegten. Mit seiner besonderen Art fand er wie kein anderer im Lehrkörper den intensivsten Zugang zu uns und unsere besonders willige Zuneigung zu ihm, aber auch zu seiner politischen "Botschaft". Die SS-Ideologie schien sein sicherer innerer Besitz, und er strahlte sie ungemein wirkungsvoll auf uns aus. Er bezog und vervollkommnete sie laufend aus den periodischen Publikationen der SS und deren Schrifttum.
Andere Zugführer mühten sich zwar, den Aufgaben, auf die sie zuvor in besonderen "Ausrichtungslehrgängen" vorbereitet worden waren, gerecht zu werden; sie waren aber wohl zu sehr Volksschullehrer alten Zuschnitts geblieben, um eine ähnliche Ausstrahlung auf uns auszuüben wie Hartz und Knoop. Der aus Berlin stammende Zugführer für Sport, Georg Würrighausen, wirkte eher unglücklich in seiner stets ein wenig schlecht sitzenden Uniform und schien überhaupt an der LBA fehl am Platze zu sein. Er [wurde 1944 von der SS ermordet].
Allgemein tendierten die zwischenmenschlichen Beziehungen zu einer Entpersönlichung, darin einem Kloster nach der Benediktinerregel nicht unähnlich. Nicht Freundschaft oder gar noch so keusche Intimität waren vorgesehen. sondern der "harte Klang" der Kameradschaft. Die Bezugspersonen waren nicht Erzieher oder väterliche Freunde, sondern Führer. [7]
Dennoch kam es in Einzelfällen zum vorsichtigen Eingehen einer engeren Freundschaft. Ich selber pflegte eine solche zu einem Jungmann aus dem Lande Wursten. Der nicht ganz ausgelöschte Antrieb zum eigenen Forschen, Denken und Urteilen führte uns zu einer gemeinsamen intensiven Beschäftigung mit philosophischen und psychologischen Problemen, wozu wir uns in der örtlichen bescheidenen Buchhandlung von unserem geringen Taschengeld teure Bücher bestellten (z. B. Jentsch, Der Gegentypus). Nie aber überschritten wir dabei die uns gezogene und in uns verfestigte ideologische Grenze.
Ein zweiter "Bildungs"-Faktor war der Unterricht. Die von den Jungmannen mitgebrachten schulischen Voraussetzungen waren, trotz formal gleicher Abschlüsse, sehr unterschiedlich im Niveau. Darauf aufzubauen, wäre auch unter normalen Umständen nicht leicht gewesen. Die Ausstattung an Lehrmitteln war besonders in den naturwissenschaftlichen Fächern außerordentlich dürftig; vieles fehlte völlig. Mathematik
wurde zeitweilig von einem in diesem Fach besonders begabten Schüler unterrichtet. Fremdsprachenunterricht gab es nicht regelmäßig. Deutsch, Geschichte und Erdkunde wurden höchst dilettantisch vermittelt und - wie es an dieser Anstalt nahelag - ideologisch stark befrachtet. Zudem gab es kaum Anstöße zu selbständiger, kritischer Vertiefung und Auseinandersetzung. Die kümmerlich ausgestattete Bücherei enthielt nur solche Literatur, die das Ausbildungsziel der LBA unterstützte: völkische und nationalistische Belletristik und entsprechende Literatur zu Politik, Geschichte, "Rassenkunde" usw. Unter den in Lunden obwaltenden Verhältnissen war die Erreichung der Hochschulreife oder des Abiturniveaus so gut wie ausgeschlossen.
Die bei Knoop angegebene Monats-Stundentafel zeigt überdies die Gewichtung der Fächer: Leibeserziehung 21, Deutsch 16, Geschichte 11, Biologie 8, Erdkunde 8, Musikerziehung 10, Instrumentalmusik 8, Kunsterziehung 10, Werkerziehung 8, Hauswerken 5, Chemie 4, Physik 8, Mathematik 12, Fremdsprachen 11, Grundfragen der Erziehung 8, Pädagogik der Fächer 7, Schulpraxis 13 Stunden. [8]
Die hier angegebenen Stundenzahlen wurden auch nicht annähernd erreicht (Musik, Kunst, Schulpraxis), einzelne Fächer fielen ganz aus (Werken). Vor allem die auf die eigentliche Berufsausbildung bezogenen Fächer wurden völlig unzureichend berücksichtigt, die Geschichte der Pädagogik nur kursorisch geboten. NS-Pädagogen wie Ernst Krieck gaben der Unterrichtslehre die Richtung vor. Alle Möglichkeiten wurden ausgeschöpft, um in den Unterrichtsfächern zur "Stärkung des Deutschbewußtseins, der politischen Willensbildung und weltanschaulichen Vertiefung" beizutragen. [9] In einem vorrangig der Politik gewidmeten Unterricht, aber auch in abendlichen Veranstaltungen wurde besonders durch Hartz die politische Indoktrination vertieft.
In diesem Kräftefeld wurde unserem Bewußtsein und unserem Willen ein denkbar klarer Begriff vom Wesen und von den Zielen des Nationalsozialismus vermittelt. Wir wurden in eine innere Bereitschaft versetzt, die uns zu überzeugten und engagierten Werkzeugen des Nationalsozialismus machte - bereit, die am Sozialdarwinismus orientierten Ziele und Methoden mit allen Kräften durchzusetzen. Dazu gehörte ausdrücklich die ohnehin schon mitgebrachte Verachtung alles Schwachen, der Haß gegen alles Nichtangepaßte, insbesondere gegen Juden und Kommunisten, was immer man unter letzteren subsumieren mochte. Insbesondere Knoop ließ keinen Zweifel am Vorhandensein von Konzentrationslagern und den in ihnen praktizierten Methoden.
In der Fotosammlung "Zimball" finden sich Bilder von einem der Schlafsäle der LBA: viele Betten eng nebeneinander gestellt, dazu der vielsagende Titel: "Schlafzimmer 'Massengrab'." Ohne Zweifel wurde diese Bezeichnung als sehr lustig empfunden. Aber woher hatten diese jungen Menschen die entsprechende Vergleichsmöglichkeit? Ein kleines Indiz nur, gewiß, das aber tiefere Einblicke eröffnet.
Das Dorf Lunden bot deutliche Anschauungsgelegenheit, die unsere rassistische Vorstellungswelt untermauerte. Für den Typ des nordisch-deutschen Menschen standen die Gräber auf dem Lundener Geschlechterfriedhof. Hier hatten alteingesessene und vermögende Bauernfamilien der Marsch ihren Toten in Renaissance- und Barockmanier gestaltete große Grabplatten gesetzt als Ausdruck ihres stolzen, ja herrschaftlichen Selbstbewußtseins. Dieser Geschlechterfriedhof regte uns an, jene Welt stolzer Bauernherrschaft - sie gewissermaßen "mit der Seele suchend" - als uns jungen Nationalsozialisten kongenial zu verinnerlichen.
Auf der anderen Seite, wo das Dorf in die Dünen- und Heidelandschaft übergeht, hatten sich in zahlreichen kleinen strohgedeckten Katen "einfache Leute" angesiedelt. Dieser deutlich vom Dorf abgesetzte Ortsteil galt in Lunden und in der LBA als ausgemachtes Kommunistennest, man hielt ihre Bewohner pauschal für asozial bis kriminell. (Es kursierte der Spruch: "In Lunn' gifft dat mehr Spitzboven as Hunn'."). Ihr äußeres Erscheinungsbild bestätigte unser rassistisches Vorurteil, hier dem "Gegentyp" zum deutschen Herrenmenschen zu begegnen. Das Betreten dieser Gegend faszinierte einerseits durch sein überaus malerisches Ensemble aus Dünen, Heide, Kiefern und Katen, verursachte aber auch ein gewisses Schaudern ob der eingebildeten "Unterwelt".
Die Leibeserziehung beanspruchte nicht nur die mit Abstand größte Stundenzahl, ihr wurde auch im Gesamtgefüge der Ausbildung eine besonders hohe Priorität eingeräumt. Neben fast allen Disziplinen der Leichtathletik und des Geräteturnens wurde dem Boxen als Mittel der Charakterbildung besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Schulführer Hartz liebte es, den Kämpfen zuzuschauen, wobei er mit verächtlichen Mißbilligungen nicht sparte, wenn er zu defensives Verhalten oder mangelnden Kampfgeist feststellen zu können glaubte.
Es muß nicht verwundern, daß in der Turnhalle auch Tanzunterricht erteilt wurde, wozu die BDM-Mädel aus Lunden als Tanzpartnerinnen eingeladen wurden. Tanzen galt als halbwegs sportliche Betätigung und verhalf den Jungmannen zur Aneignung entsprechender Umgangsformen mit dem anderen Geschlecht. Erotische Beziehungen, die naheliegenderweise daraus hätten hervorgehen können, waren nicht vorgesehen und nur unter Bruch der strengen Lagerordnung und des Zapfenstreiches möglich.
Neben Sport im engeren Sinne wurden an den Nachmittagen sehr ausgiebig vormilitärische und Geländeübungen, Kleinkaliber-Schießen und "Ordnungsübungen", d. h. Exerzieren nach Kasernenhof-Art veranstaltet. Dieser hohe Zeitaufwand ging unweigerlich zu Lasten der eigentlichen schulischen und beruflichen Ausbildung.
Schließlich lassen sich verschiedene Bereiche des Gemeinschaftslebens zu einem dritten Komplex weltanschaulicher Uniformierung zusammenfassen. Dazu gehörten rituelle Veranstaltungen wie der tägliche Marsch zur Flaggenparade, d.h. Flaggenhissen am Morgen und Flaggeneinholung am Abend, jeweils mit Meldung an den diensthaben-
den Zugführer und Rezitation eines Fahnenspruches. Auch das Mittagessen wurde mit einem "markigen" Tischspruch eröffnet, den wechselweise ein Jungmann auszuwählen hatte.
Im Rahmen des Musikunterrichtes und der darüber hinausgehenden musikalischen Betätigung wurde das Chorsingen gepflegt. Wie auch in der HJ üblich, wurden Lieder und Chorsätze so ausgewählt, daß eine Ausgewogenheit entstand zwischen stimmungsvollem, romantischen Liedgut deutscher Tradition und den aggressiven Kampf-, Marsch- und Fahnenliedern. Dabei wurde großer Wert darauf gelegt, daß deren suggestive, alles Denken überwältigende und mitreißende Melodie und Rhythmik herausgearbeitet wurde. Hartz drang dabei auf unerbittliche Härte und Schärfe des Ausdrucks.
Symptomatisch für die hier skizzierte Koppelung von Militanz und Sentimentalität war der in Kreisen der Ehemaligen (und auch bei Knoop) fortlebende legendäre Marsch nach Heide. Dabei wurde ein Gepäckmarsch zum Erwerb des Sportabzeichens mit dem Besuch eines Konzertes in Heide verbunden. 30 Jungmannen schulterten den vorschriftsmäßig gepackten, zehn Kilo schweren Tornister und brachen in Marschkolonne in Richtung Heide auf. Zehn Kilometer war gefordert, die Strecke beträgt jedoch 17 Kilometer.
Vor dem Konzertsaal wurden die Tornister abgelegt und wie nach der Schnur ausgerichtet. In militärischer Formation rückte der Zug auf das Kommando "Reihe rechts, ohne Tritt marsch!" zur Verblüffung des Publikums in den Konzertsaal ein. Nach Anhörung eines Violinkonzertes von Beethoven, vorgetragen vom Reichssinfonie-Orchester mit Siegfried Borries als Solist, wurden die Tornister wieder geschultert, und die Jungmannen traten den langen Rückmarsch nach Lunden an.
Diese beiden äußersten emotionalen Gegensätze kennzeichneten auch die Begegnung mit den übrigen Phänomenen der Kunst und Kultur: Romantik
und kalte Monumentalität. Auch hierdurch wurde am Grundmuster einer nationalsozialistischen Persönlichkeit gearbeitet, in welcher Sentimentalität und Brutalität zu einer Symbiose finden sollten, die es im äußersten Fall möglich macht, "anständig zu bleiben", auch "wenn 100 Leichen daliegen, wenn 500 daliegen, oder wenn 1000 daliegen, dies durchgehalten zu haben...", wie Himmler es am 1. April 1943 vor SS-Obergruppenführern auf den Punkt brachte. [10]
Es dürfte von Interesse sein, wie diese extremen Verhältnisse sich in der Rückschau Beteiligter nach dem Ende des Dritten Reiches widerspiegeln. Besondere Bedeutung kommt dabei dem zitierten Buch von Karl Knoop zu. Es kann nicht Vergeßlichkeit sein, sondern setzt einen willentlichen Verdrängungsprozeß voraus, wenn er feststellt, "daß den einzelnen Pädagogen für ihre pädagogische Arbeit durchaus ein genügender Freiraum gelassen wurde, der sie von der politischen Doktrin befreite." [11] Bezüglich der Pädagogik, dem Ziel und Weg der nationalsozialistischen Menschenformung gab es in Lunden nach meiner Erfahrung keinerlei Freiraum; dafür sorgten auch Auswahl und Vorbereitung des Lehrkörpers.
Auch in einem weiteren Zusammenhang stellt Knoop die Tatsachen auf den Kopf, indem er behauptet, die vorgeschriebenen Formen des NS-Zeremoniells seien "ein äußeres Gebahren gewesen, das mehr oder minder intensiv erlebt oder erduldet wurde." In Wirklichkeit wurden diese Zeremonien - Marschieren, Flaggenparaden, Meldungen usw. - mit ähnlicher Intensität und als Ausdruck totaler innerer Identifikation erlebt, wie das etwa bei Mönchen in einem Benediktinerkloster der
Fall ist - der Vergleich sei abermals gestattet. Und dies gilt nicht nur für die Jungmannen einer Elite aus der Hitler-Jugend, sondern ebenso für die Führer, insbesondere den Schulführer Hartz und den Zugführer Knoop, ausgenommen allenfalls den erwähnten Zugführer Würrighausen.
Die LBA-Erziehung trug die erwarteten Früchte, als der erste Lehrgang 1939 - 1941 zum Kriegsdienst einrückte. Dies geschah mit großer Begeisterung. Auf dem Foto eines Jungmannen dieses Lehrgangs vom März 1943 findet sich ein nach 1945 gemachter Vermerk, mit offensichtlichem Stolz und Trotz formuliert: "Von Lunden kamen alle zur Leibstandarte Adolf Hitler. Die Waffen-SS waren [!] keine Verbrecher." Richtig ist, daß nur ein Teil dieser Jungmannen sich zur Leibstandarte SS Adolf Hitler gemeldet hat.
Als im Sommer 1941 der Krieg gegen die Sowjetunion entfesselt wurde, erfüllte die meisten von uns Traurigkeit, Ungeduld und Zorn darüber, daß wir in dieses Geschehen noch nicht eingreifen durften, weil Schulführer Hartz uns die sofortige Freiwilligen-Meldung untersagte. Im Februar 1942 schlug dann doch unsere Stunde. Die Ausbildung wurde nach zwei Jahren für abgeschlossen erklärt. Unter Umgehung des Schulführers sorgten wir dafür, daß ein Musterungskommando der Waffen-SS in Lunden erschien, um die Meldung einer großen Anzahl Jungmannen zur Waffen-SS entgegenzunehmen und deren Tauglichkeit für diese Elitetruppe zu prüfen. So gelangte der größere Teil unseres Zuges in die Waffen-SS. (Ich selber wurde zurückgewiesen, weil mir an der geforderten Mindest-Körpergröße ein Zentimeter fehlte.) Einige wurden auch in die Leibstandarte aufgenommen.
Aus bruchstückhaften Unterlagen des Jahres 1943 im Lundener Heimatmuseum ergibt sich für die bis dahin noch von der Anstalt erfaßten Jungmannen das folgende Zahlenverhältnis bezüglich ihrer Verwendung im Kriegsdienst: SS 33, Wehrmacht 26, unbestimmt 3. Festzuhalten ist: Jungmannen der LBA wurden nur freiwillig zur Waffen-SS gezogen. Dessen ungeachtet versicherten sich die Teilnehmer an einem Treffen ehemaliger Lundener der Jahrgänge 1939 - 1943 am 4. April 1987: "Schon im letzten Ausbildungssemester wurden sie von Anwerbern gedrängt, in die SS-Waffengattungen einzutreten [...] Die meisten fanden sich in der SS wieder [...] Nur wenige gingen freiwillig, die meisten fühlten sich genötigt oder gar gezwungen. Aber schließlich war man dem Führer Dank für die Lehrerausbildung schuldig und gehorchte." [12]
Was hier "Nötigung oder gar Zwang" genannt wird, tat seine Wirkung also nur bei solchen Jungmannen, die dem Führer auf ganz besonders nachdrückliche Weise Dank abstatten wollten. Die Anhänglichkeit an Hitler und seine Ideologie darf zwar bei so gut wie allen vorausgesetzt werden; viele aber glaubten, sich auch in den Waffengattungen der Wehrmacht hinreichend dankbar zu erweisen.
Wenige Zeilen später wird der Ursprung dieser Tatsachenverdrehung erkennbar: "Nach dem Zusammenbruch und im ersten Wiederaufbau wurden viele LBA-Schüler auf Grund ihrer erzwungenen SS-Zugehörigkeit jahrelang mit Berufsverbot belegt." Es lag also im Interesse einer schnellen Übernahme in den Schuldienst, sich als Opfer von "Nötigung" und "Zwang" darzustellen.
Hinter dieser Weißwäsche der Ehemaligen schien aber doch der Stolz von Elitekämpfern durch, wenn sie sich in ihrem Vorzug sonnten, "sportlich, militärisch und die Härte betreffend hervorragend vorgebildet" zu sein (in der LBA!). Und trotz der angeblichen Nötigung in die Waffen-SS "fühlte man sich bei der Truppe wohl, die Moral, der Kampfgeist, die Kameradschaft waren, solange man noch Hoffnung auf einen Frieden hatte, ungebrochen [...] man wurde hochdekoriert" (mit Orden).
Die wirkliche Befindlichkeit der Jungmannen findet in Berichten Ausdruck, die ein Zug von Volksschulabgängern der LBA Lunden, inzwischen nach Burg in Dithmarschen verlegt, an ihre im Fronteinsatz befindlichen Kameraden richteten.
Vom Dezember 1944 datiert ein Bericht über einen Einsatz zu Schanzarbeiten am "Friesenwall" bei Viöl. (Bei dem Friesenwall handelte es sich um die Errichtung einer hauptsächlich aus Panzergräben bestehenden Verteidigungsanlage entlang der gesamten deutschen Nordseeküste.) [13] Der junge Schreiber schwärmte: "Kurz nach den Sommerferien erhielten die letzten Kameraden des Jahrgangs 1927 ihre Einberufung zum RAD [Reichsarbeitsdienst]. Welche Stimmung bei denen herrschte, ist gar nicht zu beschreiben. Endlich war die Reihe auch an sie gekommen. Und doch: Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Es rief ein anderer, höherer Einsatz. Es galt nun die Reichsverteidigung" - eben mit der Arbeit am "Frie-
senwall". Nach der Rückkehr aus Viöl hieß es: "Sehnsüchtig warten wir, der kleine Haufe, auf unsere Einberufung. Ihr könnt es uns nachfühlen, wie sehr wir darauf brennen. Ihr habt es ja alle selbst einmal durchgemacht, und vielleicht führt uns das Schicksal noch irgendwo draußen im Kampf zusammen."
Ähnlich der Zugführer N. David in einem "Heimatbrief" vom 5. April 1944 an die jungen Frontkämpfer: "In aller Stille vollzieht sich wohl eine neue Kräftekonzentration. Liebe Kameraden, Ihr werdet gewiß bald in der letzten und größten Auseinandersetzung mit unserem Gegner stehen. Diese Stunde habt Ihr Euch herbeigesehnt! Das Ergebnis wird Euer Sieg sein."
Alle diese Äußerungen deuten auf kein "bloßes Gebahren" hin. Sie sind Zeugnisse für das, was diese Jungmannen wirklich beseelte. Knoop bringt es anscheinend nicht über sich, zu dem zu stehen, was ihn selber in die SS führte und was er mit besonderer Überzeugungskraft auf die vielen jungen Menschen in seiner Obhut übertrug. Seine Abhandlung über die NS-Lehrerbildungsanstalt gipfelt in Verharmlosungsversuchen, wobei er sich auf so angesehene Zeitzeugen stützt wie Rolf Hochhuth, Luise Rinser oder James Krüss und deren gelegentliche Äußerungen, die freilich aus ihrem Zusammenhang gelöst werden zur Entlastung der LBA. Deutlich ist diesen Versuchen anzumerken, wie sehr sich der Autor getroffen fühlt, wenn er gegen die in den sechziger Jahren einsetzenden Bemühungen um eine ehrliche und öffentliche Aufarbeitung der NS-Lehrerbildung und -pädagogik polemisiert. Besonders durch die nachdrücklichen parlamentarischen Bemühungen des SPD-Politikers Jochen Steffen fühlte er sich verunsichert.
Auch unter den 1987 versammelten Ehemaligen in Lunden regte sich Empörung über die wenn auch schwachen Versuche nach 1945, ein Weitertragen jener NS-Pädagogik zu verhindern. Man klagte: "Besonders schlimm verhielt sich die rote Kultusministerin Feuerstein in Niedersachsen. Nur unter Fürsprache (!) und großen Anstrengungen gelangte man hier in den Schuldienst", erkannte hingegen dankbar an: "In Schleswig-Holstein war man einsichtiger mit dieser doppelt und dreifach geschlagenen Jugend verfahren." (Dazu dienten seit Mai 1946 "Anschlußkurse" von zweijähriger Dauer für Männer in Burg, für Frauen in Ahrensbök.) Der hier angeschlagene weinerliche Ton dieser zuvor so überlegen aufgetretenen Menschen in inzwischen fortgeschrittenem Alter gibt die Gemütslage eines sehr großen Teiles der Bevölkerung wieder, der das Jahr 1945 als gedemütigtes Herrenvolk erlebte. Daß diese Menschen als hochmotivierte Träger der NS-Ideologie andere Völker "geschlagen" hatten, ging unter in verletzter Selbstgerechtigkeit.
Die Klage manch demokratischer Politiker wie Jochen Steffen, daß die Aufarbeitung und damit innere Überwindung des Nationalsozialismus insgesamt - in diesem Falle auch der NS-Pädagogik - nach 1945 generell unterblieb und weder in Lehrerkreisen noch an der Kieler Universität betrieben wurde, sie wurde zu Recht erhoben. So konnte das Erbe, wie es bei Knoop und den Ehemaligen der LBA an die Oberfläche drang, in großen Teilen der Volksschul-Lehrerschaft im Verborgenen weiterwirken. Wo ein Unheil wie dieses nicht
ins Licht des Bewußtseins tritt, wo keine Selbstkritik zugelassen wird, bleibt es virulent.
Ganz ohne Zweifel gibt es Absolventen der LBA, die das schwierige Werk einer inneren Umkehr vollbracht haben und ihren Bildungsauftrag entsprechend dem Grundgesetz hervorragend erfüllt haben. Wo jedoch einer solchen bewußten Reinigung ausgewichen wurde, ist ein überzeugendes Engagement im Sinne einer humanen und demokratischen Pädagogik kaum zu erwarten. Im Blick auf diesen Zusammenhang wird es leichter verständlich, weshalb es den meisten Lehrern über Jahrzehnte gelang, den Nationalsozialismus aus dem Schulunterricht fernzuhalten bzw. jene für die Lehrer prägenden Jahre zu umgehen. Wobei zu bedenken ist, daß fast alle LBA-Absolventen im Laufe der Zeit zu Schulleitern aufgestiegen sind. Zu Recht wurde deren Versäumnis mit den bis heute erkennbaren Folgen beklagt.
Nach Abschluß des Manuskriptes gelangte ein ungedruckter und undatierter, 208 Seiten starker Text von Knoop in meine Hand: "Fünfzig Jahre im Dienste von Schule, Schulverwaltung und Lehrerbildung", verteilt an ehemalige Absolventen der LBA. Dieser Rechenschaftsbericht ermöglicht einen vorzüglichen Einblick in den Werdegang des Kieler Arbeiterjungen bis zum einflußreichen Abteilungsleiter im Kieler Kultusministerium und zum Professor an der dortigen Pädagogischen Hochschule. Man ersieht die ihn prägenden Einflüsse, beispielsweise durch seine Lehrer am Hebbel-Gymnasium: Sie "liebten die Weimarer Republik nicht; sie waren für Schwarz-Weiß-Rot und erzählten gerne ihre Kriegserlebnisse". [14]
Seine enge Beziehung als Doktorand zu Peter Petersen in Jena machten ihn nicht immun gegen die NS-Ideologie. 1945 wurde Knoop aus dem Schuldienst entfernt und für 1 1/2 Jahre in Neuengamme interniert. Dort konnte sich unter seiner aktiven Beteiligung eine "Erziehungswissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft" bilden, in der man sich fragte, warum die "humanistische Welt" nicht imstande gwesen sei, "einen Damm gegen die bestialische Welt des NS zu bilden". [15]
Knoop gelang es, diese "Bestialität" an den Rand zu verdrängen, von dem man sich leicht distanzieren konnte. Aber es zeigte sich, "daß der Mensch in zwei Welten leben kann, von der die eine das Zentrum und die andere die Peripherie darstellt. Im Kern bleibt man sich dann treu, in der den Kern umgebenden Schale wird man wohl als Opportunist erscheinen". [16] Oder anders ausgedrückt: "Wie weit und wie tief war die Prägung in den 12 Jahren des NS-Regimes gegangen, was konnte als echt behalten, was konnte ohne Hemmungen als Lack abgekratzt werden?" [17] Der Leser des Bandes hat das Gefühl, daß bei Knoop im Zentrum, nach "Abkratzen des Lackes" als Kern jenes "Echte" geblieben ist, welches das Aufkommen der "Bestialität" ermöglicht hatte.
So wird seine heftige und verständnislose Polemik gegen die Versuche einer "Umerziehung" nachvollziehbar. Er berichtet: "Der Ratschlag eines englischen Geschichtsprofessors, in einem
Vortrag beschwörend erteilt, von der Linie Luther-Bismarck-Hitler abzugehen und auf die Ahnenreihe Humboldt-Goethe-Beethoven umzudenken begegnete mit Recht einem Hohngelächter der Zuhörer". [18]
Die Spruchkammer belegte den "Mitläufer" Knoop mit einer zweijährigen Berufssperre. In seiner Berufung dagegen beklagte er sich über den Mangel an "Sachlichkeit und Gerechtigkeit" des Verhörs, was sich ausgedrückt habe in "Beschimpfung der Frontsoldaten, Verherrlichung von Saboteuren und anderen Dingen". [19] Die Berufssperre wurde prompt als unbegründet aufgehoben.
Bedrückend ist der Versuch des Pädagogen, am Ende seiner langen Berufstätigkeit seine Rolle im Dienste des Dritten Reiches damit zu erklären, daß es ihm an der "Gabe der Prophetie" gemangelt habe, "die ihn in den Stand gesetzt hätte, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft von ihrem Ende aus zu beurteilen. Er konnte vielmehr nur von den Anfängen her urteilen." [20] Er habe zwar gewußt, daß in den KZ Menschen "auf unbestimmte Zeit festgehalten wurden", aber das hätten schließlich die Alliierten nach 1945 auch getan. [21]
So windet sich ein Vorkämpfer zu einem verführten Mitläufer. Seine so überzeugende Mitwirkung an der Gehirnwäsche in der LBA scheint ihn nicht zu belasten. Mit dem Mut zur Wahrheit hätte Knoop sich und den Adressaten seines Berichtes besser gedient.
1. Karl Knoop: Zur Geschichte der Lehrerbildung in Schleswig-Holstein. 200 Jahre Lehrerbildung vom Seminar bis zur Pädagogischen Hochschule. 1781-1981. Husum 1984. - In Vorbereitung ist eine Dissertation von Ulrike Guthmann: Die Ausbildung der Volksschullehrer und -lehrerinnen während der Zeit des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein und Hamburg. Vgl. auch Renate Gayny: "Es waren keine guten Jahre." In: Informationen zur schleswig-holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 19. 1990. S. 5 - 14 (Ein Erlebnisbericht zur LBA für Mädchen in Ahrensbök).
2. Henning Peters jun.: Die Dithmarscher Landesschule in Lunden. In: Alte Häuser, Straßen und Plätze der Gemeinde Lunden. Lunden 1989, S. 48 - 61.
3. Alfred Bäumler, zitiert nach Knoop 1984, S. 92f.
4. Bäumler, zitiert nach Knoop 1984, S. 5.
5. Knoop 1984, S. 5.
6. Knoop 1984, S. 94.
7. Knoop 1984, S. 90.
8. Knoop 1984, S. 94.
9. Adolf Schmidt-Bodenstedt (Hrg.): Lehre und Erziehung an den Lehrerbildungsanstalten. Band 1. Berlin 1944; zitiert nach Knoop.
10. Edward Crankshaw: Die Gestapo. Berlin 1956. S. 25.
11. Knoop 1984, S. 95.
12. Schriftlicher Bericht im Heimatmuseum Lunden.
13. Zum "Friesenwall" vgl. Das KZ Husum-Schwesing, Außenkommando des Konzentrationslagers Neuengamme. Bredstedt 1983. - Das Konzentrationslager Ladelund 1944. Wissenschaftl. Leitung Jörn-Peter Leppien. Ladelund 1990.
14. Karl Knoop: Fünfzig Jahre im Dienste von Schule, Schulverwaltung und Lehrerbildung, o.O., o.J., S. 45.
15. Knoop, Fünfzig Jahre, S. 92.
16. Knoop, Fünfzig Jahre, S. 83.
17. Knoop, Fünfzig Jahre, S. 90.
18. Knoop, Fünfzig Jahre, S. 88.
19. Knoop, Fünfzig Jahre, S. 100.
20. Knoop, Fünfzig Jahre, S. 102f.
21. Knoop, Fünfzig Jahre, S. 100.
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinschen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 29 (Juni 1996) S. 34-50.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 29