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Kay Dohnke:
Sein Weg als Jude und Deutscher. Nachruf auf Arie Goral

Wo und wann immer in Hamburg öffentlich über den deutschen Faschismus nicht nur der Nazi-Zeit diskutiert wurde, fand sich mit großer Wahrscheinlichkeit ein vertrauter Zuhörer ein: Arie Goral-Sternheim. Und er war ein aufmerksamer Zuhörer - wer ihn nicht kannte, mochte vielleicht durch die unweigerlich bis auf die äußerste Nasenspitze gewanderte Brille irritiert sein. Doch dieser Mann war nicht abgelenkt, wenn er die Augen schloß, ins Leere schaute - spätestens seine Fragen, Einwürfe, Wortbeiträge verrieten den engagierten, den erfahrenen Menschen. Mitunter gab er Diskussionen eine völlig andere Richtung, wenn er sich voller Unmut dem nur allzu bekannten Gerede widersetzte, Herrschaft kritisierte, Ungerechtigkeit aufzeigte. Auch selbstgefällige Statements, das Reklamieren der "richtigen" Position durch Vertreter der Linken blieb nicht unwidersprochen, wenn er anwesend war. Sein Platz auf dem Podium oder unten im Publikum wird künftig leer bleiben: Arie Goral ist, 86jährig, am 23. April 1996 gestorben.

Ein Leben in Daten und Stichworten: am 16. Oktober 1909 als Walter Sternheim in Rheda geboren, verlebte er seine Kindheit und Jugend im Hamburg der Kaiserzeit. Lehrling in der Buchabteilung im Kaufhaus Tietz, literarisch interessiert, in der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung aktiv - früh entstanden Eckpfeiler auch für das spätere Leben. Kollisionen mit dem erstarkenden Faschismus blieben nicht aus. Der Ausbildungswechsel zum landwirtschaftlichen Arbeiter zielte latent auf die Emigration; schneller als geplant mußte Goral 1933 nach Frankreich gehen und gelangte 1935 nach Palästina. Unter seinen verschiedenen Tätigkeiten - im Kibbuz, als Bademeister am Toten Meer - wurde die Beschäftigung als Museumsassistent in Tel Aviv für seine Zukunft prägend.

Über Italien, wo er ab 1950 Kunst studierte, kehrte Goral 1953 nach Hamburg zurück - "eine Heimkehr war es nicht, denn ich hatte kein 'Heim' mehr." Zum Zeichen einer neuen Position, von der aus er künftig das Geschehen um sich herum betrachten würde, trug er jetzt die hebräische Fassung seines Namens. Der Neuanfang in jener Stadt, wo er einst mit der von den Nazis ermordeten Familie zusammengelebt hatte, war schwierig: Goral wohnte nahe der Universität in einem finsteren, stillen Haus unter überlebenden Juden, der Vergangenheit beraubt und ohne Vorstellungen einer Zukunft.

Als Maler, Graphiker und Schriftsteller wurde er im Kunst- und Kulturbereich aktiv, betrieb die "galerie uhu" und die INTERGALERIE, stellte in anderen Städten eigene Werke aus. Kunst wurde neben der geschriebenen und gesprochenen Sprache zu Arie Gorals Stimme, und er fand neue Medien, um seine Stellung zu beziehen: als der Bundestag 1958 die atomare Bewaffnung der Bundeswehr beschloß, zog er bei der Mai-Demo des DGB einen Bilderwagen als Protestkarren durch die Straßen Hamburgs. Auch das Flugblatt


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wurde zur politischen Kunstform, mit der er einzugreifen versuchte - sieht man seine grobletterigen Arbeiten gegen Polizeistaat, Vietnam-Krieg oder Barzels Kanzlerkandidatur, so glaubt man fast, als hätte der Graphiker Klaus Staeck beim frühen Arie Goral gelernt.

Bilder, Bücher - sie waren die Suche nach einer Form, die verbinden sollte, was sich so sehr zu widersprechen schien: Jude zu sein und Deutscher und Sozialist - und in allen drei Rollen, in allen drei Identitäten, die nicht Eins werden wollten, den empfundenen Widerspruch zur Dumpfheit der deutschen politischen Alltäglichkeit auch auszudrücken. Der kreative Ertrag der in diesem Land so eigenwilligen Gratwanderung - Lyrik, Gemälde, historische Analysen - wirft immer wieder auch Licht auf den Menschen dahinter. Am deutlichsten tritt Goral natürlich in seiner Autobiographie Jeckepotz in den Blick, doch auch die Bücher über Heine, Ossietzky und Walter A. Berendsohn sind klare politisch-moralische Verortungen ihres Verfassers. Nie trennte er die Moral von seinen politischen Anliegen: der Untertitel seines Buches zum Judenpogrom im November 1938 - "Was man auch in Hamburg nicht wissen konnte, wenn man wollte" - macht dies unübersehbar deutlich.

Auch Gorals vielfältige Schriften zeigen seine Weigerung, Kopf und Bauch voneinander zu trennen, Denken und Fühlen, Anspruch und Wirklichkeit. In Essays, Aufsätzen, Berichten, die er u.a. für Taz und Jüdische Rundschau schrieb, zu Büchern und Katalogen beisteuerte, betrieb er die mühsame Arbeit der Rekonstruktion verdrängter Geschichte, trug die Last, Vergessen rückgängig zu machen. Es gelang ihm mit


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dem unverstellten Blick auf das Groteske, auf die Widersprüche zwischen Anspruch und Handeln, an die wir uns so leicht gewöhnt haben.

Das Leben Arie Gorals war ein politisches Leben - eines, das sich nicht praxisfern um theoretische Fundierung mühte, sondern in unerschöpflich wirkender Kraft vorführte, wie sich Humanismus, Verantwortungsgefühl und Anteilnahme in aktivem Engagement verbinden können. Er bezog Position, zeigte Standfestigkeit, war in Handeln und Schreiben, Reden und Streiten authentisch. In den letzten Jahren zehrte die geistige Selbstaufgabe der Linken stark an seinem Optimismus. Und der Umgang mit ihm als Mensch wurde in all den Jahren sicherlich immer schwieriger.

Arie Goral lebte und handelte als Grenzgänger: nicht aus der Mitte heraus, sondern von einer Randposition her, die ihre Stärke dadurch bewahrte, daß sie immer wieder überprüft, in Frage gestellt, verteidigt wurde. Seine Kritik galt Grundsätzlichem, den großen Utopien und Hoffnungen von einem anderen und besseren Miteinander der Menschen. Geschichte - und vor allem: deutsche Geschichte - war für ihn nichts Vergangenes, sondern lebendiges Element von Persönlichkeit und Gesellschaft, das Stellungnahme fordert. Diesen Zusammenhang immer wieder bewußt zu machen, wurde er nie müde.

Und er nahm Stellung: beobachtete in Kiel den Asche-Prozeß und schrieb über dieses und andere Verfahren gegen NS-Täter, kritisierte 1981 die Stadt Lübeck für ihre Weigerung, die Geschicke ihrer ehemaligen jüdischen Einwohner in einem Gedenkarchiv zu dokumentieren, griff 1991 in die Diskussion um das Jüdische Museum in Rendsburg ein. Eine Auswahl seiner Texte liegt in dem Band An der Grenzscheide gesammelt vor - eine lohnende Lektüre, auch Jahre nach ihrer Entstehung noch.

Nun ist Arie Goral tot. Ein bedeutender Zeitzeuge, ein wichtiger Zeit-Genosse ist gegangen - künftig ohne ihn, allein mit seinen Schriften auszukommen, wird nicht leicht sein.

Ausgewählte Publikationen und Dokumentationen von Arie Goral-Sternheim:

Der Fall Hofstätter. Aus dem Leben eines Rechtssympathisanten. 1979.

Vernichtung Ghetto Riga - Aufstand im Warschauer Ghetto. 1980.

Judenpogrom vom November 1938. Was man auch in Hamburg nicht wissen konnte, wenn man wollte. 2 Bände, 1980.

Ostjuden auf Wanderschaft - Transit Hafen Hamburg 1885 - 1938. Dokumentensammlung, 4 Bände. 1985.

Jeckepotz. Eine jüdisch-deutsche Jugend 1914 - 1933. Hamburg: VSA-Verlag 1989. 201 S. - Ein Auszug erschien unter dem Titel: Im Schatten der Synagoge. Hamburg: Landeszentrale für politische Bildung 21994. 80 S.

Carl von Ossietzky und das Gewissen einer Stadt. Hamburg 1989.

Jüdischer Bestand und Widerstand in der Bundesrepublik Deutschland. Texte 1959 - 1989. 1989. KZ-Transit Theresienstadt. 1991.

An der Grenzscheide. Kein Weg als Jude und Deutscher? Münster: LIT Verlag 1994 (= Anpassung - Selbstbehauptung - Widerstand, 6). 200 S.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinschen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 29 (Juni 1996) S. 51-53.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 29

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