Das Schicksal von Steinburger Antifaschisten, die - seien es Sozialdemokraten, seien es Kommunisten gewesen - im "Dritten Reich" verfolgt, in Konzentrationslager verschleppt und auch ermordet wurden, ist seit mehreren Jahren - zumindest leidlich und in groben Zügen - bekannt. [1] Kein Wort wurde bisher über eine andere Gruppe von Menschen verloren, die vielfach ein ähnliches Schicksal erlitten, und zwar auch bei uns: Homosexuelle. [2]
Daß sich niemand ihres Leidens in den Jahren 1933 bis 1945 annahm, mag vielfältige Ursachen haben. Handelte es sich hier doch um ein vermeintlich "schlüpfriges" Thema, das auch heute noch weit davon entfernt ist, völlig enttabuiert zu sein, und waren doch die "175er", wie sie im Volksmund nach dem die Homosexualität unter Strafe stellenden Paragraphen hießen, nicht nur in der NS-Zeit Verfolgte, sondern schon lange zuvor und noch mehrere Jahrzehnte danach in der Bundesrepublik Deutschland. Erst 1969 sollte die Homosexualität entkriminalisiert werden, und erst weitere 25 Jahre später erfuhren Homosexuelle in Deutschland eine völlige strafrechtliche Gleichstellung.
1951 urteilte der Bundesgerichtshof, daß der § 175 in seiner 1935 in das StGB aufgenommenen Fassung keine typisch nationalsozialistische Vorschrift sei. Auch die Gerichte kehrten in ihrer Spruchpraxis nicht zur Rechtsprechung des Reichsgerichts vor 1935 zurück, sondern folgten der im folgenden anzusprechenden Auslegung des Paragraphen, wie sie sich im letzten Jahrzehnt der NS-Herrschaft durchgesetzt hatte. Die Zahlen der nach §175 in der Bundesrepublik jährlich Verurteilten überstiegen nicht nur die Werte für das wilhelminischen Kaiserreich und die Weimarer Republik, sondern lagen auch höher als in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Ära. [3]
Dennoch erscheint es aus dreierlei Gründen angemessen, im Kontext nationalsozialistischer Verfolgung auch den Kampf gegen die Homosexuellen zu thematisieren. Die schon 1933 beginnende Intensivierung der Strafverfolgung bedeutete eine Verschärfung des Kampfes gegen die Homosexualität in quantitativer Hinsicht. Daneben ist ferner eine qualitative Verschärfung zu beobachten, die sich in einer Abnahme der Freisprüche und Verurteilungen zu Geldstrafen bei gleichzeitiger Zunahme von Gefängnis- und Zuchthausstrafen äußerte. [4] Besondere Härten, die weder vor 1933 noch nach 1945 eine Entsprechung finden, waren rechtswidrige Maßnahmen gegen Homosexuelle, insbesondere die Einweisung in ein Konzentrationslager im Zusammenhang mit normalem Strafvollzug und auch ohne diesen Zusammenhang. [5] Im konkreten Fall verlangt es die Aktenüberlieferung, gerade auf diese NS-typische Qualifizierung der Homosexuellenverfolgung ein besonderes Gewicht zu legen.
Seit den 1970er Jahren liegen mehrere umfangreiche Arbeiten vor, die sich mit der Verfolgung Homosexueller in Deutschland durch die Nationalsozialisten beschäftigen. Für Schleswig-Holstein oder einzelne Städte des nördlichsten Bundeslandes fehlt es jedoch noch immer an einschlägiger Literatur. [6] Das mag u.a. auch mit der Quellenlage zu tun haben, die beispielsweise für den Kreis Steinburg schlecht ist. Im Landesarchiv Schleswig sind mehrere Dutzend Strafakten archiviert, die Strafverfahren über Sexualdelikte vor dem Itzehoer Landgericht in den Jahren 1937 - 1945 behandeln.
Von diesen Verfahren wiederum fanden ganze acht wegen Vergehen gegen §175 StGB, davon zwei gegen §175a StGB statt. Die Erhaltung von vier dieser Akten ist vermutlich ihrer Kennzeichnung als "Forschungssache" zu verdanken. Eine derartig geringe Fallzahl macht jede induktive Arbeitsweise unmöglich, läßt keine Ableitung verallgemeinernder Schlüsse zum Beispiel auf die Strategien der Strafverfolgungsorgane und Polizeibehörden im schleswig-holsteinischen Raum zu, wie sie Hans-Christian Lassen angesichts eines Bestandes von allein 268 Akten zu §§175, 175a StGB-Verfahren nur für das Jahr 1938 für Hamburg ziehen konnte. [7]
Erfreulich ist, daß die wenigen vorliegenden Verfahren ein relativ vielfältiges Spektrum abdecken, was den Verfahrenszeitpunkt und die Höhe des Strafmaßes wie auch die soziale Herkunft der Beklagten und deren späteres Schicksal anbelangt. Insofern soll im Folgenden versucht werden, die einzelnen Verfahren in die allgemeine Verfolgungspraxis des NS-Regimes einzuordnen und zu bewerten. Ergänzend soll auf der Grundlage von Prozeß-Berichten in der zeitgenössischen lokalen Presse ein grober Überblick über die Quantität der Verfolgung im Kreis Steinburg gewonnen werden, denn eines kann aufgrund der Presseberichterstattung als sicher gelten: die überlieferten Verfahren stellen nur die Spitze eines Eisberges dar. Allerdings kann auch hier aufgrund der nur sehr rudimentären Informationen in den einzelnen Zeitungsartikeln kein Anspruch auf eine umfassende statistische Repräsentativität erhoben werden.
Als im März 1994 der §175 des deutschen Strafgesetzbuches aufgehoben wurde, ging damit eine Tradition jahrhundertelanger Kriminalisierung homosexueller Männer zuende. Seit dem 4. Jahrhundert stand in fast allen christlichen Staaten auf gleichgeschlechtliche Betätigung, häufig auch unter Frauen, die Todesstrafe. [8] Ausgetilgt werden sollten alle mit dem Bibelwort "Seid fruchtbar und mehret Euch" unvereinbaren Sexualpraktiken.
Erst mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert begannen sich im Gefolge der Aufklärung moderatere Strafen durchzusetzen. Der französische "Code Napoléon" aus dem Jahre 1810 legalisierte als Ergebnis der Französischen Revolution erstmals in der Geschichte der Neuzeit die Homosexualität. In Bayern folgte der Abschaffung der Todesstrafe 1813 sogar die völlige Straflosigkeit der Homosexualität.
Das Norddeutsche Strafgesetzbuch von 1870 faßte als erstes deutsches Ge-
setzbuch die Kriminalisierung der Homosexualität in jenen §175 [9], der in veränderter und reformierter Form bis zum Jahr 1994 in der Bundesrepublik Deutschland fortbestand. Mit der Reichseinigung 1871 trat der §175 StGB in Kraft - nach mehr als einem halben Jahrhundert, in dem die Homosexualität in einigen deutschen Staaten völlig straflos war. Als strafbar galten auf Reichsebene bald nur "beischlafähnliche Handlungen", wobei als beischlafähnlich angesehen wurde, was "auf Befriedigung der Geschlechtslust in analoger Weise gerichtet ist, wie sie in naturgemäßer Weise zwischen Personen verschiedenen Geschlechts erfolgt." [10]
In der richterlichen Praxis verursachte die Anwendung des §175 aber einige Schwierigkeit, da sich die Angeklagten durch entsprechend abgestimmte Aussagen vor dem Gefängnis zu schützen vermochten. So überschritt die Anzahl der Verurteilungen vor der Jahrhundertwende selten die Zahl von 500 jährlich.
Mit der Weimarer Republik begann für die deutschen Homosexuellen eine Epoche, deren demokratische Verfassung ihnen erstmals grundlegende bürgerliche Rechte zugestand, wenngleich die Verurteilungen nach §175 im Vergleich zum Kaiserreich durchschnittlich höher waren. Hatten sie in den ersten Jahren der Republik noch durchschnittlich unter 500 gelegen, so pendelten sie sich bis zu ihrem Ende bei etwa 800 Verurteilungen jährlich ein. Die homosexuelle Minderheit machte von den demokratischen Rechten eifrig Gebrauch. Schon 1919 bildeten sich in mehreren Großstädten sogenannte "Freundschaftsvereine", die Zahl homosexueller Zeitschriften wuchs ständig, in nahezu jeder Großstadt eröffneten einschlägige Kneipen und Bars, und überall in der Szene wurde intensiv gefeiert. [11] Auch Literatur und Film nahmen sich des Themas Homosexualität an.
Die schon um die Jahrhundertwende entstandene Sexualwissenschaft konsolidierte sich und strebte in ihren praktischen Forderungen vor allem nach einer Legalisierung, nach einem Mutterschutzgesetz, der Liberalisierung des Eherechts sowie der Aufhebung des Homosexuellen-Paragraphen. Wenn es der Reformbewegung Ende der 1920er Jahre auch nicht gelang, den §175 abzuschaffen, so konnte sie wenigstens eine Verschärfung, wie sie besonders die Rechts-Parteien DNVP und NSDAP forderten, verhindern.
Als die Nationalsozialisten im Januar 1933 die Macht antraten, begann für die deutschen Homosexuellen eine Epoche, die sie wenige Jahre später in ihrer Emanzipation um Jahrhunderte zurückwerfen sollte. Die nationalsozialistische Ideologie betrachtete die Homosexualität vor allem in bevölkerungspolitischem Kontext. Bevölkerungs- und familienpolitische Maßnahmen sollten die Menschenproduktion und ihren sozialen Rahmen sichern.
So muß die Neufassung des §175 im Kontext von Junggesellensteuer und Mutterkreuzen, großzügig gewährten Ehestandsdarlehen und Kindergeld und einer verschärften Anwendung des §218 StGB, der die Abtreibung unter Strafe stellte, gesehen werden. Hans-Georg Stümke charakterisiert prägnant den
Wandel, der die Verfolgung in der NS-Zeit von früheren Epochen abhebt: "Was die Zeit des Dritten Reichs hervorhebt, ist die terroristische Übersteigerung unter einem rigiden Primat der 'Menschenproduktion' auf rassenhygienischer Grundlage und dem Willen zu einer 'Endlösung' der Homosexuellen-Frage. Da Homosexuelle in der bürgerlichen Sexualideologie prinzipiell als 'Kranke und Kriminelle' angesehen wurden, erlitten sie im Rahmen jenes Primats das gleiche Schicksal wie alle jene, die aus dem Muster der Rassenzüchtungsmoral herausfielen. Die Übersteigerung der traditionellen Fortpflanzungsmoral zur Zuchtmoral bestimmte das typisch Nationalsozialistische an der Homosexuellen-Verfolgung in der Zeit von 1933 bis 1945." [12]
Am 30. Juni 1934 liquidierte Hitler unter dem Vorwand einer drohenden Gefahr der Machtübernahme durch "krankhafte Individuen" die SA-Spitze, nachdem Röhm seine Gedanken über eine "Zweite Revolution" laut ausgesprochen hatte. Am 24. Oktober 1934 sandte die Geheime Staatspolizei an alle deutschen Polizeidienststellen ein verschlüsseltes Rundtelegramm, das den Auftrag zur Anfertigung einer namentlichen Liste sämtlicher Personen enthielt, die sich irgendwie homosexuell betätigt hatten. Diese Anordnung war der Auslöser für das "Sonderdezernat Homosexualität", das Ende Oktober 1934 seine Arbeit aufnahm.
Während die Röhm-Morde das Volk propagandistisch auf eine Verschärfung des §175 vorbereitet hatten, schuf das Jahr 1935 die juristischen und organisatorischen Voraussetzungen für eine systematische Verfolgung Homosexueller auf Reichsebene. Das "Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 28.6.1935", das am 1. September 1935 in Kraft trat, erweiterte den §175 dahingehend, daß nunmehr eine Handlung, "die das geschlechtliche Scham- und Sittlichkeitsgefühl der Allgemeinheit verletzt und bestimmt ist, eigene oder fremde Geschlechtslust zu erregen" [13], für die Erfüllung des Straftatbestandes genügte. "Ausdrücklich betont das Reichsgericht, 'die neue Fassunge dient dem Zwecke, die Betätigung gleichgeschlechtlicher Anlagen bei Männern auf einer breiteren Grundlage zu bekämpfen, um so die Volksgesundheit wirksamer als bisher zu schützen.'" [14] Ergänzt wurde das Gesetz durch §175a (schwere Unzucht). Am 10. Oktober 1936 schließlich unterzeichnete Heydrich im Auftrage Himmlers das Gründungsdokument für die "Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung", mit deren Einrichtung das staatliche Verfolgungsinstrumentarium seinen Höhepunkt und vorläufigen Abschluß erreichte.
Eine homosexuelle Subkultur, wie es sie schon vor dem Ersten Weltkrieg und insbesondere in der Weimarer Republik in den großstädtischen Metropolen gab, ließ sich auch für einige Städte in Schleswig-Holstein nachweisen. In Lübeck gab es bis mindestens 1937 das "männliche Lokal" "Eldorado" [15], und in Kiel trafen sich Homosexuelle bei "Mutter Götsch" im "Grogkeller" in der Schuhmacherstraße [16] oder in dem Matrosenlokal "Zum Derflinger" in der
[Abb. 1: Im "Grogkeller" bei "Mutter Göttsch" in der Schumacherstraße trafen sich in einem Hinterzimmer bis Mitte der 1930er Jahre Kieler Homosexuelle]
Wik. [17] In Kiel fanden Schwule auch über sogenannte "Klappen", öffentliche Bedürfnisanstalten für Männer, Kontakt. Die berühmtesten "Klappen" befanden sich schon vor dem Krieg im Schrevenpark, aber auch am Exerzierplatz, unter der Gablenzbrücke oder in der Mayerstraße am Rondeel. In den "Klappen" selber passierte allerdings Mitte der 1930er Jahre "nicht viel", wie ein 1908 geborener Schwuler [18] mitteilte, denn "die SS rannte ja rum wie sonstwas." [19]
Einschlägige Lokale ließen sich für den Kreis Steinburg auch nicht ansatzweise ermitteln. Jedoch ist es möglich, daß es auch hier bekannte Treffpunkte in Parks oder öffentlichen Toiletten gab. Vereinzelt gibt es Hinweise darauf, daß Homosexuelle von Zeit zu Zeit nach Hamburg oder auch nach Kiel [20] fuhren, um dort einschlägige Etablissements aufzusuchen. Es bedurfte der Anonymität der Großstadt, daß homosexuelle Frauen und Männer in einschlägigen Zeitschriften Chiffre-Anzeigen unter Angabe ihres Wohnortes aufgaben: "Heirat - Kiel Umgebung. Welche hübsche junge Dame, bis 25 J., aus bürgerl. Hause, geschäftstüchtig u. im Haushalt erfahren, würde mit jg. Kaufmann, 28 J., eig. Geschäft u. Grundstück, Kameradschaftsehe eingehen. Etwas Vermögen erwünscht, jedoch nicht Bedingung. Off. mit Bild unter 449 Verlag." [21]
Mit diesen Zeilen suchte im April 1927 ein mutmaßlich homosexueller Geschäftsmann eine Partnerin über die Anzeigen-Rubrik der Berliner Zeitschrift Die
[Abb. 2: Der Hamburger Alsterpavillon war bis in die 1930er Jahre ein bekannter Treffpunkt für Schwule und Lesben auch aus Schleswig-Holstein]
Freundin, die von dem Verleger Friedrich Radszuweit herausgegeben wurde [22] und - bei immerhin vierzehntägiger Erscheinungsweise - auf eine lesbische und transsexuelle Leserschaft zielte. Radszuweit war auch Vorsitzender des "Bund für Menschenrecht", der in den 1920er Jahren größten Vereinigung Homosexueller in Deutschland. In einer Ausgabe der Freundin aus dem Jahr 1932 finden wir eines der seltenen Zeugnisse Schleswig-Holsteinischer Lesben aus den 1930er Jahren, allerdings noch vor der "nationalen Erhebung": "Kieler Motorradsportlerin, 26 Jahre, sucht gesellschaftlichen Anschluß an ideale Freundin mit Sinn für Kameradschaft. Off 3070 Verl." [23]
Eine pulsierende homosexuelle Szene mit eigenen einschlägigen Gaststätten und Nachtclubs existierte in Hamburg. Hierhin zog es von Zeit zu Zeit auch Homosexuelle aus der nördlichen Provinz. So berichtete ein homosexueller Lehrer aus St. Margarethen bei einer polizeilichen Vernehmung noch Mitte der 1930er Jahre: "Nach dem Essen waren von P. und ich im Poccaccio in Hamburg, wo wir bis gegen 3 Uhr nachts waren. [...] Gegen 3 Uhr [nachmittags des nächsten Tages - B.M.] kam V. mit dem Zuge in Hamburg an. Wir holten ihn von der Bahn ab, aßen zusammen Mittag und verbrachten den Nachmittag im Alsterpavillon. Gegen 16 Uhr gingen V. und ich zur Bahn und fuhren wieder nach Hause." [24]
Im "Alsterpavillon" hatte es schon
Mitte der 1920er Jahre eine "warme Ecke" gegeben. [25] Das Lokal gehörte zu den polizeibekannten Homosexuellen-Lokalen, die in den Hamburger Ermittlungen immer wieder auftauchten, [26] und es war auch wiederholt das Objekt von Razzien. [27] Der Musiker H., der in einem Hotel in Marne als Hausdiener angestellt war,berichtete, daß er wiederholt von Marne aus nach Hamburg gefahren sei. Dort traf er sich bei einer Gelegenheit mit einem jungen Mann, mit dem er im Café "Sahna" am Steinweg Kaffee und Kuchen verzehrte. Sein Hamburger Begleiter war nach seiner Aussage wiederholt wegen Sittenverbrechen vorbestraft und sei auch "Paula" oder "Henny" genannt worden: "[...] mir ist bekannt, daß er weibisch veranlagt ist und früher oft in Mädchenkleidung ging." [28] Die Kontakte des Marner Homosexuellen in der Hamburger Transvestiten-Szene mochten aber daher rühren, daß er als gebürtiger Altonaer schon vor seiner Marner Zeit Bekannte in der Hansestadt hatte. Die Itzehoer Staatsanwaltschaft ließ aufgrund dieser Aussage umgehend von der Hamburger Kriminalpolizei Nachforschungen nach dem jungen Transvestiten anstellen, die aber keine konkreten Ergebnisse erbrachten.
Einschlägig bekannte Verkehrslokale oder öffentliche Treffpunkte wie die großstädtischen Pissoirs, die sogenannten "Klappen", ließen sich im Kreis Steinburg also nicht identifizieren. Die Männer trafen sich in den meisten Fällen in privaten Räumlichkeiten.
Die Homosexuellenverfolgung wird reichsweit nach der Ermordung Röhms drastisch intensiviert, was sich in einem exponentiellen Anstieg der Verurteiltenzahlen niederschlägt. Wurden in den Jahren 1932, 1933 und 1934 jeweils 801, 853 und 948 Erwachsene wegen Verstoßes gegen den § 175 StGB verurteilt, stiegen die Zahlen in den Jahren 1935, 1936 und 1937 auf 2.106, 5.320 und 8.271 Verurteilungen an, um 1938 mit 8.562 Fällen ihren Höhepunkt für die NS-Zeit zu erreichen. [29]
In Schleswig-Holstein scheint die Verfolgung erst 1936 eine erkennbare Ausweitung erfahren zu haben. Im Oberlandesgerichtsbezirk Kiel, der 1.417.545 Gerichtseingesessene zählte [30], wurden in diesem Jahr 122 Personen nach §§175 und 175a StGB abgeurteilt [31], nachdem in den Jahren 1933 und 1934 "nur" 16 bzw. 20 Männer im hiesigen OLG-Bezirk wegen "widernatürlicher Unzucht" vor Gericht standen. [32]
Für die Jahre nach 1936 enthält die Reichskriminalstatistik keine Angaben mehr für die einzelnen Oberlandesgerichtsbezirke. Wenn man berücksichtigt, daß von den 1936 abgeurteilten 122 Männern 110 verurteilt wurden - 12 wurden freigesprochen - , dann entfielen von den im gleichen Jahr reichsweit verurteilten 5.320 Personen 2,07% auf den Oberlandesgerichtsbezirk Kiel.
Überliefert sind auch die Zahlen der nach §175 StGB Verurteilten für den Landgerichtsbezirk Kiel für die Jahre 1936 bis 1938 und 1941 bis 1943. Hier wurden 1936 58 der 122 im Oberlandesgerichtsbezirk verurteilten Männer abgeurteilt. Nach einem Anstieg der Verurteiltenzahlen 1937 auf 183 sanken die Werte über 120 im Jahre 1938 auf in den Kriegsjahren 35 für 1941, 40 für
1942 und 11 für 1943. [33]
Im August 1936 fanden in mehreren deutschen Großstädten "Säuberungen gegen Volksschädlinge" in Form systematischer Razzien an den Treffpunkten Homosexueller statt, wobei auch in Hamburg ein Sonderkommando der Gestapo mehrere "Verkehrslokale" aushob und mehrere hundert verdächtige Personen festnahm. [34]
Möglicherweise kam es in diesem Zusammenhang auch in Itzehoe zu verstärkter Verfolgungstätigkeit der Polizei, denn Ende des Jahres war die Homosexuellenhatz in Itzehoe in einem derartigen Maße "Stadtgespräch", daß sich die Polizei zur Intervention genötigt sah und in der lokalen Presse eine Erklärung veröffentlichte:
"Aufgrund von drei Verhaftungen, die in den letzten Tagen wegen Verfehlung gegen § 175 bzw. 175a RStGB. vorgenommen wurden, haben in der Stadt Gerüchte eine Verbreitung gefunden, die weit das Maß des Tatsächlichen und des Zulässigen überschreiten. Jeder Einwohner darf überzeugt sein, daß die Polizeiverwaltung mit allen zu Gebote stehenden Mitteln die eingeleitete Untersuchung zu Ende führen wird. Es ist bekannt, daß Elemente, die die natürlichen Gebote einer völkischen Gesittung in schamloser Weise mißachten, die Schärfe der nationalsozialistischen Gesetzgebung zu spüren bekommen werden. Die Polizeiverwaltung muß jedoch gleichzeitig davor warnen, Beschuldigungen gegen Personen auszusprechen, die nicht begründet werden können; sie erwartet andererseits, daß bestimmte Verdachtsmomente nicht dem nächsten Nachbarn, sondern sofort der Polizei zur Kenntnis gebracht werden." [35]
Drei Tage später wandte sich die Polizeiverwaltung erneut an die Öffentlichkeit, diesmal mit der uneingeschränkten Aufforderung zur Mitarbeit. Der Leser erfuhr, daß nicht nur mehrere Itzehoer Einwohner freiwillig aus dem Leben geschieden seien, sondern daß inzwischen noch weitere Personen festgenommen worden waren. [36] Möglicherweise stand auch ein versuchter Doppelselbstmord von zwei jungen Männern in Heide Anfang Januar in diesem Zusammenhang. [37] Für das im April 1937 neu eingerichtete Itzehoer Landgericht sollte denn auch das neue Jahr eine Prozeßwelle wegen "widernatürlicher Unzucht" mit sich bringen.
Die Fälle, um die sich die Gerüchte rankten, wurden jedoch noch vor der Großen Strafkammer des Altonaer Landgerichts verhandelt, die zu diesem Zweck Ende Januar in Itzehoe tagte. Auf der Tagesordnung standen neben diversen weiteren Strafprozessen zwei §175- bzw. §175a-Verfahren [38], deren eines mit ziemlicher Sicherheit Mitauslöser für das Brodeln der Itzehoer Gerüchteküche gewesen ist.
Angeklagt war ein 36jähriger Itzehoer Polizeihauptwachtmeister, den die Schleswig-Holsteinische Tageszeitung entgegen ihrer Gewohnheit mit vollem Namen nennt - ein mögliches Indiz dafür, daß der Mann der Öffentlichkeit schon namentlich bekannt war. Er saß seit dem Heiligen Abend 1936 in Altona in Untersuchungshaft. In seiner Funktion als Kreisjugendwart der Sportvereine - der Nordische Kurier sprach vom "Jugendsportwart eines Sportvereins" - sollte er in den Jahren 1934 und 1936 in drei Fällen Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren verführt haben.
Gemessen am staatsanwaltlich beantragten Strafmaß von drei Jahren Zucht-
haus und fünf Jahren Ehrverlust kam der Polizeibeamte mit der vom Gericht erkannten Strafe von 15 Monaten Zuchthaus und zwei Jahren Ehrverlust noch relativ glimpflich davon. Knappe sechs Wochen später wurde gegen einen weiteren Sportlehrer aus Itzehoe wegen des gleichen Vergehens verhandelt, auch er mit vollem Namen in der NS-Presse genannt. [39] Dem 33jährigen wurden 22 Fälle der "Unzucht" mit männlichen Jugendlichen unter und über 14 Jahren zur Last gelegt. Der Sporterzieher wurde schließlich zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
Diese beiden Fälle mögen einleitend für die Schilderung einer Periode stehen, in der sich auch die Itzehoer Justiz in einem zuvor nicht dagewesenen Umfang mit der strafrechtlichen Sanktionierung homoerotischer Sexualität befaßte. Wieviele §175-Verfahren tatsächlich vor dem Itzehoer Landgericht stattgefunden haben, muß der Spekulation überlassen bleiben. Auf der Grundlage der Zahlen des Landgerichtsbezirkes Kiel bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Landgerichtsbezirksgrößen und unter Annahme der gleichen Verfolgungsintensität wären für Itzehoe für 1936 29 (LG Kiel: 58), für 1937 90 (183) und für 1938 59 (120) Verfahren zu erwarten.
Bei einer zügigen Durchsicht der lokalen zeitgenössischen Tageszeitungen ließen sich aber für den Landgerichtsbezirk Itzehoe für die Jahre 1937 und 1938 nur Verfahren gegen 32 bzw. 22 Männer nachweisen. Damit lägen die §175-Verfahren in diesem Bezirk bei nur etwa einem Drittel der durchschnittlichen Verfahrensanzahl des Oberlandesgerichtsbezirks Kiel. Da sich eine derartige Abweichung kaum durch eine geringere Intensität staatlicher Verfolgung oder durch das mögliche Stadt-Land-Gefälle erklären läßt, müssen die so gewonnenen statistischen Angaben - bedingt durch die lückenhafte Quellenlage - als unzuverlässig und damit nicht verwertbar gelten. So läßt sich also zum jetzigen Zeitpunkt nicht beurteilen, ob ein Urteil aus dem Jahre 1934 - "es fällt auf, daß gerade die Wasserkante und ihr Hinterland reichlich von Sexualverbrechern durchsetzt ist" [40] - auch im Hinblick auf Homosexuelle und hier speziell für den Landgerichtsbezirk Itzehoe zutrifft.
Nur eine der verbliebenen einschlägigen Akten des Itzehoer Landgerichts betrifft einen Prozeß, in dem die Beklagten wegen "Unzucht" mit volljährigen Partnern verurteilt und nicht von vornherein aufgrund "rassischer" oder sozialer Eigenschaften - von ihrer Stigmatisierung als Homosexuelle einmal abgesehen - als disqualifiziert gelten konnten. Insofern kann dieses Verfahren am ehesten als "typisch" für die Verfolgung "gewöhnlicher" Homosexueller gelten; dies kann angenommen werden, obgleich drei der vier Angeklagten in diesem Prozeß NSDAP-Funktionäre waren.
Angesichts des hohen Organisationsgrades der Bevölkerung im Nationalsozialismus ist es nicht verwunderlich, daß unter den verurteilten Homosexuellen auch viele Mitglieder der NSDAP oder ihrer Formationen waren. Für die Pfalz, ebenfalls eine ländliche und daher mit Schleswig-Holstein vergleichbare Region, hat Burkhard Jellonnek festge-
stellt, daß in 28% der Ermittlungsfälle der Gestapo die Homosexuellen aus "den eigenen Reihen" stammten. [41] In der Metropole Düsseldorf waren sogar 56,67% der Homosexualitätsverdächtigen NSDAP-Mitglieder. [42] Zwar wurden die Ermittlungen gegen verdächtige Parteigänger intensiver betrieben, aber die erhöhte Abgaberate der Gestapo an die Strafverfolgungsbehörden schlug sich nur in einem geringfügig angestiegenen Prozentsatz von Freiheitsstrafen nieder. Die überführten Parteigänger wurden umgehend aus der Partei und ihren Gliederungen ausgeschlossen. [43]
Am 3. September 1937 fand in Itzehoe ein Prozeß gegen vier Männer statt, unter ihnen drei Funktionäre der NSDAP: der 1895 geborene Lehrer T. war seit dem 1. August 1932 Mitglied der NSDAP und inzwischen Organisationsleiter einer Ortsgruppe im Kreis Steinburg und Amtswalter der örtlichen NSV, der 1894 geborene Bankvertreter B. war Geschäftsführer und Kassenamtswalter ebendieser Ortsgruppe, und der 28jährige Landwirt M. - seit dem 3. November 1931 NSDAP-Mitglied - war politischer Amtswalter eines anderen Ortes. [44] Der Lehrer V., Jahrgang 1902, war ausschließlich Mitglied der NSDAP und gehörte zu den im Volksmund ironisch als "Märzgefallene" Titulierten: er war der Partei kurz nach der Machtübernahme im März 1933 beigetreten.
Aus der Urteilsbegründung ist ersichtlich, welche Umstände das Gericht als Milderungsgründe betrachtete und was es als strafschärfend bewertete. Der Lehrer T. wurde nach §175 alter und neuer Fassung StGB zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt und erhielt damit unter den vier Angeklagten die höchste Strafe. Zum Vergleich: die im Rahmen der "Säuberungsaktion gegen Volksschädlinge" im Sommer 1936 festgenommenen und verurteilten Homosexuellen wurden zu Strafen von einem Jahr bis zu einem Jahr und acht Monaten Gefängnis verurteilt. [45]
Das Gericht bewertete die Handlungen des T. nach §175 StGB alter Fassung, sofern sie vor dem 1. September 1935 begangen worden waren, und beurteilte die nach diesem Zeitpunkt "begangenen Taten" nach der neuen Fassung des §175 StGB. "So hält die Strafkammer auch die 'wechselseitige Onanie' nach §175 StGB für strafbar und schließt sich hiermit der Rechtsprechung des Reichsgerichts an. Das höchste deutsche Gericht hatte in seiner Entscheidung vom 1. August 1935, als die Neufassung des § 175 schon verabschiedet war, die Strafbarkeit auf dem Wege der extensiven Interpretation des § 175 a.F. erweitert. War bisher die mutuelle, die wechselseitige Onanie nicht als beischlafähnliche Handlung eingestuft worden und damit nicht strafbar gewesen, so urteilt das Reichsgericht nun, daß auch diese Art der geschlechtlichen Befriedigung von Männern untereinander als beischlafähnlich zu gelten habe, da auch sie einen Ersatz des normalen Beischlafs darstelle." [46]
Das hohe Strafmaß des Lehrers T. resultierte vor allem daraus, daß das Gericht ihn für "im stärksten Maße gleichgeschlechtlich" hielt, zumal er auch keinen Hehl aus seiner Veranlagung machte, und daß er promisk gelebt hatte, also relativ häufig seine Sexualpartner gewechselt hatte. Der promisk lebende Mann, dem dieses auch nachgewiesen werden konnte, mußte mit den empfindlichsten Strafen rechnen. [47] Die drei an-
deren Beklagten leisteten vor Gericht "Nie wieder!"-Gelöbnisse und betonten, daß sie "nicht unheilbar gleichgeschlechtlich veranlagt" seien. Zur Verhandlung standen insgesamt fünf Taten des Lehrers, die mit drei der Mitangeklagten und einem weiteren Mann erfolgt waren. Zwei dieser Handlungen wertete das Gericht als "fortgesetzte" Straftaten.
Interessant ist hierbei die richterliche Definition der "fortgesetzten Handlung" im Falle der "widernatürlichen Unzucht": "Die in der Zeit von 1930 - 1934 begangenen Unzuchtshandlungen des Angeklagten T. und V. sind als eine fortgesetzte Handlung anzusehen. Die Angeklagten haben im Jahre 1930 den einheitlichen Vorsatz gefaßt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit immer wieder Unzuchtshandlungen miteinander zu begehen, sobald sie dazu Neigung verspüren würden. Es war von vornherein eine Kette der Zahl nach unbestimmter Einzelhandlungen mit einem bestimmten Partner beschlossen. Die Einzelhandlungen haben daher als eine einheitliche Handlung zu gelten. [...] Bei einem Wechsel in der Person des Partners ist ein neuer Entschluß festzustellen, mit diesem Partner eine unbestimmte Zahl von Unzuchtshandlungen zu begehen." Die Handlungsabsicht, die auf eine Handlung gerichtet ist, die das Anglo-Amerikanische als "One-night-stand" zu bezeichnen pflegt, lag damit außerhalb des Vorstellungsvermögens der Richter. Ihre Konstruktion muß angesichts der Komplexität menschlicher Beziehungen als reine Fiktion abgetan werden.
Strafschärfend wirkten sich auch bestimmte sexuelle Techniken aus, sofern sie über Küssen und gemeinsame Onanie hinausgingen. Entgegen landläufiger Vorurteile wurden der Anal-, Mund- und Schenkelverkehr oder wechselseitige Onanie nur von einem Teil der Homosexuellen praktiziert; so hat Jellonnek für die von ihm untersuchten Regionen Pfalz, Würzburg und Düsseldorf festgestellt, daß zwischen 16 und 26% den Analverkehr, etwa 16% Mund- bzw. Schenkelverkehr und zwischen 39 und 53% wechselseitige Onanie betrieben. [48] "Der Angeklagte hat nicht nur wechselseitige Onanie in zahlreichen Fällen begangen, sondern hat es auch zu den besonders ekelhaften Formen des After-, Schenkel- und Mundverkehrs kommen lassen," hieß es mißbilligend über T.
Grundsätzlich spielte der Tatzeitpunkt eine Rolle. Hatte die Tat noch in der "Systemzeit", also in der Weimarer Republik stattgefunden, so wurde dies, sofern nicht sowieso schon Verjährung eingetreten war, mildernd berücksichtigt. Auch Tathandlungen in den ersten Jahren nach der "nationalen Revolution" wurden weniger scharf sanktio-niert als Verfehlungen, die nach den Röhm-Morden begangen worden waren und somit zu einer Zeit, als jedem Deutschen der Umgang des Regimes mit dem "Laster" Homosexualität bekannt zu sein hatte.
Dies galt in besonderem Maße für NSDAP-Funktionäre wie T.: "Er hat, was ihm als politischem Leiter als besonders verwerflich anzurechnen ist, auch nach 1933 die Unzuchtshandlungen fortgesetzt, obwohl er als politischer Leiter genau wußte, daß seine Verhaltensweise im schärfsten Widerspruch zu dem Verhalten stand, das von ihm in seiner Eigenschaft als politischem Leiter verlangt werden mußte." Die Mitangeklagten B. und M. sagten
entsprechend aus, sie hätten ihre Beziehungen im Herbst 1935 abgebrochen, "weil sie sich mehr und mehr darüber klar wurden, daß dies unzulässig sei und von dem neuen Staat mit harten Strafen verfolgt werde."
Weiterhin wirkte es sich sowohl für T. als auch für V. zu ihren Ungunsten aus, daß sie als Lehrer an öffentlichen Schulen tätig und damit Jugenderzieher waren. Schließlich ist einer der Partner von T. zum Tatzeitpunkt im Sommer 1932 gerade "erst" 18 Jahre alt und damit nach damaligem Recht noch jugendlich gewesen.
Als Milderungsgründe berücksichtigte das Gericht neben dem vollen Geständnis,"daß er im Kriege besonderes geleistet hat, daß er sich als politischer Leiter für den neuen Staat eingesetzt hat und daß er den Versuch gemacht hat, gegen seine Veranlagung anzukämpfen." T. war laut Urteil nicht nur "in die NSDAP eingetreten, in der Hoffnung und zum Teil auch mit dem Ziel, durch die politische Betätigung und durch die Zucht der Partei, von seiner Veranlagung loszukommen", sondern er hatte auch Frauenturngruppen eingerichtet und geleitet, "in der Hoffnung, gerade durch harmlosen Verkehr mit dem anderen Geschlecht seine Veranlagung zu bekämpfen. Es habe aber alles nichts geholfen." Als 27jähriger habe er mit Selbstmordgedanken gespielt, nachdem er sich endgültig über seine Veranlagung klar geworden sei, habe jedoch aus Rücksicht auf seine alte Mutter von dem Vorhaben Abstand genommen.
Die anderen drei Angeklagten wurden zu Gefängnisstrafen zwischen fünf und acht Monaten verurteilt und lagen damit bei dem durchschnittlichen Strafmaß von sechs Monaten für Homosexuelle, denen keine Handlungen mit Jugendlichen zur Last gelegt wurden. [49] Die Einzelstrafen für die jeweiligen Handlungen lagen in den meisten Fällen zwischen einem und fünf Monaten. Schärfer bestraft wurde die "fortgesetzte" Handlung, zumal wenn sie sich "über einen längeren Zeitraum" erstreckt hatte. Die Einzelstrafen wurden zu einer Gesamtstrafe addiert, die jeweils etwa 20% unter der rechnerischen Gesamtsumme lag.
Der Bauer M. machte auf die Strafrichter einen "besonders guten Eindruck", hatte "am offensten ausgesagt" und galt, da "im Gegensatz zu den an-deren, die sämtlich eine mehr oder weniger gleichgeschlechtliche Veranlagung haben", als "normal veranlagt", als "verführt" und "nur durch unglückliche Umstände in das Treiben gleichgeschlechtlich veranlagter Männer hineingezogen." Der Bankvertreter B. war immerhin verheiratet, Familienvater und ebenso wie T. kriegsverdient. B. hatte jedoch den M. erstmals "verführt", als dieser 22 Jahre alt gewesen ist, und dies, "obwohl er erkannte, daß sich M. ihm als väterlichem Freund besonders anvertraute." Zwischen den Zeilen stufte das Gericht also auch die "Verführung" eines 22jährigen als Akt der "Jugendverführung" ein, der eine achtmonatige Freiheitsstrafe rechtfertigen mußte.
Dem Lehrer V. billigte die Strafkammer eine Strafe von "nur" sieben Monaten allein deshalb zu, weil er seinerzeit schon eine neunmonatige Gefängnisstrafe wegen eines Vergehens gegen §174 Ziff. 1 StGB - es ging um die "Verfehlung" mit einem Schüler - verbüßte. Bei ihm machte das Gericht nicht nur ähnliche Momente wie bei T. strafschärfend geltend, sondern rechnete ihm
auch negativ an, daß er sich "vorhergehende dienststrafrechtliche Maßnahmen" keine Warnung hatte sein lassen.
Drei der vier Angeklagten wurden durch Rechtsanwälte vertreten. Der Rechtsanwalt des Lehrers T. wurde erst nach der Urteilsverkündung richtig aktiv, als er eine Begnadigung mit verbundener vorzeitiger Entlassung auf Bewährung durchzusetzen versuchte. Da sein Mandant offen ausgesagt hatte, waren die Verteidigungsstrategien vor Gericht sicherlich stark eingeschränkt. Auch die Verwandten des T. - wie sein Schwager, ein Berliner Kunsthändler und NSDAP-Mitglied seit 1931 - wendeten sich in Petitionen an die Itzehoer Staatsanwaltschaft. Im Endeffekt wurden T. die letzten zwei Monate seiner Strafe auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt.
Die berufliche Perspektive für verurteilte Homosexuelle sah schlecht aus. Beamte wurden aus dem Staatsdienst entlassen, oft bereits vor der Urteilsverkündung. [50] Schon nach der Verhaftung wurde gegen die Lehrer T. und V. ein Dienststrafverfahren eingeleitet, das mit einer Kürzung des Gehalts um 25% endete. Nach ihrer Verurteilung wurden sie beide entlassen. Der Lehrer T. hatte insofern Glück, als Verwandte ihm hilfreich unter die Arme griffen. Sein Schwager, der erwähnte Berliner Kunsthändler, setzte ihn als Geschäftsführer eines seiner Berliner Läden ein, den er ursprünglich hatte verkaufen wollen.
Für T. war sicherlich auch der Ortswechsel willkommen, denn ein weiterer Aufenthalt in dem kleinen Steinburger Ort mit seinen 900 Einwohnern hätte für ihn, zumal er erst im Oktober 1935 dort zugezogen war, vermutlich ein Spießrutenlaufen bedeutet. Homosexualität, gleich welcher Spielart, wurde von weiten Teilen der ländlichen Bevölkerung unterschiedslos diskriminiert. [51] Als die Itzehoer Staatsanwaltschaft nach Ablauf der Bewährungfrist im Sommer 1944 in Berlin anfragte, ob T. erneut straffällig geworden sei, erhielt sie einen negativen Bescheid.
Besonders hart bestraft wurden Pädophile; sie entsprachen aus NS-Sicht dem Typus des "Jugendverderbers". [52] Bei Handlungen mit Jugendlichen lag die durchschnittliche Strafhöhe bei zwei Jahren. [53] Betrachten wir für den Landgerichtsbezirk Itzehoe die 13 Angeklagten, die in der Prozeßberichterstattung der Jahre 1937 und 1938 als "Jugendverderber" etikettiert wurden, so lag das durchschnittliche Strafmaß bei 17 Monaten. Nicht berücksichtigt wurde hier-bei die Verhängung von Sicherungsverwahrung in einem Fall, nicht mitgezählt wurde ein Mann, der in eine Heilanstalt eingewiesen wurde.
Allerdings läßt die journalistische Verwendung der Bezeichnung "Jugendverderber" nicht mit letzter Sicherheit darauf schließen, daß der jeweilige Beklagte tatsächlich mit Minderjährigen "Unzucht getrieben" hatte; vereinzelt wurde mit diesem Terminus nur auf die potentielle Gefahr hingewiesen, die vermeintlich von einem jeden Homosexuellen für die Jugend ausging.
Milderungsgründe konnten auch bei "Jugendverderbern" Platz greifen. Der 79jährige D. aus Horst wurde im Dezember 1937 beschuldigt, "mehrfach in
ekelhafter Weise" mit dem 17jährigen Bäckerlehrling W. "widernatürliche Unzucht" getrieben zu haben, nachdem er ihm dafür Geld geboten hatte. [54] Trotz des "Ekels" der Strafrichter fiel die Strafe für den 79jährigen mit vier Monaten Haft relativ milde aus - "mit Rücksicht darauf, daß der Mann bisher unbestraft war und im Hinblick auf sein hohes Alter." Außerdem hatte der Mann nur einen Fall zugegeben, und der als Zeuge aussagende Bäckerlehrling galt bei seinem Lehrherrn, der ebenfalls als Zeuge auftrat, als "nicht ganz ehrlich".
So wie ein hohes Alter das Strafmaß begünstigte, so hatte auch ein jüngerer Täter bessere Chancen. Jugendliche konnten auf milde Richter hoffen. [55] Der 24jährige Ernst Sch. aus Hetlingen hatte von 1929 bis 1934, also als er selber zwischen 16 und 21 Jahre alt und damit noch minderjährig war, mit zwei Schülern unter 14 Jahren "widernatürliche Unzucht getrieben." [56] Obgleich der Staatsanwalt die Tat "als eine ganz üble" bezeichnete, "weil er sich nicht gescheut habe, unschuldige Kinder zu verführen", billigte er Sch. mildernde Umstände zu, da dieser "seine Verfehlungen aufrichtig" bereut habe. Das Gericht war außerdem der Ansicht, daß der Angeklagte nicht rückfällig werden würde. Entsprechend erkannte die Kammer auf die beantragten neun Monate Haft und rechnete die Untersuchungshaft an.
Strafschärfend wirkte sich wiederum eine hohe Zahl von Vergehen aus. Ein Kaufmann aus Meldorf war in den Augen der Staatsanwaltschaft der "Ursprung der in Meldorf und Umgebung vorgekommenen Unsittlichkeit." [57] Er hätte nicht nur mit vielen jungen Kunden seines Geschäftes "widernatürliche Unzucht getrieben", sondern hätte sogar in einigen Fällen mit jungen Leuten Reisen gemacht. Für ihn forderte die Itzehoer Staatsanwaltschaft dreieinhalb Jahre Haft, der Richter erkannte schließlich auf zwei Jahre und neun Monate Gefängnis unter Anrechnung einer dreimonatigen Untersuchungshaft.
Kam zu einem derartigen Strafmaß kurz vor Kriegsbeginn noch die Anordnung der Sicherungsverwahrung hinzu, dann war dies in der Praxis fast gleichbedeutend mit der Verhängung eines Todesurteils auf Raten. In Marne war der aus Altona stammende 38jährige Musiker Ernst J. seit August 1937 in einem dortigen Hotel als Hausdiener angestellt. [58] Am 13. November desselben Jahres wurde er wegen des Verdachts homosexueller Handlungen mit Jugendlichen festgenommen und im Meldorfer Gerichtsgefängnis inhaftiert. Pikanterweise war schon sein Vorgänger, der Hausdiener M., wegen angeblichen geschlechtlichen Verkehrs mit Jungen verhaftet worden.
Für Ernst J. sah die Lage sehr schlecht aus, da er schon drei einschlägige Vorstrafen besaß, wobei zwei Verurteilungen in der Weimarer Republik erfolgt waren. Zuletzt hatte ihn das Amtsgericht Hamburg wegen "widernatürlicher Unzucht" zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, die er erst im Mai desselben Jahres verbüßt hatte. Von Marne aus war er wiederholt nach Hamburg gefahren und hatte sich dort u.a. mit einem Transvestiten getroffen.
Zum Verhängnis war ihm geworden, daß er aufgrund seiner Vorstrafen unter polizeilicher Beobachtung gestanden hatte. Obgleich ihm zur Auflage gemacht worden war, "sich nicht an Jugendliche heranzumachen und bei sol-
[Abb. 3: Urteil des Verfahrens gegen Ernst J. vom 17. Februar 1938]
chen sich aufzuhalten", "verführte" er im Heizungskeller des Hotels drei Lehrlinge. Dabei befriedigte er entweder die Jugendlichen oral oder onanierte bei sich selber, während er die Geschlechtsteile der Jugendlichen anfaßte.
Für jeden dieser Fälle wurde er zu einem Jahr Zuchthaus, in einem Fall sogar zu einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Außerdem wertete das Gericht Ernst J. "auf dem hier fraglichen Gebiet" als "gefährlichen Gewohnheitsverbrecher", der "auf Grund seiner gleichgeschlechtlichen Veranlagung dazu" neige, "immer wieder rückfällig zu werden. [...] Seine Hemmungslosigkeit auf diesem Gebiet ist, wie sein Vorleben zeigt, so groß, daß nach Verbüßung der nunmehr verhängten Strafe damit gerechnet werden muß, daß er sehr wahrscheinlich wiederum rückfällig wird. Darin aber liegt eine schwere Gefahr für die männliche Jugend. Diese muß mit allen Mitteln davor behütet werden, in geschlechtlicher Hinsicht auf Irrwege geführt und damit zur Erfüllung der ihr von der Volksgemeinschaft zur Volkserhaltung gestellten Aufgaben untauglich gemacht zu werden. Die öffentliche Sicherheit erfordert daher, daß der Angeklagte nach Verbüßung seiner Strafe in Sicherungsverwahrung genommen wird. Die Allgemeinheit muß auch nachher vor dem Angeklagten geschützt werden. Ein solcher Jugendverführer wie der Angeklagte hat auch keinen Anspruch darauf, der Volksgemeinschaft weiterhin als vollwertiges Glied anzugehören. Es sind ihm daher die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von fünf Jahren aberkannt worden."
Ernst J., der durch einen Marner Rechtsanwalt verteidigt wurde, legte umgehend gegen das Urteil Revision ein, soweit es auf Sicherungsverwahrung erkannt hatte, und rügte die Verletzung materiellen Rechts, ohne daß im einzelnen darauf eingegangen wurde, worin die Rechtsverletzung bestünde. Am 31. März 1938 verwarf der 3. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig nach Anhörung des Oberreichsanwalts die Revision als "offensichtlich unbegründet". Da J. keine politischen Beweggründe geltend machen konnte, fiel er auch nicht unter das Straffreiheitsgesetz vom 1. Mai 1938. Nachdem er seit Juni 1938 seine Strafe im Zuchthaus Bremen-Oslebshausen abgesessen hatte, wurde Ernst J. im August 1940 zunächst in die Sicherungsanstalt Rendsburg verlegt, um hier "verwahrt" zu werden, dann wurde er sechs Wochen später in die Sicherungsanstalt ins oberhessische Butzbach verlegt.
Am 14. September 1942 kam es zu einer Besprechung zwischen dem kurz zuvor ernannten Reichsjustizminister Thierack und Goebbels über das Thema "Vernichtung asozialen Lebens." [59] In einer Gesprächsnotiz hielt Thierack fest: "Der Gedanke der Vernichtung durch Arbeit sei der beste." [60] Vier Tage später legte er in einer Besprechung mit Himmler den Personenkreis fest und notierte hierzu: "Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer-SS zur Vernichtung durch Arbeit. Es werden restlos ausgeliefert die Sicherungsverwahrten, Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer, Polen über drei Jahre Strafe, Tschechen oder Deutsche über 8 Jahre Strafe nach Entscheidung des Reichsjustizministers. Zunächst sollen die übelsten asozialen Elemente unter letzteren ausgeliefert werden." [61]
In diesem Kontext wird die Übergabe
[Abb. 4: Ablehnung des Revisionsantrages im Verfahren gegen Ernst J. durch das Leipziger Reichsgericht vom 31. März 1938]
[Abb. 5: Bescheid über Sicherungsverwahrung Ernst J.s]
von Ernst J. an die Polizei Giessen am 9. Dezember 1942 betrachtet werden müssen. Im Januar 1944 schloß der Itzehoer Leitende Oberstaatsanwalt die Akte Ernst J. mit der Bemerkung: "Nach Bl. 15 ist der Verurteilte der Polizei übergeben, damit ist die Strafvollstreckung m. E. erledigt."
Der Umgang mit den "Opfern" des J. zeigt, daß gerade Heranwachsende, die mit erwachsenen Männern homosexuelle Kontakte hatten und im Sinne der NS-Ideologie zumeist als "Verführte" galten, auf eine milde Behandlung durch Staatsanwaltschaft und Gericht hoffen konnten. [62] Das zunächst gegen die drei sechzehn- und siebzehnjährigen Dithmarscher Lehrlinge eingeleitete Verfahren wurde von der Itzehoer Staatsanwaltschaft eingestellt. Alle drei waren nicht vorbestraft, zwei von ihnen gehörten der HJ an.
Inwieweit die drei aus freier Entscheidung an den Handlungen beteiligt gewesen sind, läßt sich aus Zeugenaussagen wie der folgenden höchstens erahnen: "J. wollte einmal fühlen, wie tief meine Taschen waren. Dabei hat er mir dann an meinen Geschlechtsteil gefaßt. Was er mit seiner anderen Hand machte, weiß ich nicht, darauf habe ich nicht geachtet. Das Licht im Heizraum brannte dabei. Ich habe dabei nichts gesagt. Als ich ihn dann ansah, zog er seine Hand bald wieder heraus und ich bin dann fortgegangen."
Dabei sollte die Äußerung eines Lübecker Homosexuellen berücksichtigt werden, der im hohen Alter über sich als 15jährigen aussagt: "Man wird nicht verführt, sondern man wird entdeckt! Ich wurde also entdeckt von einem wesentlich älteren Mann. Ich wollte es einfach wissen." [63] Es bestand also durch-
[Abb. 6: Bescheid über die Verlegung Ernst J.s nach Giessen]
aus ein Interesse des Staates, gerade junge, zuvor noch nicht auffällig gewordene Männer als "normal" einzustufen, um die Verfolgtenzahlen nicht übermäßig hochzutreiben, und zu diesem Zweck in manchem Fall den Wunsch zum Vater des Gedankens zu machen.
Angesichts der schweren Sanktionen, mit denen der NS-Staat homosexuelle Handlungen unter Männern bedrohte, verwundert es nicht, daß Schwule oft Opfer von Erpressungen wurden, zumal viele der solchermaßen Bedrängten auf die Forderungen der Erpresser eingingen. In den beiden Fällen, die für den Landgerichtsbezirk Itzehoe belegt sind, war allerdings auch der Erpresser selber an homosexuellen Handlungen beteiligt gewesen. Wer auf derartige Weise die Notlage Homosexueller auszunutzen suchte, wurde im Falle der Entdeckung schwer bestraft.
Der 21jährige Hannoveraner K., der wegen einer Hehlereisache in Glückstadt in Haft saß, schrieb aus dem Gefängnis Briefe an einen anderen Han-noveraner, "in denen er ihn unter Drohung zur Herausgabe von Geldmitteln und eines Anzugs aufforderte". [64] Der Brief wurde aber von dem Anstaltsdirektor angehalten und an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet. Vor Gericht äußerte sich der Angeklagte auf die Frage nach seinen Motiven für die brieflichen Forderungen und Drohungen nur dahingehend, daß der Hannoveraner versprochen hätte, ihn zu unterstützen. Das Itzehoer Schöffengericht vermutete, daß die beiden homosexuelle Handlungen miteinander unternommen hätten. Aufgrund zahlreicher Vorstrafen und "mit Rücksicht auf die schlechte Tat" wurde K. zu acht Monaten Gefängnis verurteilt.
[Abb. 7: Urteil gegen Karl R. und Hans P. vom 17. November 1939]
Das Itzehoer Landgericht griff drei Jahre später, in den Spitzenzeiten der Homosexuellen-Verfolgung, zu noch drakonischeren Strafen. Der 26jährige Karl H. aus Elmshorn hatte der Gerichtserkenntnis zufolge nicht nur seit seinem 18. Lebensjahr fortgesetzt mit dem inzwischen 28jährigen Karl-Heinz M. aus Hamburg-Harburg homosexuell verkehrt, sondern sollte diesen auch unter Drohung gezwungen haben, ihm 800 bis 900 RM zu zahlen. [65] Während die Angeklagten hinsichtlich der homosexuellen Handlungen geständig waren, bestritt H. den Erpressungsvorwurf: "Er will das Geld so bekommen haben."
Das Gericht ging bei beiden Männern über das vom Staatsanwalt geforderte Strafmaß hinaus und verurteilte M. zu acht Monaten, H. zu zwei Jahren Gefängnishaft. Entsprechend können wir davon ausgehen, daß die Strafkammer H.'s "Erpressung", die sie mit etwa 16 Monaten Haft sanktionierte, wesentlich strenger ahndete als die "widernatürliche Unzucht". Vergleichbar scharfe Urteile sind auch aus Hamburg bekannt, die von neun Monaten in einem Fall reichen, in dem sich das Gericht in erster Linie über das erpreßte Opfer erregte, bis zu 4 1/2 Jahren Gefängnis für eine Frau, die mit Hilfe ihres Sohnes, der als "Lockvogel" fungierte, systematisch Homosexuelle erpreßte. [66]
Womit mußten in den Jahren der NS-Herrschaft Männer rechnen, denen nicht nur der Vorwurf homosexueller Aktivitäten gemacht wurde, sondern die zusätzlich aufgrund "rassischer" oder sozialer Stigmatisierungen zu den von den Nationalsozialisten diskriminierten oder verfolgten Minderheiten gehörten? Das Itzehoer Aktenmaterial belegt die Fälle zweier Arbeitshausinsassen sowie eines "Geistesschwachen" und eines polnischen Zivilarbeiters.
Häftlinge der Arbeitshäuser waren nach dem Verständnis der NS-Ideologie "Ballastexistenzen", deren sich die Volksgemeinschaft nach Möglichkeit entledigen sollte. Sie mußten im Falle homosexueller Betätigung mit besonders drakonischen Strafen rechnen. Der Bäcker Hans P. wurde im Sommer 1937 im Alter von 71 Jahren in die Landesarbeitsanstalt in Glückstadt eingeliefert. [67] Hans P. begann schon im wilhelminischen Kaiserreich eine biographische Karriere, die für viele Insassen der Arbeitshäuser als typisch gelten kann. Mit 17 Jahren wurde er erstmals bestraft, 65 weitere Strafen folgten, in den ganz überwiegenden Fällen wegen Bettelei oder Landstreichens. Als er in Glück-stadt inhaftiert wurde, hatte er mindestens 20 Jahre seines Lebens im Gefängnis, in Haft oder im Arbeitshaus verbracht.
Im Glückstädter Arbeitshaus lernte P. den mehr als vierzig Jahre jüngeren Lackierer Karl R. kennen, der im Januar 1937 nach Glückstadt eingewiesen worden war. Auch er besaß schon elf Vorstrafen. Als P. zum Reinigen der Schlafsäle abgestellt war, suchte R. ihn dort auf, und es kam zwischen beiden zu homosexuellen Handlungen. Ein Wärter überraschte sie bei einem dieser Treffen.
Die Itzehoer Strafkammer unter Vorsitz des Landgerichtspräsidenten Seidenstücker beurteilte P. in Anbetracht
seiner Vorstrafen als "gefährlichen Gewohnheitsverbrecher." "Lediglich mit Rücksicht auf sein Alter und mit Rücksicht darauf, daß der Angeklagte von vorherein geständig war und der treibende Teil nicht er, sondern der Angeklagte R. war, hat das Gericht die Mindeststrafe von einem Jahr Zuchthaus (§14 StGB) als diesmal noch ausreichend angesehen." Außerdem hielten es die Itzehoer Richter für erforderlich, für den inzwischen 72jährigen Mann Sicherungsverwahrung anzuordnen. R. wurde als "der wohl allein treibende Teil bei diesem widerlichen Treiben" zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
Die extrem schweren Strafen, zumal es sich um homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern handelte, sind nicht nur aus der durch die Richter entsprechend "gewürdigten" Biographie der Angeklagten zu interpretieren, sondern sind hinsichtlich ihrer Höhe sicherlich auch kriegsbedingt. Denn dreieinhalb Jahre zuvor wurden zwei andere Insassen der Landesarbeitsanstalt wegen einer ähnlichen "Tat" zu einem respektive einem halben Jahr Gefängnis verurteilt. [68]
P. saß seine Gefängnishaft im Zuchthaus Fuhlsbüttel ab und wurde am 17. November 1940 in die Sicherungsanstalt in Rendsburg überstellt, um dort verwahrt zu werden. Was dann weiter mit ihm geschah, läßt sich leicht erahnen.
Im November 1945, es waren also inzwischen fünf Jahre seit der Einlieferung in Rendsburg vergangen, fragte der Itzehoer Oberstaatsanwalt in Rendsburg an, wie es um den Sicherungsverwahrten Hans P. stünde. In dem Antwortschreiben bestätigte sich die Vermutung, daß auch Hans P. ins KZ eingeliefert wurde. Der Vorstand der Vollzugsanstalt vermeldete nach Itzehoe, daß P. am 26. November 1942 in das österreichische Konzentrationslager Mauthausen, etwa 20 km südöstlich von Linz, überstellt worden war: "Über den weiteren Verbleib des P. ist hier nichts bekannt."
Dieses Schicksal teilte P. mit vielen anderen Homosexuellen. Im selben Jahr wurde in Hamburg der Tiefbauarbeiter H., der - insofern teilt er ein ähnliches Lebensschicksal wie P. - seit 1898 bereits insgesamt 21 Jahre und sechs Wochen wegen Sexualdelikten in Haft verbracht hatte, zu zwei Jahren Zuchthaus und Sicherungsverwahrung verurteilt. [69] Auch er wurde 1942 ins Konzentrationslager Mauthausen eingeliefert und gilt heute als "verschollen." [70]
In Mauthausen traf erstmals am 9. September 1939 eine Gruppe österreichischer Homosexueller ein. [71] Zwischen Februar und Juli 1944 verzeichneten die Lagerbücher von Mauthausen zwischen 50 und 60 homosexuelle Häftlinge. [72] Das Schicksal der Homosexuellen in den Konzentrationslagern "kann man nur als entsetzlich bezeichnen", schreibt Eugen Kogon schon 1947. "Wenn sie etwas möglicherweise zu retten vermochte, so die Aufnahme gleich zweifelhafter Beziehungen im Lager selbst, was ihr Leben ebenso erleichtern wie gefährden konnte. Wem war das aber gegeben? Sie sind fast alle zugrundegegangen." [73] Das Konzentrationslager Mauthausen bestand, von den Innenkommandos abgesehen, fast ausschließlich aus Steinbrüchen, und "die Steinbrüche waren in allen Lagern die wahren Himmelfahrtskommandos." [74] Hinzu kam, daß Mauthausen zu den von den "kriminellen" Häftlingen be-
[Abb. 8: Überstellungsbescheid Hans P.s nach Mauthausen]
herrschten Konzentrationslagern gehörte. [75] In Mauthausen ließ der Lagerkommandant Ziereis Anfang der 1940er Jahre Gaskammern bauen, angeregt durch eine Besichtigung des Schlosses Hartheim, einer der "Euthanasie"-Tötungsanstalten, die ebenfalls bei Linz gelegen war. [76] Da die "Tötungskapazitäten" von Mauthausen nicht ausreichten, wurde Hartheim bis Dezember 1944 als nahegelegene Tötungsanstalt gebraucht. Angesichts dieser Umstände erscheint es höchst unwahrscheinlich, daß der im Jahre seiner KZ-Einlieferung schon 74 Jahre alte Hans P. die Befreiung Mauthausens im Mai 1945 noch erlebt hat.
Vereinzelt wurden Homosexuelle nach Verbüßung der Strafhaft oder statt Verurteilung zu Gefängnisstrafen als "unzurechnungsfähig" in Heil- und Pflegeanstalten eingewiesen. Im September 1940 fand vor der Itzehoer Strafkammer der Prozeß gegen einen 35jährigen Mann aus Schenefeld, Kreis Pinneberg, statt. [77] Er sollte einen 15jährigen, der in der Feldmark Kaninchenfutter gesucht hatte, "mit üblen Redensarten belästigt und sich ihm unsittlich gezeigt haben." Wegen ähnlicher Vergehen war er mehrfach vorbestraft. Obwohl der Arzt den Mann "für beschränkt und für nicht ganz zurechnungsfähig" hielt, verurteilte das Gericht ihn zu einer dreimonatigen Gefängnisstrafe. Wenngleich der
Grad der "Unzurechnungsfähigkeit" nicht ausreichte, den Mann vor einer Verurteilung zu bewahren, wurde seine Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt angeordnet, "da er eine stetige Gefahr für die Jugend" wäre.
Der 35jährige Schenefelder gehörte nach der Verkündung dieses Urteils zu einer der gefährdetsten Gruppen Homosexueller, die in die Verfolgungsmaschinerie der Nazis geraten waren. An den "kriminellen Geisteskranken", also Menschen, denen in einem ordentlichen Gerichtsverfahren die Zurechnungsunfähigkeit bescheinigt worden war, wurde "sozusagen nachträglich die Todesstrafe (in den Gaskammern der Tötungsanstalten) vollstreckt." [78] Der Psychiater Werner Heyde, von 1939 bis 1942 Leiter des Euthanasie-Programms, erließ die Anordnung, "die Kriminellen besonders scharf zu beurteilen." [79]
In Bokholt im Kreis Pinneberg arbeitete im Sommer 1939 der 35jährige Wilhelm W. als landwirtschaftlicher Arbeiter auf einem Hof. [80] Am 20. Juli desselben Jahres wurde er festgenommen. W. habe im Juni und Juli 1939 einem 13jährigen Landjahrmädchen und einem gleichaltrigen landjahrpflichtigen Jungen, die beide bei demselben Bauern angestellt waren, auf dem Dachboden sein Geschlechtsteil gezeigt. Beim Verlassen des Dachbodens habe er zu dem Mädchen gesagt: "Es wird höchste Zeit, daß Du mal beim Bock kommst."
Etwa um dieselbe Zeit forderte er einen neunjährigen Schüler auf dem Hof auf: "Hol' Du mein Ding aus der Hose, dann hole ich auch Dein Ding heraus." Der Junge ging auf W.s Angebot jedoch nicht ein, sondern lief davon. Da das Landjahrmädchen keinen Strafantrag stellte, war hinsichtlich dieses Anklagepunktes eine Strafverfolgung nicht möglich. Die Anklage beschränkte sich also auf zwei Straftaten nach § 175a StGB.
Nachdem W. für zwei Wochen in der Landesheilanstalt in Neustadt zur Beobachtung eingewiesen worden war, legte der dortige Assistenzarzt Dr. Curtze ein Gutachten vor, auf das die Itzehoer Strafkammer unter Vorsitz von Landgerichtspräsident Seidenstücker ihr Urteil vom 6. Dezember 1939 gründete. Dr. Curtze führte aus, daß es nicht eindeutig zu klären wäre, ob es sich bei W. "um einen reinen Exhibitionisten und Homosexuellen handelt." Jedenfalls wäre "das Auftreten beider Perversitäten zusammen recht selten. W. schwankt zwischen Hetero- und Homosexualität." Entscheidend für das Urteil des Gerichts waren jedoch zwei andere Momente: zum einen konstatierte Curtze bei W. "angeborenen Schwachsinn", wobei er sich unter anderem auf eine entsprechende Diagnose des Gesundheitsamtes Pinneberg berief. Zum anderen fiel W. in die Kategorie "Jugendverführer". "Der Angeklagte ist jedoch, wie seine Handlungen zeigen, in sexueller Beziehung hemmungslos, und zwar, wie der Sachverständige ausführt, sowohl in exhibitionistischer als auch in homosexueller Richtung. Damit bedeutet er eine schwerwiegende Gefahr für seine Umgebung, insbesondere für die Jugend." Unter Anwendung des § 42f StGB ordnete das Gericht die Unterbringung von W. in einer Heil- und Pflegeanstalt an.
Nachdem Wilhelm W. die ersten zwei Jahre in der Landesheilsnatlt Neustadt in Holstein untergebracht war, wurde er am 28. September 1941 in die Landesanstalt Neuruppin verlegt. Neuruppin nahm im "Euthanasie"-Programm die
[Abb. 9: Anfrage nach dem Zustand Wilhelm W.s]
Funktion einer sog. "Zwischenanstalt" ein. [81] Diese Anstalten wurden im Herbst 1940 zur besseren Tarnung der "Euthanasie"-Tötungen eingerichtet. Die Patienten kamen nicht mehr direkt zum Vergasungsort, sondern wurden zunächst in eine der Zwischenanstalten "verlegt", wo sie einige Zeit blieben, ehe man sie in eine der Tötungsanstalten brachte. [82]
Die Anstalt Neuruppin verfertigte am 6. April 1942 ein erneutes Gutachten über Wilhelm W. Er fügte sich "innerhalb der Anstaltsdisziplin [...] gut ein" und hätte "bisher keine Schwierigkeiten bereitet." Auch wären "keine besonderen sexuellen Auffälligkeiten beobachtet" worden. Nichtsdestotrotz wurde, ohne dies weiter auszuführen, erklärt, daß "nach wie vor die Gefahr von sittlichen Entgleisungen an Minderjährigen" bestehe. Der knappe Bericht schloß: "Die Aufhebung des gerichtlichen Unterbringungsbeschlusses kann ärztlicherseits zumindest für die Dauer des Krieges nicht befürwortet werden."
Am 24. September 1944 erhielt der Itzehoer Oberstaatsanwalt eine schlichte Postkarte, die den Stempel des "Luftkurortes Stadtroda" in Thüringen trug. Auf dieser teilte der stellvertretende Direktor des Landeskrankenhauses Stadtroda lapidar mit: "Wilhelm W., geb. 7.11.1903 in Bockholt, ist am 25.2. 1944 im hiesigen Landeskrankenhaus verstorben." In Stadtroda bestand unter anderem eine von 30 sog. "Kinderfachabteilungen", hinter denen sich Tötungsabteilungen verbargen, in denen die Kinder-"Euthanasie" durchgeführt wurde. [83] Die Staatsanwaltschaft Itzehoe vermerkte den Umstand, daß sie erst sieben Monate nach dem Tode W.s Benachrichtigung erhielt: "Nach Bl[att] 95 ist W. bereits am 25.2.44 verstorben (bisher keine Nachricht!)." Damit konnte der Staatsanwalt diese Akte schließen.
"B. war sehr freundlich zu mir. Wir haben bei den Arbeiten viel Spaß gemacht." Diese Aussagen über eine Männerfreundschaft machte der 19jährige Pole Bernhard G. am 21. Oktober 1941 gegenüber den Kriminalsekretären Heuck und Kosack bei einem Verhör in der Mühlenstraße 7 in Itzehoe. [84] Unter dieser Adresse residierte die Itzehoer Geheime Staatspolizei, eine Außendienststelle der Kieler Gestapo. Bernhard G. stammte ursprünglich aus Hohensalza, dem heutigen Inowroclaw, das knapp 50 km südlich von Bromberg in Polen liegt. Am 20. Dezember 1940 kam G. aus Polen nach Wilster zum Arbeitseinsatz und wurde vom Arbeitsamt in Wilster als landwirtschaftlicher Arbeiter einem Hof wenige Kilometer von Wilster zugewiesen.
Es ist unwahrscheinlich, daß der junge Pole sich freiwillig zum Arbeitseinsatz in Deutschland gemeldet hatte, denn 1944 erklärte selbst der Gauleiter Fritz Sauckel, der durch Führererlaß vom 21. März 1942 zum "Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz" ernannt worden war: "Von den 5 Millionen ausländischen Arbeitskräften, die nach Deutschland gekommen sind, sind keine 200.000 freiwillig gekommen." [85] Trotz seiner Verschleppung zur Zwangsarbeit schien sich der junge Mann auf dem Hof des Wilstermarscher Bauern zunächst tatsächlich wohlzufühlen. Bei der Arbeit verstand er sich gut mit dem etwa 20 Jahre älteren Sohn des Alt-Bauern.
Schon dieses rein kameradschaftliche Verhältnis war jedoch nicht im Sinne der rassistischen Machthaber, und doch schien es keine so seltene Beziehung gewesen zu sein. In einer Anleitung zum "Umgang mit Kriegsgefangenen" richtete die Schleswig-Holsteinische Tageszeitung zwei Monate nach der Ankunft G.s "ein offenes Wort an die Bauern" [86], das der Landwirt auch für den Umgang mit polnischen Zivilarbeitern als verbindlich verstehen mußte, denn auch diese "Männer und Frauen, die jetzt seinem Vieh das Futter vorwarfen und die Erntewagen beluden", standen "vor gar nicht langer Zeit als Todfeinde unserem Volke im Kampf gegenüber. [...] Die Dienenden sind Angehörige eines Volkes, das mit unserem Volke nichts zu tun hat, sind Menschen, die wir gerecht und ohne Schikane behandeln wollen, die wir aber niemals in unser Volk aufnehmen werden. Noch immer gilt das Wort: Feind bleibt Feind!"
Entsprechend lautete die Forderung des "Gaudienstes Schleswig-Holstein": "Die Familie des Bauern hat sich streng gegen die Fremden abzuschließen." Gemeinsame Fahrten in die Stadt - "wie mit einem guten Freund Seite an Seite" - , das gemeinsame Essen aus einer Schüssel oder gar das Benutzen gemeinsamer Schlafräume seien in jedem Falle zu unterlassen.
So ist der Hintergrund, vor dem das Verhältnis des Bauern Heinrich B. zu Bernhard G. betrachtet werden muß. Die beiden arbeiteten häufig zusammen. Der Bauer bot dem polnischen Landarbeiter das "Du" an. Bei diesen Arbeiten erzählte G. dem verheirateten Bauern auch von seinen Liebschaften, die er in der Wilstermarsch unterhielt, so zu polnischen Mädchen, die auf anderen Höfen zwangsverpflichtet arbeiteten. Der
Jungbauer beschenkte den Polen mit Schokolade, Kuchen, Zigaretten und auch Geld und kaufte ihm bei einer Gelegenheit von seiner Kleiderkarte ein Oberhemd und ein paar Strümpfe. Dem jungen Mann werden diese Zuwendungen recht gekommen sein, denn die Polen verdienten nur zwischen 50 und 85% der Einkünfte eines deutschen Arbeiters. [87]
Im Sommer 1941 saß der 19jährige eines Tages in seiner Stube und schrieb einen Brief an seine Mutter, als Heinrich B. die Stube betrat und ihn umarmte und mehrere Male küßte. Am folgenden Abend kletterte B. durch das Fen-ster in die Kammer des Polen, stieg zu ihm ins Bett und küßte ihn wiederum. Bei dieser Gelegenheit kam es zwischen beiden zum Analverkehr. Einige Tage später besuchte G. Bekannte in Wesselburen, vermutlich seine Freundin, und blieb daher mehrere Tage lang unentschuldigt der Arbeit fern.
Der Alt-Bauer B. entließ ihn nach diesem Vorfall und G. wurde auf einen Hof nach Nienbüttel im Kreis Rendsburg vermittelt. Doch Heinrich B. versuchte, den Kontakt zu seinem jungen Freund weiterhin aufrechtzuerhalten. Häufig fuhr er mit dem Fahrrad spätabends nach Nienbüttel und wartete in G.s Kammer auf dessen Heimkehr. "Bei diesen Gelegenheiten haben sich der Angeschuldigte und B. wiederholt geküßt. Zu weiteren unzüchtigen Handlungen ist es nicht mehr gekommen," notierte der anklagende Itzehoer Staatsanwalt. Ein eindringliches Zeugnis dieser Beziehung zumindest von Seiten des Bauern sind einige Briefe, die dieser an Bernhard G. schrieb und die den beiden später zum Verhängnis werden sollten. [88]
"Mein lieber Bernhard. Einen schönen Gruß sendet Dir Dein Heinrich. Bin heute abend von 10 1/2 bis 2 1/2 Uhr in Deine Stube und habe schon 3 Stunden geschlafen, und nun wird mir die Zeit zu lange, und so schreibe ich Dir schnell einen Brief, wo ist mein Bernhard. Wir haben bald in 4 Wochen nicht zusammen gesprochen ich habe Heimweh."
Der Landwirt lud den Polen auch zu gemeinsamen Café-Besuchen ein: "Lie-ber Bernhard wenn Du Sonntag Zeit hast so komme bitte nach Burg, morgens oder nachmittags immer herzlich willkommen, so fahren wir abends wieder zusamen nach Hause trinken noch bischen Schnaps in Burg bei Kluge im Kaffee, da ist es sehr schön."
Die Freundschaft war also weder eine ausschließlich erotische, noch bestand sie allein zwischen den beiden Männern. Auch die Frau Heinrich B.s kannte und mochte den jungen Polen, und es entsteht der Eindruck, als freute sich das kinderlose Ehepaar, hier einen Mann zu betreuen, dessen Eltern sie vom Alter her hätten sein können:
"Lieber Bernhard, wie geht es mit Deinem Bauer, Frau F. und H., arbeite ruhig weiter, und sage nichts, mein Junge, besser alles im guten, und nicht wieder Polizei kommt. Dann werden meine Emma und ich ganz krank. Wir machen alles für Dich was wir können, dafür bist Du unser Bernhard nicht wahr mein Junge. [...] Lieber Bernhard bringe Sonnabend deine Strümpfe und deine kaputte Hose und Hemd mit so nehme ich es Donnerstag abend mit nach Burg, und mein Bernhard kommt auch ja mit, nicht wahr?" G. erwiderte die Zuneigung und schrieb Heinrich B.'s Frau Emma eine Karte zum Geburtstag, die-
se lud ihn zu Kuchen und Torte ein.
Heinrich B. war sich der Gefahr dieser Beziehung durchaus bewußt. Er bat den Freund, er möge der auf dem Hof bei Wilster arbeitenden polnischen Landarbeiterin Maria, zu der G. noch Kontakt zu haben schien, nicht erzählen, daß er ihn des Nachts besuchte und ihm auch weiterhin Geld und Zigaretten schenkte. Bernhard G. sollte die Briefe an Heinrich B. unter der Anschrift von dessen Frau Emma absenden, damit B.s Vater von der Verbindung zu dem Polen nichts erfuhr.
Am 15. Oktober 1941 erstattete der Nienbütteler Bauer H., bei dem G. be-schäftigt war, Anzeige beim Gendarmerieposten in Wacken. G. hatte aus der Räucherkammer einige Stücke Speck entwendet. Da er von der Einschaltung der Gendarmerie anscheinend Wind bekommen hatte, floh er. Bei einer in seiner Kammer vorgenommen Durchsuchung fand der Wackener Polizeibeamte Kroll die Briefe des Bauern B. Vergeblich fahndete er in Burg in der Wohnung von B.s Frau und auf dem Hofe des B. nach G., außerdem verhörte er den B. Seine Ermittlungsergebnisse teilte er der Gestapo-Stelle in Itzehoe mit und titulierte diese bezeichnenderweise allgemein mit "Betrifft: Gesellschaftlichen Umgang des Landwirts H.B. [...] mit dem Zivilpolen Bernhard G."
Der "verbotene Umgang mit Ausländern und Kriegsgefangenen" war seit Ende 1940 ein neues Massendelikt. [89] Er machte nahezu ein Viertel aller gerichtlichen Verurteilungen wegen politischer Delikte in den Jahren 1940/41 aus; 80% aller Verhaftungen der Gestapo betrafen Fälle, die mit Ausländern zu tun hatten. [90] Entsprechend betrachteten die Nationalsozialisten mit Besorgnis, daß vielen Deutschen die Widersprüche zwischen dem Propagandabild von den Polen und ihren tatsächlichen Erfahrungen mit polnischen Arbeitskräften deutlich wurden.
Gerade in den Gegenden, in denen Saisonarbeit Tradition hatte, pflegte die deutsche Bevölkerung mit den ausländischen Arbeitskräften weiterhin die gewohnten Umgangsformen, so daß rassistische Verordnungen kaum oder nur langsam Wirkung zeigten. [91] Vielleicht wäre gegen Heinrich B. ein Verfahren wegen "verbotenen Umgangs" eröffnet worden, wenn der Polizeibeamte Kroll nicht einen weitergehenden Verdacht angedeutet hätte: "Aus diesen Briefen geht hervor, daß der Bauer B. mit dem Zivilpolen G. ein mehr als freundschaftliches Verhältnis hat."
Am 16. Oktober 1941 wurde B. festgenommen. Bei einem Verhör durch den Gendarmerie-Einzelposten in Krummendiek leugnete er noch, am folgenden Tag legte er dann vor den Itzehoer Gestapo-Beamten ein Geständnis ab, nachdem er "ernstlich zur Wahrheit ermahnt" worden war. Ob sich hinter dieser Formulierung ein Hinweis auf Folterungen bei der Itzehoer Gestapo verbirgt, muß offen bleiben.
Anfang 1936 hatte der Glückstädter Wilhelm S. den dortigen Kriminalassistenten M. der Mißhandlung bezichtigt und war wegen "wissentlich falscher Anschuldigung" zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt worden. [92] B. wurde am 18. Oktober 1941 ins Landgerichtsgefängnis Itzehoe überstellt. Nach dreimonatiger Untersuchungshaft verhandelte die Strafkammer des Itzehoer Landgerichts unter Vorsitz von Oberlandesgerichtsrat Gerber und den Beisitzern Amtsgerichtsrat Horn und Land-
gerichtsrat Rienow im Januar 1942 gegen B.
Verteidigt wurde B. von dem Itzehoer Rechtsanwalt Hans Neef. Neef baute die Verteidigung seines Mandanten auf fünf Säulen auf. B. mußte von G. verführt worden sein, denn "der Pole" wäre "trotz seiner Jugend dem erheblich älteren Angeklagten in jeder Beziehung, insbesondere geistig, überlegen", ja, sein Mandant wäre "geistesschwach". Daß davon nicht die Rede sein konnte, dafür spricht neben den Briefen des B. auch die Tatsache, daß er nicht nur die Volksschule, sondern auch die in Itzehoe besuchte Landwirtschaftsschule ohne Auffälligkeiten durchlaufen hatte: "Sein Fortkommen in der Schule gestaltete sich regelmäßig", so das spätere Gerichtsurteil.
Bezeichnenderweise verzichtete auch die Strafkammer auf die Hinzuziehung eines medizinischen Sachverständigen, nachdem der als Zeuge geladene Hausarzt B.s, Dr. Lammers aus Wilster, nicht erscheinen konnte, da er "in einem Kriegslazarett im Osten" tätig war. Rechtsanwalt Neef betonte, daß B. "die vielen jungen Leute, die in den letzten Jahren auf dem Hof beschäftigt waren", nicht angerührt hätte und außerdem mit seiner Frau eine glückliche Ehe führte. Schließlich zweifelte er die Glaubwürdigkeit G.s an, der "überall in schlechtem Ruf" gestanden und sich "Nächte mit Polenmädchen", die auf den benachbarten Höfen arbeiteten, herumgetrieben hätte.
Als Zeugin für G.s schlechten Leumund zog Neef die polnische Arbeiterin Marianna K. heran, die auf dem Hofe des B. bzw. seines Vaters beschäftigt war und "sehr wahrheitsliebend", "fleißig und ordentlich" wäre. Auch Straftaten sollte G. bereits vor seinem Wilstermarsch-Aufenthalt begangen haben; der fehlende Vermerk in seinem Strafregister resultiere aus den ungeordneten Verhältnissen in Polen.
Die Strafkammer hielt B. strafmildernd zugute, daß er nicht vorbestraft und "infolge der langjährigen Erkrankung seiner Ehefrau zur Führung eines normalen ehelichen Geschlechtslebens nicht imstande gewesen ist." Abschließend urteilte das Gericht:
"Das Verhalten des Angeklagten ist aber derartig minderwertig und charakterlos, daß es nur mit strenger Freiheitsstrafe geahndet werden kann. Insbesondere die Briefe, welche der Angeklagte noch dem G. geschrieben hat, als dieser schon vom väterlichen Hof fortgejagt worden war, zeigen, in welcher charakterlosen und hemmungslosen Art und Weise er nur seinen sinnlichen Trieben nachgegangen ist. Hinzu kommt aber vor allem, daß er sich zu Unzuchtshandlungen mit einem Zivilpolen, dem Angehörigen eines Volkstums, welches eine schwere Blutschuld gegenüber dem Deutschen Volke auf sich geladen hat, verstanden hat. Er hat als Deutscher Mann ehr- und würdelos gehandelt. Eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren erschien für seine Tat angemessen."
Gerade der Duktus der letzten Zeilen weist eine frappierende Übereinstimmung mit dem oben zitierten Artikel des "Gaudienstes" auf und dokumentiert eindringlich den Einbruch nationalsozialistischer Ideologie in den Urteils-Tenor. Hinsichtlich des Strafmaßes hatte der Itzehoer Staatsanwalt eine dreijährige Gefängnishaft gefordert. Führende Nationalsozialisten hätten gerne die Todesstrafe für ein derartiges Ver-
[Abb. 10: Urteil gegen Bernhard G. vom 21. Januar 1942]
gehen gesehen, denn - so hatte im Juli 1941 der Leiter des Reichspropagandaringes in einer Vorlage an die Parteikanzlei ausgeführt - wer sich mit Ausländern sexuell einlasse, "begeht das größte Verbrechen, das man sich im nationalsozialistischen Deutschland überhaupt denken kann." [93]
Heinrich B. trat am 31. Januar 1942 seine Haft im Strafgefängnis Neumünster an. Ein Jahr später reichte Rechtsanwalt Neef ein Gnadengesuch für seinen Mandanten ein. Die Strafanstalt Neumünster, deren Befürwortung für einen Gnadenerweis erforderlich war, äußerte sich:
"Über die Führung und Arbeitsleistungen des B. sind bislang keine Klagen vorgebracht worden. Charakterlich ist B. ein Schwächling, leicht beeinflußbar und ohne Halt. Wenn er auch geistig als beschränkt anzusehen ist, so vermag er doch die Tragweite seiner Handlungen zu übersehen. Seine Tat zeugt von ehrloser Gesinnung übelster Art und verlangt daher harte Sühne. Ich halte B. nicht für gnadenwürdig und lehne daher die Befürwortung des Gnadengesuches ab."
Heinrich B. saß seine Strafe bis auf den letzten Tag in Neumünster ab - die Untersuchungshaft wurde ihm angerechnet - und wurde am 16. Oktober 1943 entlassen. Es kann nicht als selbstverständlich gelten, daß er vermutlich unbehelligt seinen Wohnsitz in Burg, wahrscheinlich bei seiner Frau, nehmen durfte. Ein ehemaliger Ortsbauernführer aus dem Raum Würzburg, der wegen homosexueller Handlungen mit einem Zivilpolen verurteilt worden war, sollte ursprünglich nach der Strafverbüßung in Schutzhaft genommen werden. Nur weil sich die Bevölkerung 1941 weigerte, auf dem verwaisten Hof irgendwelche Arbeiten zu erledigen, mußte die Gestapo einer Entlassung des Inhaftierten zum Ernteeinsatz zustimmen. [94]
Der geschilderte Fall ist durchaus kein Einzelfall. Wenige Tage zuvor hatte die Itzehoer Strafkammer einen 41jährigen Mann aus Kronprinzenkoog in Süderdithmarschen ebenfalls zu zwei Jahren Haft verurteilt, die dieser aber im Zuchthaus verbüßen mußte. [95] Zu dieser Strafverschärfung mag beigetragen haben, daß der Bauer, der ledig und auf dem Hof seiner Mutter beschäftigt war, mit drei Polen "unzüchtige Handlungen" vorgenommen haben sollte, und zwar mit zwei 18- und 19jährigen polnischen Arbeitern und einem polnischen Jungen, dessen Mutter auf dem Hof untergebracht war.
Der Umstand, daß er im Gegensatz zu Heinrich B. zu mehreren Personen sexuellen Kontakt gehabt hatte, kostete jenen Bauern, dessen Akte nicht archiviert wurde und somit keine Hinweise auf sein weiteres Schicksal zu liefern vermag, möglicherweise das Leben. Denn am 12. Juli 1940 beauftragte Heinrich Himmler die ihm unterstellte Kripo, "in Zukunft alle Homosexuellen, die mehr als einen Partner verführt haben, nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in Vorbeugungshaft zu nehmen." [96]
Gegen das polizeiliche Instrument der Vorbeugungshaft, das zeitlich unbegrenzten Freiheitsentzug bedeutete, waren sämtliche juristischen Rechtsmittel unzulässig. Die Vorbeugungshaft wurde in den Konzentrationslagern Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald vollstreckt. Über die Zahl der Homosexuellen, die nach 1940 in Vorbeugungshaft genommen wurden, liegen keine kon-
kreten Angaben vor.
Das Verfahren gegen Bernhard G. wurde von dem gegen Heinrich B. abgetrennt, die Hauptverhandlung fand jedoch ebenfalls am 21. Januar 1942 statt. [97] In ihrer Urteilsbegründung scheute sich die Itzehoer Strafkammer nicht vor der Verwicklung in Widersprüche, um ein Strafmaß gerechtfertigt erscheinen zu lassen, daß ihrem Eindruck von der Persönlichkeit des Angeklagten gerecht wurde. G. blieb bei seiner Behauptung, er sei von B. verführt worden. Die Richter waren auch von der "Richtigkeit seiner Darstellung überzeugt", daß B. ihn zuerst geküßt habe und in seine Kammer und zu ihm ins Bett gekommen sei, da B. dieselbe Schilderung geliefert hatte. Andererseits wäre "der Angeklagte [...] ein sittlich verkommener und raffinierter Mensch, der die geistige Trägheit und Willensschwachheit des B. erkannt und sich zu Nutzen gemacht hat." Angesichts des "sittlich verkommenen Vorlebens des Angeklagten erscheint es als unglaubwürdig, daß er erst von B. zur Vornahme der unzüchtigen Handlungen verführt worden ist." Da die Kammer aber als Tatsache zugrunde legte, daß der Pole der Verführte gewesen sei, unterstellte sie, daß "ohne weiteres die Annahme gerechtfertigt" sei, "daß er zur Vornahme solcher Unzuchtshandlungen schon von sich aus bereit gewesen ist, um dies zu seinem Vorteil auszunutzen."
Strafmildernd wurden seine bisherige Straffreiheit, seine Jugend und der Umstand, daß weniger er als B. die treibende Kraft gewesen sei, berücksichtigt. Dann jedoch fährt das Urteil fort: "Der Angeklagte hat das ihm in Deutschland gerichtete Gastrecht aber schmählich mißbraucht. Er besitzt auch, wie seine nunmehrige Einlassung zeigt, sich auf nichts mehr genau erinnern zu können, einen verstockten Charakter. Sein minderwertiges Verhalten bedarf der Sühne durch eine empfindliche Freiheitsstrafe. Eine Gefängnisstrafe von einem Jahr und neun Monaten erschien angemessen."
Die Untersuchungshaft wurde nicht angerechnet, da sich der Angeklagte nicht zur Wahrheit bekannt hätte. Mit diesem Urteil lag das Gericht unter dem durchschnittlichen Strafmaß von drei Jahren, das Militärgerichte in der Regel gegen Franzosen, Engländer und Belgier verhängten, wenn diese mit deutschen Frauen verkehrt hatten. [98] Möglicherweise wurde im Falle des heterosexuellen Verkehrs nicht nur die ehrlose Handlung sanktioniert, sondern auch die im Gegensatz zum homosexuellen Verkehr bestehende Gefahr, eine "rassisch minderwertige" Nachkommenschaft zu erzeugen. Andererseits sollte sich im Falle G. zeigen, daß das Urteil im Endeffekt nach oben hin "korrigiert" wurde.
Das Gericht verneinte die Frage, ob die Verordnung über Strafrechtspflege über Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten vom 4. Dezember 1941 angewendet werden müsse, da die Straftaten G.s vor dem Inkrafttreten dieser Verordnung begangen worden seien und die Verordnung keine rückwirkende Kraft besitze. Die Staatsanwaltschaft Itzehoe unterzog diese Frage einer erneuten Prüfung und entschied am 28. Februar - Rückwirkung hin oder her - , daß G. dem Polenstrafvollzug unterliege. Das bedeutete für ihn den Strafvollzug in einem "einfachen Straflager".
Am 12. März 1942 wurde er auf Ver-
[Abb. 11: Mitteilung des "Abganges" von Bernhard G.]
fügung des Itzehoer Staatsanwalts aus dem Straf- und Jugendgefängnis Neumünster in das Strafgefängnis Hannover als das für ihn zuständige Stammlager überführt. Genau fünf Monate später mußte er seine Haft im Zuchthaus Krone an der Brahe, dem heutigen Koronowo, etwa 20 km nördlich von Bromberg im von den Deutschen besetzten "Generalgouvernement" Polen fortsetzen. Sein vorgesehenes Haftende im Oktober 1943 erlebte Bernhard G. nicht mehr. Am 20. Mai 1943 starb der erst 21jährige im Zuchthaus Krone aufgrund "allgemeiner Schwäche und Herzschlag" - so die offizielle Todesursache.
Betrachten wir rückblickend das Schicksal homosexueller Männer im Holsteinischen, so können wir trotz der geringen Zahl im Detail bekannter Fälle und der daher gebotenen Vorsicht bei verallgemeinernden Schlußfolgerungen einige
zentrale Ergebnisse festhalten. Der Tod im Konzentrationslager oder Zuchthaus drohte vor allem dem Homosexuellen, dessen Homosexualität quasi eine strafschärfend wirkende Qualifizierung erfuhr durch "rassische", soziale oder gesundheitliche Attribute, die die nationalsozialistische Ideologie negativ belegte, wie etwa die polnische Volkszugehörigkeit, vermeintliche "Asozialität" oder amtsärztlich diagnostizierte "Geistesschwäche"; auch die Einstufung als "Gewohnheitsverbrecher" führte durch die damit verbundene Sicherungsverwahrung zu einer lebensbedrohlichen Gefährdung.
Aber auch die Homosexuellen, die nicht in die Vernichtungsmaschinerie des "Dritten Reiches", wohl aber in die Fänge der Strafverfolgungsbehörden gerieten, mußten mit Gefängnisstrafen von mehreren Monaten für eine einmalige "Verfehlung" bis zu mehreren Jahren Haft für den Fall rechnen, daß das Gericht fortgesetzte Handlungen oder sexuelle Kontakte zu mehreren Partnern nachweisen konnte. Eine Verurteilung wegen Vergehen nach §175 StGB zwang den Homosexuellen gerade im überschaubaren ländlichen oder kleinstädtischen Milieu oftmals zum Verlassen seines Wohnortes; Lehrer oder NS-Funktionäre verloren Anstellung und Parteibuch.
Es soll nicht verschwiegen werden, daß diese letztgenannten Formen juristischer und gesellschaftlicher Sanktionierung keine ausschließlich NS-typischen Phänomene waren, sondern auch in der Bundesrepublik ein weiteres Vierteljahrhundert lang, wenn auch mit abnehmender Intensität, genutzt wurden, bis der §175 schließlich zu einem reinen Jugendschutz-Instrument reformiert und vor nunmehr zwei Jahren gänzlich abgeschafft wurde.
Eine Wiedergutmachung für erlittenes NS-Unrecht wurde Homosexuellen grundsätzlich nicht zugestanden. Das im Oktober 1957 in Kraft getretene "Bundesentschädigungsgesetz" (BEG) sah für Homosexuelle keinerlei Ansprüche vor. Verfolgte, die während der NS-Zeit über eine Haftstrafe hinaus in Konzentrationslager verschleppt worden waren, konnten allerdings - für eine kurze Zeit - Forderungen nach dem "Allgemeinen Kriegsfolgengesetz" (AKG) erheben. [99]
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Poppe, Uli 1995: Bemerkungen zur Lebenssituation schwuler Männer in Schleswig-Holstein vor und nach 1945. In: Ende und Anfang im Mai 1945. Das Journal zur Ausstellung. Hrsg. von der Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein. Kiel. S. 103 - 109.
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1. Mein Dank gilt allen, die in der einen oder anderen Form am Zustandekommen dieser Arbeit beteiligt waren: Frau Dr. Görres-Ohde, Frau Dr. Imberger, Herrn Dr. Korte (†), Herrn Prof. Dr. Lange, Herrn Uli Poppe und Dr. Klaus-Detlev Godau-Schüttke
2. In der vorliegenden Arbeit wird nur auf die Verfolgung homosexueller Männer eingegangen. So weist auch die Reichskriminalstatistik für den Oberlandesgerichtsbezirk Kiel für die NS-Zeit keine Frau aus, die wegen "widernatürlicher Unzucht" verurteilt worden ist.
3. Vgl. zu den Verurteiltenzahlen: Stümle 1989, S. 90 [1918 - 1933], S. 119 [1932 - 1943] und S. 147 [1950 - 1965].
4. Vgl. Baumann 1968, S. 49.
5. Vgl. ebenda, S. 50.
6. Zu dem Thema befindet sich eine Veröffentlichung von Uli Poppe in Vorbereitung und wurde dem Verfasser dankenswerterweise als Typoskript zur Verfügung gestellt: Uli Poppe: Kalte Krieger - Warme Brüder. Hintergrundinformationen zu Erfahrungen von vier älteren schwulen Männern in Schleswig-Holstein. Ein Auszug daraus bereits in: Uli Poppe: Kalte Krieger - Warme Brüder. In: OUT! Die Semesterillustrierte des AStA-Schwulenreferats der CAU Kiel, o.J. (1994), S. 16-18.
7. Vgl. Lassen 1992, S. 216 - 289.
8. Zur Geschichte der Homosexualität vgl. Stümke 1989.
9. Vgl. Stümke 1989, S. 20.
10. Zitiert nach Stümke 1989, S. 23.
11. Vgl. ebenda, S. 55.
12. Ebenda, S. 102.
13. Zitiert nach ebenda, S. 109.
14. RGSt Bd. 70, S. 224.
15. Vgl. Poppe 1995, S. 5.
16. Vgl. ebenda, S. 9.
17. Vgl. ebenda, S. 10.
18. Die Begriffe "Schwuler" und "Lesbe" hatten bis vor einigen Jahrzehnten einen pejorativen Beiklang, während sie inzwischen meistens wertfrei benutzt werden, zumal sich die Betroffenen selber entsprechend bezeichnen. Darum verwende ich beide Begriffe synonym für "weibliche Homosexuelle" und "männliche Homosexuelle."
19. Zitiert nach Poppe 1995, S. 10.
20. Erwähnung von Kiel in: Nordischer Kurier (Itzehoe) 11.12.1937 und 12.2.1938 (im folgenden als NK).
21. Die Freundin, 3. Jg., Nr. 6, 4.4.1927.
22. Vgl. Stümke 1989, S. 53.
23. Die Freundin, 8. Jg., Nr. 14, 6.4.1932.
24. LAS Abt. 352 Itzehoe Nr. 181.
25. Vgl. Poppe 1995, S. 4.
26. Vgl. Lassen 1992, S. 232.
27. Vgl. Stümke 1984, S. 82.
28. LAS Abt. 352 Itzehoe Nr. 84.
29. Vgl. Stümke 1989, S. 119.
30. Vgl. NK vom 31.1.1938.
31. Vgl. Kriminalstatistik für die Jahre 1935 und 1936. Berlin 1942, S. 344.
32. Vgl. Kriminalstatistik für das Jahr 1933. Berlin 1936, S. 234; Kriminalstatistik für das Jahr 1934. Berlin 1938, S. 234.
33. Vgl. Michalsen 1950, S. 16.
34. Vgl. Stümke/Fiedler 1981, S. 249.
35. NK vom 28.12.1936.
36. Vgl. NK vom 31.12.1936.
37. Vgl. SHT vom 5.1.1937.
38. Vgl. NK vom 30./31.1.1937; SHT vom 30.1.1937.
39. Vgl. SHT vom 15.3.1937; anonymisiert dagegen im NK vom 13.3.1937.
40. "Deutsche Justiz", 96 (1934), A 45, 1417-18.
41. Jellonnek 1990, S. 212.
42. Ebenda, S. 318.
43. Ebenda, S. 214.
44. LAS Abt. 352 Itzehoe Nr. 181.
45. Vgl. Stümke/Fiedler 1981, S. 249.
46. Vgl. RGSt. Bd. 69, S. 273ff.
47. Vgl. Jellonnek 1990, S. 254, 210.
48. Vgl. ebenda, S. 305.
49. Vgl. ebenda, S. 210, 255.
50. Vgl. ebenda, S. 211.
51. Vgl. ebenda, S. 227.
52. Vgl. Lassen 1992, S. 247.
53. Vgl. Jellonnek 1990, S. 210.
54. "79jähriger vor Gericht". In: NK vom 12.11.1937; "Widernatürliche Unzucht eines 78jährigen". In: NK vom 8.12.1937; Schleswig-Holsteinische Tageszeitung (Itzehoe) vom 9.12.1937 (im folgenden SHT).
55. Vgl. Jellonnek 1990, S. 208.
56. "Ein gefährlicher Verführer." In: NK vom 19.6. 1937; "Vergehen gegen den §175". In: SHT vom 19.6.1937.
57. "Ein schlimmer Verführer." In: NK vom 12.2.1938.
58. Vgl. LAS Abt. 352 Itzehoe Nr. 84; "Unverbesserlicher kommt in Sicherungsverwahrung." In: NK vom 12.2.1938.
59. Ayaß 1992, S. 321.
60. Ebenda, S. 321.
61. Ebenda, S. 321.
62. Vgl. Jellonnek 1990, S. 250.
63. Poppe 1995, S. 3.
64. "Erpresser verurteilt." In: NK vom 16.12.1935.
65. Vgl. "Widernatürliche Unzucht und Erpressung." In: NK vom 3.6.1938; "Unter Ausschluß der Öffentlichkeit." In: SHT vom 4.6.1938.
66. Vgl. Lassen 1992, S. 250 f.; zwei weitere Fälle finden sich im Pinneberger Kreisblatt vom 14.12.1937 und 1.3.1938 aus Neumünster und Elmshorn. Nur im ersten Fall ist das Strafmaß bekannt: der 30jährige Kieler Angeklagte, der zufällig von den homosexuellen Beziehungen eines Neumünsteraners erfahren und von diesem insgesamt über 700,- RM erpreßt hatte, wurde zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt.
67. Vgl. LAS Abt. 352 Itzehoe Nr. 45.
68. Vgl. "Widernatürliche Unzucht." In: NK vom 8.6.1936.
69. Vgl. Lassen 1992, S. 236.
70. Ein weiterer Fall bei Jellonnek 1990, S. 219: ein Tagelöhner, der im Rahmen der am 1. Juni 1938 vom RKPA gestarteten Aktion gegen Asoziale festgenommen und am 28. Juni 1938 durch die Kripo Ludwigshafen in das KZ Dachau eingewiesen worden ist, stirbt am 7. Januar 1940 46jährig im KZ Mauthausen "an Herz- und Kreislaufschwäche".
71. Vgl. Plant 1986, S. 153.
72. Vgl. ebenda, S. 217.
73. Kogon 1947, S. 41 f.; einen Erfahrungsbericht eines der wenigen überlebenden Homosexuellen KZ-Häftlinge veröffentlichte 1972 der Hamburger Merlin-Verlag: Heinz Heger: Die Männer mit dem rosa Winkel. Der Bericht eines Homosexuellen über seine KZ-Haft von 1939 - 1945, Hamburg 21979.
74. Kogon 1947, S. 100.
75. Vgl. ebenda, S. 43 f.
76. Vgl. Klee 21986, S. 260.
77. Vgl. SHT vom 10.09.1940.
78. Klee 1983, S. 123.
79. Ebenda, S. 123.
80. Vgl. LAS Abt. 352 Itzehoe Nr. 182.
81. Vgl. Klee (1983), S. 318 f.
82. Vgl. ebenda, S. 263.
83. Vgl. ebenda, S. 300 f.
84. LAS Abt. 352 Itzehoe Nr. 37.
85. Kammer/Bartsch 1992, S. 68.
86. "Der Umgang mit Kriegsgefangenen. Ein offenes Wort an unsere Bauern." In: SHT vom 27.2.1941.
87. Vgl. Herbert 21986, S. 92.
88. Die Briefe sind der Akte des B., LAS Abt. 352 Itzehoe Nr. 114, beigefügt.
89. Vgl. Herbert 1986, S. 122 f.
90. Vgl. ebenda, S. 122 f., 125.
91. Vgl. ebenda, S. 94.
92. Vgl. "Sechs Monate Gefängnis wegen Verleum-dung." In: NK vom 7.1.1936.
93. Herbert 1986, S. 126.
94. Vgl. Jellonnek 1990, S. 227.
95. Vgl. "Zuchthaus wegen ehrlosen Verbrechens ", SHT vom 27.1.1941.
96. Jellonnek 1990 S. 139.
97. Vgl. LAS Abt. 352 Itzehoe Nr. 37.
98. Vgl. Herbert 1986, S. 125.
99. Stümke 1989, S. 148 ff.
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Wortlaut des Paragraphen 175 in der Fassung gemäß RStGB von 1871 und der Neufassung von 1935 (zitiert nach Grau 1993, S. 95f.)
Die ursprüngliche Fassung gemäß RStGB von 1871
§ 175
Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.
Die neue Fassung gemäß Gesetz zur Änderung des RStGB vom 28. Juni 1935, Art. 6
Unzucht zwischen Männern
§ 175
Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft.
Bei einem Beteiligten, der zur Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war, kann
das Gericht in besonders leichten Fällen von Strafe absehen.
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 30 (Dezember 1996) S. 26-62.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 30