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Heidemarie Kugler-Weiemann: Ein Besuch in Riga

Zu Beginn dieses Schuljahres erhielt die Geschwister-Prenski-Schule in Lübeck eine Einladung, zu einer Feierstunde am 8. September 1996 nach Riga zu kommen. Auf Initiative der Deutsch-Jüdischen Gesellschaft in Hamburg sollten drei Gedenksteine für die nach Riga deportierten und dort ermordeten Menschen errichtet werden.

Drei Lehrkräfte entschlossen sich, der Einladung zu folgen und für ein verlängertes Wochenende nach Riga zu fahren. Von der Stadt Lübeck bekamen wir ein Grußwort mit sowie eine umfangreiche Medikamentenspende für das jüdische Krankenhaus.

Am Freitag, den 6. September 1996, stiegen wir vormittags in Hamburg ins Flugzeug, am Montag abend kamen wir zurück. Die Eindrücke dieser wenigen Tage ließen uns lange Zeit brauchen, wirklich wieder in Lübeck anzukommen.

Die touristische Seite der Reise

Der Weg vom Flughafen zum Hotel Latvia führte über die Daugava in die Innenstadt von Riga. Die Hauptstadt Lettlands hat mittlerweile eine Million Einwohner, von denen aber nur ein geringer Teil in der verhältnismäßig kleinen und überschaubaren Altstadt lebt, die meisten wohnen in den großen Trabantensiedlungen und anderen Vororten.

Beim Rundgang durch die Altstadt erinnerte uns die Hansestadt Riga mit den großen Plätzen und Kirchen an Lübeck oder Bremen. Auch in Riga hat


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man vom Turm der Petri-Kirche einen schönen Überblick über das Stadtgebiet. Einmalig sind die zahlreichen Jugendstil-Bauten. Große Teile der Altstadt sind wunderschön restauriert oder werden gerade saniert, andere Häuser und teilweise ganze Straßenzüge wirken dagegen völlig verfallen.

So wie die Bausubstanz, ist das ganze Leben in Riga von starken Kontrasten geprägt: Von höchster Eleganz bis zu bitterster Armut begegnete uns alles, und zwar direkt nebeneinander und gleichzeitig. Insbesondere der Anblick der vielen alten Frauen, die in sehr ärmlicher Kleidung auf den Straßen einige Blumen aus ihrem Garten zum Verkauf anbieten, war immer wieder bedrückend.

Kontakte zur Vidus-Skola

Das Kollegium der 49. Vidus-Skola in der Valdemara Straße 65 hatte sich auf unseren Besuch gut vorbereitet. Gleich in der Halle des Flughafens erwartete uns überraschenderweise eine Kollegin, die wir von ihrem Aufenthalt in Lübeck schon kannten, um uns mit einem Wagen ins Hotel zu bringen. Sie nahm sich Zeit, anschließend mit durch die Altstadt zu gehen, und begleitete uns am Samstag nachmittag zu einem Essen mit dem Direktor der Schule in ein Restaurant für lettische Spezialitäten.

Sehr gefreut hat uns, daß zur Feierstunde auf dem jüdischen Friedhof am Sonntag zwei Mitglieder des Kollegiums kamen.

Am Montag vormittag schließlich besuchten zwei Kollegen die Schule. Sie konnten in verschiedenen Klassen hospitieren und hatten anschließend Gelegenheit zu Gesprächen mit mehreren Lehrkräften. Das Kollegium der Vidus-Skola hat großes Interesse an einer Partnerschaft mit unserer Schule. Da allerdings die Unterschiede sehr gravierend sind, scheint uns ein Austausch derzeit kaum realisierbar.

Jüdische Vergangenheit

Die wichtigsten Eindrücke nahmen wir aus dem "jüdischen" Riga mit. Am Samstag vormittag hatten wir Zeit, allein einige der Orte aufzusuchen, die uns von der Spurensuche nach den Geschwistern Prenski schon ein Begriff waren.

Ganz in der Nähe der Altstadt und des Bahnhofes liegt die sog. "Moskauer Vorstadt", in der von 1941 bis 1943 das Ghetto für die jüdischen Familien abgegrenzt wurde. Die Slums von Riga, die vor dem Krieg vor allem von armen jüdischen Familien bewohnt waren, wurden zum Ghetto, in dem kaum jemand überlebte und das am 2. November 1943 liquidiert wurde.

In die leerstehenden Gebäude zogen nach dem Krieg wiederum arme Familien, diesmal vorwiegend umgesiedelte russische Familien, z.B. aus dem Kaukasus. Auf unserem Weg durch die Straßen des damaligen Ghettos sahen wir, daß sich der heutige Anblick der Häuser kaum von dem auf den alten Fotos unterscheidet. Selbst die verwahrlosesten Häuser sind auch jetzt bewohnt.

Der alte jüdische Friedhof der Moskauer Vorstadt wurde nach 1945 zum "Park der kommunistischen Brigaden"


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[Abb.: Reste der ehemaligen Choralsynagoge an der Gorgola iela (Foto: Kugler-Weiemann)]

gemacht, alle Grabstätten wurden dazu entfernt. Seit 1994 erinnert ein Gedenkstein an die frühere Bedeutung der Grünfläche.

Von den vielen Synagogen Rigas steht heute nur noch eine. In einer kleinen Altstadtstraße liegt die "Peitav Schul", die ähnlich wie die Lübecker Synagoge nur wegen der benachbarten Bauten nicht in Brand gesteckt wurde. Die große Choralsynagoge an der Gogola iela, ganz in der Nähe der "Moskauer Vorstadt", wurde dagegen 1941 von einem lettischen Kommando in Brand gesetzt. Viele Hunderte jüdischer Menschen waren in der Synagoge eingeschlossen und verbrannten.

1988 wurden die Reste der Kellermauern freigelegt und so eine Gedenkstätte errichtet. Sie scheint in der tristen Umgebung einer ungepflegten Grünanlage für viele Leute allerdings eher die Bedeutung eines Pissoirs zu haben.

Aus der "Moskauer Vorstadt" brachte uns ein Taxi zum Bikernieki-Wald, dem "Hochwald" von Riga, einem großen Waldstück im Stadtgebiet. Hier fanden wir nicht weit von der Straße entfernt eine Gruppe von sechs Massengräbern. Lediglich eine Steineinfassung deutet auf die Grabstätten hin. An einer strategisch geschickt gewählten Stelle wurden 1941 und 1942 vor allem ältere Menschen und Kinder der deportierten jüdischen Familien in eine Senke zwischen zwei Erhebungen getrieben und erschossen. Möglicherweise sind hier auch Margot, Martin und Max Prenski umgebracht worden, wenn sie nicht bereits vorher auf dem Jungfernhof an der Daugava verhungert oder erfroren sind.

Leider blieb uns keine Zeit, zum Jungfernhof zu fahren. Von dem ehemaligen Gutshof sind heute nur noch


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wenige Gebäudereste zu erkennen, hier gibt es keine Zeichen der Erinnerung. Auch den Bahnhof Skirotova, an dem die Deportationszüge ankamen, haben wir nicht gesehen, und es fehlte die Zeit, nach Rumbula zu fahren, dem Ort, wo viele lettische Juden umgebracht wurden, um Platz im Ghetto für die ankommenden Transporte aus Deutschland und Österreich zu schaffen.

Die Situation der überlebenden lettischen Juden

Alle diese Orte der Vernichtung jüdischen Lebens spielten in unseren Gesprächen am Samstag abend eine Rolle. Wir waren zu Gast bei Herrn und Frau Vestermanis.

Margers Vestermanis, lettischer Jude deutscher Abstammung, ist etwa 70 Jahre alt und leitet als Historiker das jüdische Museum und Dokumentationszentrum in Riga. Ihn kannten wir bereits von seinen Besuchen in Lübeck.

Als Jugendlicher war er gezwungen, auf dem Jungfernhof in einem Stall die Stellagen zu zimmern, die als Lagerstätten für die aus Deutschland kommenden Juden dienten. Seine ganze Familie kam in Riga ums Leben, ihm gelang es, aus dem Ghetto zu fliehen und sich in den Wäldern durchzuschlagen.

Frau Vestermanis ist ebenfalls 70 Jahre alt und hat bis vor zwei Jahren als Lungenfachärztin in einem Rigaer Krankenhaus gearbeitet.

Das Ehepaar Vestermanis gehört zu den mittlerweile nur noch 93 lettischen Juden in Riga, die die Nazizeit überlebt haben. 1935 gab es in Lettland 43.600 Juden, 1944 lebten noch 175 von ihnen. Das Leben und die jetzige Situation dieser Menschen läßt sich folgendermaßen skizzieren:

Als Kinder und Jugendliche erlebten sie vor dem 2. Weltkrieg im stark antisemitischen Lettland und unter sowjetischer Besetzung Diskriminierung und Verfolgung, während des Krieges entgingen sie knapp der Ermordung durch die Deutschen oder durch lettische Gruppen, nach dem Krieg wurde ihr Schicksal in der Sowjetunion ignoriert. Jetzt nach der "Wende" in Lettland werden sie im Alter erneut mißtrauisch betrachtet von der lettischen Bevölkerung und Regierung. Die deutsche Regierung lehnt es ab, ihnen als NS-Opfern eine individuelle "Entschädigung" zu zahlen. Diese Hilfe würden sie bekommen, wenn sie in die Bundesrepublik übersiedelten.

Alle Überlebenden sind mittlerweile im Rentenalter und erhalten die in Lettland übliche Einheitsrente von 40 Lat (das entspricht etwa 120 DM). Mit dieser Rente läßt sich bei dem inzwischen entstandenen Preisniveau gerade die Miete bezahlen.

Mit uns zu Gast bei Frau und Herrn Vestermanis war an diesem Wochenende Winfried Nachtwei aus Münster, der sich als Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90 / Die GRÜNEN intensiv für Entschädigungszahlungen an die Überlebenden im Baltikum einsetzt. Gleichzeitig hat er zusammen mit anderen Menschen in Deutschland eine "Soforthilfe" aus Spendengeldern initiiert, die den jüdischen Menschen das Leben erleichtern soll und für viele überhaupt erst das Überleben ermöglicht.

Wir hatten am Sonntag vormittag die Gelegenheit, an der monatlichen Zusammenkunft des Vereins der ehemali-


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gen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands teilzunehmen. An diesem Morgen ging es um die Einrichtung eines Härtefonds, um all denen, die schwerkrank sind, besser helfen zu können. Winfried Nachtwei informierte die Anwesenden über die aktuelle Entwicklung seiner Bemühungen in Deutschland. Auch wir stellten uns vor und überreichten eine Spende unserer Schule.

Anschließend wurde die "Soforthilfe" an die einzelnen Leute ausgezahlt. Derzeit können jedem Menschen, der nicht noch über andere Einkünfte als die Rente verfügt, 150 DM (= 50 Lat) im Monat gegeben werden. In vielen Gesprächen während dieser Zusammenkunft wurde uns die große Dankbarkeit für diese Spenden gezeigt, gleichzeitig aber auch das Gefühl von Erniedrigung sehr deutlich beschrieben.

Errichtung eines Gedenksteins auf dem jüdischen Friedhof

Am späten Sonntag vormittag fand dann schließlich auf dem "neuen" jüdischen Friedhof die Feierstunde zur Enthüllung der Gedenksteine statt. Viele aus dem Kreis der ehemaligen Häftlinge waren gekommen, etliche Journalisten und einige andere Interessierte. Nicht erschienen war trotz vorheriger Zusage die Vertretung der deutschen Botschaft.

Nach den Ansprachen des Bürgermeisters von Riga, des Oberrabbiners und eines Rabbiners sprachen Vertreter einiger deutscher Städte, aus denen jüdische Menschen nach Riga deportiert worden waren. Winfried Nachtwei berichtete über die Deportationen aus Münster, Osnabrück und Bielefeld, der Vorsitzende der deutsch-jüdischen Gesellschaft in Hamburg, W. Mosel, ergriff das Wort für die Hamburger und Kölner Juden. Wir verlasen Auszüge aus dem Grußwort der Stadt Lübeck und erinnerten an die Geschwister Prenski.

Erst in Riga erfuhren wir in Gesprächen, wie umstritten die Aufstellung dieser Gedenksteine ist. Befürchtet wird vor allem, daß eine geplante Gedenkanlage im Hochwald in der Nachfolge jetzt nicht mehr zustande kommt. Äußerst problematisch empfand ich das Auftreten des Initiators, des Vorsitzenden der Deutsch-Jüdischen Gesellschaft in Hamburg. Z.B. hatte er sich über ein Verbot der Familie Carlebach, den Namen auf dem Gedenkstein einzusetzen, völlig hinweggesetzt.

Dokumentationszentrum und Museum "Holocaust in Lettland"

Am Montag vormittag ging ich noch einmal in die Skolas iela Nr. 6, in das Haus der jüdischen Gemeinde Riga, das sie erst 1989 zurückerhalten hat. Im Erdgeschoß wird eine Art Cafeteria betrieben, die ein wichtiger Treffpunkt der alten Leute ist. Außer einem großen Theatersaal und mehreren Verwaltungsräumen befinden sich in den oberen Stockwerken seit 1990 auch das Dokumentationszentrum und Museum.

Seit 1995 ist hier die Ausstellung "Der Holocaust in Lettland" zu sehen. Finanziert wurde die sehr gut aufgemachte Ausstellung durch Spenden aus Deutschland. Die Texte sind in vier Sprachen zu lesen: in Lettisch, Russisch, Hebräisch und Englisch.


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Anschließend konnte ich einen ebenfalls 1995 entstandenen kurzen Videofilm ansehen. Das "Kaddisch für die lettischen Juden" ist ein Film ohne Worte, von der Musik des Gebetes für die Verstorbenen begleitet sind Dokumente zusammengestellt: Fotos und ein kurzer Amateurfilmausschnitt. Diese Bilder haben mich, obwohl ich fast alle schon einmal in Ausstellungen oder Büchern gesehen hatte, sehr ergriffen und begleiten mich noch immer.

Spenden für die Soforthilfe können über das Spendenkonto in Münster nach Riga geschickt werden: Winfried Nachtwei, Nordhornstr. 51, 48161 Münster, 0251 / 86530. Spendenkonto 10 005 007, Stadtsparkasse Münster, BLZ 400 501 50.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 30 (Dezember 1996) S. 65-70.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 30

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