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Gerhard Hoch: Zur Goldhagen-Debatte

Anlaß, mich an meine Akens-Freunde zu wenden, ist die Veranstaltung des Instituts für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte zur "Regionalen Bedeutung der Goldhagen-Debatte" am 9. November 1996 in Flensburg. Dabei war für mich am eindrucksvollsten Volker Ullrichs ("Die Zeit") Resüme dieser Debatte.

Der Tenor und die Schroffheit der ersten Kommentare zu diesem noch kaum zugänglichen und noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegenden Buch ließen mich nicht nur hellhörig und neugierig werden, mehr noch: sie weckten in mir den Verdacht, hier sollte in aller Eile die deutsche Öffentlichkeit abgeschirmt, voreingenommen gemacht werden. Wogegen? War es dies, daß ein "Nicht-Kompetenter" den Finger auf eine empfindliche Lücke legte, die zu schließen in der deutschen Zeitgeschichtsforschung bisher versäumt, wenn nicht gar vermieden worden war?

Die zum Teil überaus emotionsgeladenen Reaktionen unter Historikern, deren Forschungsergebnisse uns alle bereichert haben, die längst zum Fundament unserer eigenen Bemühungen auf diesem Gebiete geworden sind, war zunächst kaum zu verstehen. Aber es mußte eine Erklärung dafür geben - auch in Flensburg. Doch dort fand ich sie nicht. Angesichts so vieler gedruckter Kommentare und im Fernsehen übertragener Diskussionsveranstaltungen habe ich den Eindruck, hier haben freigesetzte Emotionen bisweilen den in der Wissenschaft üblichen nüchternen Blick getrübt.

Ein Beispiel. Goldhagen wird eine monokausale Erklärung des Holocaust vorgeworfen. Eben diesen Vorwurf finde ich in dem Buch nicht begründet, weder in Vorwort und Einleitung, noch auch im gesamten Kontext. Wissen-


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schaftlich einwandfrei beschränkt Goldhagen sich auf die gründliche Untersuchung einer von "mehreren Entwicklungen" zum Holocaust, "von denen keine für sich allein genommen ausreichend war, [...] damit der Holocaust verübt werden konnte." (S. 7). Die übrigen Entwicklungen und Faktoren sind in vernünftiger Selbstbescheidung ausdrücklich nicht sein Thema, denn sie sind nicht Gegenstand seiner wissenschaftlichen Disziplin. Sie sind hinreichend bearbeitet worden und werden von ihm gewürdigt. Das muß er nicht auf jeder Seite erneut bekräftigen. Daß er darüber hinaus auf Defizite in den bisherigen Darstellungen hinweist, scheint mir doch legitim.

Ein weiteres Beispiel: Die Abwehr des Begriffes "eliminatorisch" für alle Stadien des Antisemitismus in Deutschland. Ich finde diesen Terminus sehr wohl geeignet, solange man ihn nicht überstrapaziert. Er signalisiert eine dem (deutschen) Antisemitismus inhärente Tendenz von seinen zunächst so harmlos wirkenden Formen bis zu dessen konsequenter Erscheinungsform der Menschenvernichtung. Ich finde es erstaunlich, daß Geisteswissenschaftler nicht akzeptieren können, daß historische und kulturelle Phänomene sich nicht nur in ihrer explosionsartigen Endform manifestieren, sondern schon (in nuce) in ihren Anfängen, von denen wir doch so gerne sagen, daß gerade ihnen zu wehren sei.

So staunte ich über die in Flensburg geäußerte Behauptung, in Schleswig-Holstein habe es vor 1933 keinen gewalttätigen Antisemitismus gegeben. Da vermißt man nicht nur eine voraufgegangene Definition von "Gewalttätigkeit", sondern mehr noch eine umfassende Untersuchung des Antisemitismus in unserem Bundesland über die vorliegenden Einzeluntersuchungen hinaus.

Wichtigster Aspekt der ganzen Debatte scheint mir jedoch dieser zu sein: Der Nicht-Historiker Goldhagen hat uns vor Augen geführt, daß das Instrumentarium der Geschichtswissenschaft allein nicht ausreicht, um das Phänomen des Nationalsozialismus und besonders des Antisemitismus hinreichend zu verstehen und zu beschreiben. Ganz unerläßlich dafür ist die zusätzliche Kompetenz anderer Wissenschaften, vor allem der Soziologie und der Psychologie. Unbezweifelbar liefert uns die Historiographie im engeren Sinne mit ihren spezifischen Mitteln das Koordinatensystem, an dem besonders wir Laien-Historiker unsere Arbeit orientieren. Die ganze Lebenswirklichkeit und Mächtigkeit des Nationalsozialismus läßt sich aber so nicht begreifen. Mitunter vermisse ich auch bei manchen Koryphäen die Tugend der Selbstbescheidung. Vielleicht rührt die ungewöhnliche Aufgeregtheit in diesen Kreisen daher.

In Flensburg hörte man beispielsweise auch, der Antisemitismus habe sich während der Weimarer Zeit in den Medien nur ganz sporadisch und sehr marginal geäußert, um die angeblich verhältnismäßig geringe Auswirkung auf die Breite der Bevölkerung zu belegen. In Wirklichkeit dürfte diese Marginalität eine ganz andere Wirkung gehabt haben. Nicht wenige Zeitungen - als die am weitesten verbreiteten Informations- und Meinungsmedien jener Zeit, insbesondere solche mit regionalem Charakter - brachten Antisemitismen in den verschiedensten Zusammenhängen und Tönen in recht dichter Folge. Auch wenn diese oft nur wenige Zeilen oder


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Spalten füllten, tat ihre Häufigkeit und ihre harmlos erscheinende, unauffällige Einbettung in den übrigen Nachrichtenstoff ihre nachhaltige Wirkung, bis sie sich zu einer jener "anderen Entwicklungen", auf die Goldhagen verweist, verstärkten. Schließlich flossen sie nicht selten zusammen mit Darstellungen "typisch jüdischer" Physiognomien und dem öffentlichen Absingen jener unsäglichen antisemitischen "Lieder".

Derartige Einflüsse pflegen sich in den Menschen einzunisten und festzusetzen, sich gegenseitig zu verstärken, Bedenken wegzuschwemmen und am Ende auf Abruf tätlich umsetzen zu lassen. Einen solchen gleitenden Übergang vom "harmlosen" eliminatorischen zum gewalttätigen Antisemitismus wird in einem "Mahnwort" des mecklenburgischen Landesbischofs zu den November-Pogromen 1939 deutlich, abgedruckt in dem weitverbreiteten evangelischen Sonntagsblatt Pflugschar und Meißel (18.11.1938). Es bezweckte, "den deutschen Menschen dazu zu verhelfen, daß sie ohne falsche Gewissensbeschwerden getrost alles daransetzen, eine Wiederholung der Zersetzung des Reiches durch jüdischen Ungeist von innen her für alle Zeiten unmöglich zu machen." Die Zumutung und Hinnahme solcher Mahnungen durch einen beachtlichen Teil der evangelischen Bevölkerung, ihre Pastoren und Kirchenleitung, setzt eine über lange Zeit aufgebaute Prädisposition voraus.

Die heftigen Reaktionen gegen Goldhagen erinnern mich an die ebenso emotionale Zurückweisung des Begriffes "Kollektivschuld" nach Ende des 2. Weltkrieges. Zu keinem Zeitpunkt habe ich diese Abwehr nachvollziehen können. Immer erschien sie mir - und erscheint mir noch - als Weigerung, die volle Verantwortung für das Geschehen zu übernehmen. Der Begriff Kollektivschuld schloß immer die ehrenvolle Würdigung von geleistetem Widerstand und erlittenem Unrecht nicht aus, sondern ein. Hinter diesen Protesten verbarg sich für mein Empfinden - und Erleben - populistisches Denken. Sie meinten letztlich auch ein Ausweichen vor der ganzen schmerzlichen Wahrheit. Hier liegt eine jener Lebenslügen, die unsere Republik vom Anfang an begleitet und die ihr so wenig gutgetan haben. Vielleicht wird dieser Stempel am deutlichsten sichtbar an dem sogenannten Stuttgarter "Schuldbekenntnis" der evangelischen Kirche. Es dürfte an der Zeit sein, daß sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen gleichberechtigt zu einer besseren Zusammenarbeit beim Umgang mit dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus bereitfinden.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 30 (Dezember 1996) S. 73-75.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 30

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