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Der "Arbeitskreis für die Erforschung der 'Euthanasie'-Geschichte" verabschiedete die nachfolgend abgedruckte Grafenecker Erklärung zur Bioethik. In Grafeneck nahe Münsingen/Schwäbische Alb wurden im Zeitraum vom Januar bis Dezember 1940 im Rahmen des nationalsozialistischen "Euthanasie"-Programms rund 10.000 Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Krankheiten durch Giftgas getötet. An diesem Ort, wo heute eine Gedenkstätte an die Opfer erinnert, kam im Oktober 1995 der "Arbeitskreis zur Erforschung der 'Euthanasie'-Geschichte" zusammen und diskutierte über die Gefahren der heutigen Bioethik. Es entstand die Grafenecker Erklärung, die aufgrund der Vorlage der endgültigen Fassung der "Menschenrechtskonvention zur Biomedizin" des Europarates im Juni 1996 noch einmal leicht überarbeitet wurde.

Grafenecker Erklärung zur Bioethik

Ethik im philosophischen Sinne bezieht sich immer auf den Menschen als ein soziales Wesen, nicht auf den Menschen als biologische Materie. Der Begriff "Bioethik" ist deshalb irreführend. Eine "Bioethik" als Grundlagen-Ethik ist nicht möglich.

Bioethik im Sinne des heute gebräuchlichen Begriffes versteht sich als Ethik zur Anwendung der Biowissenschaften auf den Menschen. Sie wurde in den letzten 20 Jahren in den USA unter dem Begriff der bioethics entwickelt. Auf diesen Begriff der Bioethik bezieht sich unsere Erklärung, deren eigener normativer Hintergrund die Menschenrechtstradition ist.

Als angewandte Ethik ist die Bioethik nur eine Teilethik und muß ihre Vereinbarkeit mit einer Grundlagen-Ethik wie z.B. einer allgemeinen Sozialethik darlegen. Dies unterläßt die Bioethik. Dennoch hat sie längst auf der internationalen Ebene die Meinungsführerschaft übernommen und alle anderen Ansätze von medizinischer Ethik verdrängt. So droht diese Teilethik zur generellen Ethik der modernen Medizin zu werden.

Die UNESCO plant für das Jahr 1998 - 50 Jahre nach der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 - eine internationale Deklaration zur Anwendung der neuen Biowissenschaften auf den Menschen. Der Arbeitstitel lautet "Bioethik-Deklaration". 1993 wurde dafür von der Generalversammlung der UNESCO ein internationales Bioethik-Komitee gegründet.

Auch der 1994 erstmals bekannt gewordene Entwurf der Bioethik-Konvention des Europarates "Zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin", der als Vorarbeit zum UNESCO-Vorhaben entstanden ist und darin eingehen soll, trug den Untertitel "Bioethik-Konvention". Dieser wurde erst in der endgültigen Fassung, die im Juni 1996 vorgelegt wurde, ersetzt durch den Untertitel "Menschenrechtskonvention zur Biomedizin", ohne aber die bioethische Denkweise des Konventionstextes zu überwinden.

"Dank der Entdeckungen in Genetik, Neurobiologie und Embryologie", so heißt


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es in einem Papier der UNESCO zu dieser geplanten Deklaration (Dok. 93/4-Doc.Inf.1), "hat der Mensch zum ersten Mal Zugang zu dem Wissen über seine eigenen Lebensmechanismen. Über dieses Wissen hinaus hält er heute die Macht in den Händen, in den Entwicklungsprozeß allen Lebens, aller lebenden Spezies, einschließlich der eigenen, verändernd einzugreifen... Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte hat die Menschheit dank ihres Wissens und ihrer technischen Errungenschaften die Chance, die Herausforderungen der Zukunft mit modernem Denken zu durchdringen, statt Schadensbilanzen nachträglich zu ziehen."

Nach den Katastrophen der modernen Atomphysik, nach Hiroshima und Tschernobyl, ist dies ein bestechender Gedanke. Für gefährlich halten wir aber, daß das moderne Denken, mit dem die Biowissenschaften durchdacht und ihre Entwicklung mit ethischen Normen in Einklang gebracht werden sollen, die Bioethik sein soll.

Mit großer Besorgnis stellen wir fest, daß die Bioethik kein Instrument zur Bewahrung der Menschenrechte ist, sondern im Gegenteil an entscheidenden Stellen den Boden der Menschenrechte verläßt, die geschichtlichen Erfahrungen mißachtet und den menschenrechtlichen Schutz des Einzelnen zweckdienlichen Wertabschätzungen unterwirft.

I. Bioethik contra Menschenwürde

I.1. Bioethik und Menschenwürde

Die Bioethik lehnt letzte Werte ab, so auch die Unantastbarkeit menschlichen Lebens. Menschliches Leben ist für sie prinzipiell ohne Sinn und ohne Wert, kann aber durch Handlungen Sinn und Wert erwerben. Voraussetzung für diese sinnstiftenden Handlungen sind im Denken der Bioethiker Eigenschaften wie Selbstbewußtsein, Selbstkontrolle, Gedächtnis, Kommunikationsfähigkeit sowie Sinn für Zukunft und Zeit. Menschliches Leben wird für die Bioethiker erst durch diese Qualitätsmerkmale zu personalem Leben. Ohne sie sei menschliches Leben unpersonal, ohne Würde, ohne Wert und ohne Recht.

Die Bioethik bestreitet damit die Universalität der Menschenrechte, die jedem Menschen - unabhängig von seiner Hautfarbe, seinem Geschlecht, seiner Leistung oder seiner Gesundheit - die Unverletzlichkeit seiner Person und die Unantastbarkeit seiner Würde garantieren. Die Menschenrechtsgarantie bedeutet, daß der Einzelne seine Grundrechte weder erwerben muß noch anderen verdankt.

Die Bioethik will dieses Prinzip außer Kraft setzen: Der Einzelne soll seine Grundrechte auf Schutz und Würde erst durch seine Eigenschaften und Leistungen erwerben. Er soll die Grundrechte anderen verdanken, die darüber entscheiden, ob seine Eigenschaften und Leistungen ausreichen.

Auf der Grundlage dieser bioethischen Grundaussage werden Menschen mit Behinderungen oder Alterserkrankungen abgewertet und zu Forschungsobjekten und Materiallagern für Transplantate degradiert, werden Sterbende als Kostenfaktor betrachtet und Embryonen zu Sachen erklärt.


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I.2. Bioethik und Forschungsfreiheit

Noch an einem zweiten wesentlichen Punkt verläßt die Bioethik das Fundament der Menschenrechtstradition. Sie relativiert alle Werte, indem sie sie in "moralischen Kosten-Nutzen-Analysen" (moral-cost-benefit-analyses) gegeneinander abwägt. Die Bioethik stellt menschenrechtliche Schutzgarantien des Einzelnen anderen Rechten wie der Forschungsfreiheit gleichrangig gegenüber. Durch diese Relativierung werden Grundrechte ihres unverbrüchlichen und unverwirkbaren Charakters beraubt.

Dabei nimmt die Bioethik für sich in Anspruch, Diskursethik zu sein. Eine Diskursethik beruht aber auf den Prinzipien der Freiwilligkeit der Teilnahme am Diskurs, der Gleichberechtigung aller Diskursteilnehmer und der Achtung der Freiheit des anderen, d. h. seiner Grundrechte, die unantastbar sind und den Diskurs erst ermöglichen. Gerade diese Prinzipien mißachtet die Bioethik aber und ersetzt sie durch eine interessenbestimmte und daher gefährliche Entscheidungsethik, die mit der Diskursethik nicht vereinbar ist.

"Damit der Fortschritt der Wissenschaft und der Technik nicht willkürlich behindert oder zum Stillstand gebracht und dem Menschen kein Schaden zugefügt werde", heißt es in einem Begründungspapier für die Bioethik-Konvention des Europarates, müßten zwei Rechte miteinander in Einklang gebracht werden, "das Recht des Individuums auf Würde und das Recht, am wissenschaftlichen und technischen Fortschritt als Teil des kulturellen Erbes der Menschheit teilzunehmen" (ADOC7156, Pkt. 10). Damit wird die Menschenwürde zum Gegenstand gesellschaftlicher Abwägungen über den Wert des Fortschrittes.

Das Bioethik-Komitee der UNESCO bezieht sich gar auf einen "Imperativ der Forschungsfreiheit", den es als gleichberechtigt sieht neben dem "ethischen Imperativ", den die UNESCO aufgrund ihrer universalen Rolle vertritt. Durch diese Gleichsetzung mit einem ethischen Wert niedrigeren Ranges wird die Menschenrechtsgarantie für den Einzelnen zur Disposition gestellt.

Mit bioethischen Positionen können die Menschenrechte nicht gesichert werden. Im Gegenteil: Statt die Forschung auf der Grundlage der Menschenrechte zu kontrollieren, rücken die Bioethiker die Menschenrechte in die Nähe des Dogmatismus. Ganz offen sagt die Leiterin des Bioethik-Komitees der UNESCO, Noelle Lenoir: "Bei einer solchen Deklaration oder Konvention sollte jeder Dogmatismus fehlen. Man muß ein pragmatisches Dokument vorbereiten, das offen ist gegenüber Veränderungen, die der Fortschritt der Wissenschaft mit sich bringt" (SHS-93-CONF 015/3).

I.3. Bioethik und eine neue Kollektivverpflichtung

Die menschenrechtliche Grundposition, daß der Mensch Mitglied der menschlichen Gesellschaft ist, erfährt in der Bioethik eine kleine, aber bedeutsame Umformulierung. Die Bioethik betont, daß der Mensch nicht nur der einzelne personale Mensch sei, sondern immer auch der Vertreter der "Spezies Mensch". Der biologische Teilaspekt des Menschen wird hier verabsolutiert und rückt an die Stelle des


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sozialethischen Grundsatzes, daß der Mensch immer ein soziales Wesen ist.

In der Präambel des Konventionsentwurfes des Europarates wird diese Formulierung wörtlich übernommen. Die Mitgliedstaaten des Europarates wollen die Konventionsvereinbarung in der Überzeugung "von der Notwendigkeit der Achtung des Menschen sowohl als Individuum als auch als Mitglied der menschlichen Spezies" treffen.

Was als sprachliche Variante des common sense erscheint, hat weitreichende Folgen: Fremdnützige Forschung - Forschung, die nicht dem Menschen nützt, an dem geforscht wird, sondern Dritten - wird zur "Forschung zum Nutzen für die menschliche Spezies" und als solche zu einem "Menschenrecht der Menschheit" stilisiert.

Die Medizin soll aus ihrer individualethischen Bindung herausgetrennt werden, um die Entwicklung der Biowissenschaften zu beschleunigen. Fremdnützige Forschung, die nicht mehr auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruht, ist auf Ersatzlegitimationen angewiesen, die auf kollektive Interessen verweisen: auf den Nutzen für die zukünftigen Patienten, welche die gleiche Krankheit haben, auf den Nutzen zukünftiger Generationen, den Nutzen der gesamten Menschheit.

"Trost und Sinn für den Kranken könne auch darin gefunden werden, daß er Forschungszwecken dienen und damit dazu beitragen könne, anderen vergleichbar betroffenen Menschen zu helfen", heißt es in einer Darstellung der verfassungsrechtlichen Debatte um den Konventionsentwurf des Europarates (Ministerialdirigent G. Belchaus, Bericht zum Stand der Diskussion im Europarat, auf der Fachtagung "Dürfen wir, was wir können?", Diakonisches Werk Baden-Württemberg, Stuttgart 21.3.1995).

II. Bioethik - der Griff nach dem Menschen

II.1. Der Zugriff auf nicht einwilligungsfähige Personen

Im Entwurf der "Menschenrechtskonvention zur Biomedizin" des Europarates wird auf der Basis des bioethischen Personen-Begriffes biomedizinische Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen (persons not able to consent) legitimiert, auch wenn der Mensch, an dem geforscht wird, nicht zustimmt und wenn ihm die Forschung therapeutisch nicht nützt.

Für die große Gruppe der nicht einwilligungsfähigen Menschen mit geistigen Behinderungen, psychischen Krankheiten, Altergebrechlichkeiten, Hirnerkrankungen oder vorübergehendem oder längerem Wachkoma soll die menschenrechtliche Garantie der Unverletzlichkeit der Person aufgehoben und durch ein Sonderrecht ersetzt werden. Ein Eingriff soll dann erlaubt werden, wenn das Risiko und die Belastung minimal seien und keine einwilligungsfähigen Personen gefunden werden könne, die einem solchen Eingriff zustimmen. Massive Proteste hatten dazu geführt, daß die Parlamentarische Versammlung des Europarates die Bioethik-Konvention in der vorliegenden Form zurückgewiesen hatte und grundlegende Veränderungen eingefordert hatte. In der nun den Entscheidungsgremien vorgelegten Fassung der Konvention vom Juni 1996 ist der alte Plan aber erneut festgeschrie-


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ben. Ebenso wird die Entnahme regenerierbaren Gewebes für nahe Anverwandte bei nicht einwilligungsfähigen Personen ohne persönliche Zustimmung vorgesehen.

Der Forschungszugriff auf nicht einwilligungsfähige Menschen wird derzeit von vielen Wissenschaftlern gefordert. Die angesehenen deutschen Psychiater Helmchen und Lauter fordern in ihrem 1995 erschienenen Buch "Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen?", daß die Forschung an geschlossen untergebrachten Dementen ohne persönliche Einwilligung erlaubt wird. Sie begründen dies mit der von ihnen geforderten Solidarität und sozialen Verantwortung heutiger Demenzkranker gegenüber den Demenzkranken zukünftiger Generationen.

II.2. Der Zugriff auf menschliche Embryonen

Die Freigabe der Embryonenforschung ist für die Biowissenschaften ein entscheidender Schritt. Von ihr hängt die Optimierung der künstlichen Befruchtung ab. Aber auch für die Gendiagnostik und die Gentherapie ist es entscheidend, am Embryo experimentieren zu können. In der Bundesrepublik besteht bisher ein Verbot der Forschung an lebensfähigen menschlichen Embryonen. Dieses Verbot gilt allerdings nicht für tote oder entwicklungsunfähige Embryonen.

Im Gegensatz dazu legalisiert die im Juni 1996 vorgelegte endgültige Fassung der Konvention des Europarates die Embryonenforschung. Sie bindet die Erlaubnis der Embryonenforschung lediglich an einen "ausreichenden Schutz des Embryo", ohne jedoch auszuführen, wie dieser aussehen soll. Der europaweiten Freigabe ist damit die Tür geöffnet. Sogar die Begrenzung auf die Zeit bis zum 14. Tag der Entwicklung steht damit zur Disposition. Lediglich die Herstellung menschlicher Embryonen für Forschungszwecke wird verboten. Aktuelle Probleme wie der Handel mit Embryonen oder der Verbrauch von menschlichen Embryonen für Heilversuche, z.B. bei der Parkinson'schen Erkrankung, sollen in Protokollen geregelt werden, die der Öffentlichkeit bisher nicht vorliegen, aber gleichwohl Bestandteil der Konvention werden sollen.

II.3. Der Zugriff auf das menschliche Genom

In der "Deklaration zum Schutz des menschlichen Genoms", welche die UNESCO als Entwurf Mitte 1995 vorlegte, wird das menschliche Genom zum "Erbe der Menschheit" erklärt. Die Wortwahl legt nahe, daß dieses Erbe bewahrt werden soll, ähnlich einem Weltkulturgut. Sie legt aber auch nahe, daß es ein Interesse der Allgemeinheit an der Ausbeutung dieses "Erbes" gibt. Der UNESCO-Text schließt auffälligerweise Eingriffe in das Genom und Genmanipulationen, auch Keimbahnmanipulationen ebensowenig aus wie voraussagende (prädikative) Gentests und die Patentierung von Genschnipseln. Aussagen zum Datenschutz fehlen.

Angesichts weltweiter Gen-Kartierungsprojekte, erster Gen-Patentierungen und praktisch durchgeführter Gen-Manipulationen an Tieren fällt ins Auge, wie wenig konkret dieser Text bleibt. Die ökonomische Nutzung des menschlichen Genoms wird durch diese Deregulierung gefördert, insbesondere, weil der UNESCO-Text


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gleichzeitig die eindeutige Verpflichtung der nationalen Staaten zur Förderung der Forschung enthält. So werden die Interessen der biotechnischen Industrie durchgesetzt, welche die Gene gern als "Währung der Zukunft" bezeichnen.

Im Konventionsentwurf des Europarates werden Eingriffe in das menschliche Genom zu präventiven, therapeutischen oder diagnostischen Zwecken bereits legitimiert. Gentests werden weitestgehend für gesundheitliche und wissenschaftliche Zwecke erlaubt. Fragen der Einwilligung und des Datenschutzes bei der Weitergabe der Testdaten bleiben unerwähnt. Lediglich Eingriffe in das menschliche Genom mit dem Ziel der "Veränderung des Genoms der Nachkommenschaft" werden noch abgelehnt.

Die Grenzen zwischen Eingriffen in das Genom mit unbeabsichtigten und mit beabsichtigten Keimbahnfolgen sind jedoch dünn. Angesichts der absehbaren Entwicklung weltweit freigegebener Keimbahneingriffe und angesichts der Diskussion innerhalb der Biowissenschaften und des für die Konvention zuständigen Lenkungsausschusses des Europarates wird auch diese letzte Hürde schnell fallen.

Eine internationale Deklaration zum Schutz des menschlichen Genoms muß deshalb unmißverständlich feststellen, daß jeder Mensch Träger seines individuellen Genoms ist, das als Teil seiner Persönlichkeit unveräußerlich ist. Beforschung und Heileingriffe müssen der jeweiligen freiwilligen Zustimmung unterliegen. Manipulationen der Keimbahn müssen ausdrücklich ausgeschlossen werden.

III. Unsere Forderungen

III.1. Menschenrechtsgarantien statt bioethischer Abwägungen

Angesichts der Gefahren der neuen Biowissenschaften und ihrer leichtfertigen bioethischen Legitimation fordern wir die Einhaltung der Menschenrechte bei der Beurteilung biomedizinischer Möglichkeiten und bei der Bestimmung des ethisch vertretbaren Rahmens für die biomedizinische Entwicklung.

Die Erklärung der Menschenrechte von 1948, ebenso wie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und andere Länderverfasungen, die sich auf die Menschenrechts-Charta beziehen, definieren ausdrücklich nicht, was ein Mensch ist, um keinen Menschen auszuschließen oder zu diskriminieren.

Der Konventionsentwurf des Europarates umgeht die Definition des Menschen aus einem anderen Grund. Man konnte sich in dem Lenkungsausschuß nicht einigen, was ein Mensch ist und für wen die Menschenrechte Geltung haben sollen. Die Begriffe "menschliches Leben", "Mensch" oder "jedermannn" werden bewußt offengelassen, um die Akzeptanz der Konvention zu erleichtern, da - so die Berichterstatterin Palacios (ADoc 7156) - "wir uns sonst angesichts der philosophischen, wissenschaftlichen, ethischen und religiösen Implikationen in uferlose Debatten verstricken würden."

Der menschenrechtswidrigen bioethischen Person-Doktrin setzen wir ein Verständnis des Menschen entgegen, das alle Menschen einbezieht, menschliches Leben von Anfang an und in allen seinen Formen umfaßt und ihm Recht und Würde garantiert.


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Mit einer solchen Position werden auch alle ethischen Fragen des Schwangerschaftsabbruchs angesprochen. So wie wir es für ein notwendiges Recht halten, eine Schwangerschaft aus medizinischen oder sozialen Gründen bis zum dritten Monat abbrechen zu können, so halten wir jede diesbezügliche Einzelentscheidung nicht nur für schwierig, sondern auch stets für ethisch strittig. Letztlich stehen die beiden Werte, das Recht der Frau auf Selbstbestimmung und das des Kindes auf Leben, in einem Grundkonflikt miteinander, der weder durch bioethische Abwägungen noch durch maximalistische oder pragmatische Positionen zu lösen ist.

Wird menschliches Leben als prinzipiell menschenrechtsgeschützt und die Menschenwürde als konstitutiv für das Menschsein verstanden, so sind damit alle Wert-Unwert-Entscheidungen über menschliches Leben durch Dritte ausgeschlossen. Darunter fallen Schwangerschaftsabbrüche aus eugenischer Indikation, die sich durchaus hinter einer sozialen oder medizinischen Indikation verbergen können, und eugenisch begründete Nicht-Implantationen von Embryonen bei der künstlichen Befruchtung. Ebenso muß auf dieser Basis jede verbrauchende Forschung an menschlichen Embryonen oder die Benutzung von Embryonen zur Herstellung von Medikamenten zurückgewiesen werden.

Persönliche Entscheidungen zur Nicht-Zeugung von Kindern aufgrund humangenetischer Beratung sind im Gegensatz zu erzwungenen Entscheidungen zur Nicht-Zeugung aus rein gesellschaftlichen Gründen unserer Meinung nach mit dem menschenrechtlichen Verständnis des Menschen zu vereinbaren und tolerierbar. Die Grenzen zwischen tatsächlicher und erzwungener Freiwilligkeit können allerdings gerade an diesem Punkt verwischen, wenn die Gesellschaft gegenüber Behinderten feindlich ist und nicht eindeutig den Wertestandpunkt bezieht, daß behinderte wie nicht behinderte Kinder willkommen sind.

III.2. Der Nürnberger Kodex - Ausgangspunkt für die Zukunft

Grundlage für die Rechte des Menschen in der Medizin kann nach unserer Einschätzung nur der Nürnberger Kodex sein: Angesichts der nationalsozialistischen Medizin-Verbrechen wurde er im Jahre 1947 als allgemein und international anerkannte ethische Grundlage der Medizin formuliert, auch um dem internationalen Gerichtshof von Nürnberg eine Grundlage für die juristische Beurteilung der medizinischen Experimente und der eugenischen Verbrechen zu geben.

Nach dem Nürnberger Kodex steht der Mensch mit seinen individuellen, menschenrechtlich garantierten Grundrechten im Mittelpunkt der Medizin, nicht die medizinische Forschung, nicht der wissenschaftliche Fortschritt und nicht der Nutzen der Gesellschaft. Der Nürnberger Kodex muß das Fundament für die Zukunft der Medizin und die Anwendung der Biowissenschaften auf den Menschen bleiben.

III.3. Besonderer Schutz für nicht einwilligungsfähige Personen

Basis der humanen Medizin ist die freiwillige Einwilligung nach umfassender In-


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formation (informed consent), die jeder Behandlung, jedem Heilversuch und jeder medizinischen Forschung zum Wohle Dritter zugrunde liegen muß. Nach dem Nürnberger Kodex kann auf diese Einwilligung nicht verzichtet werden. Sie kann nicht ersetzt und nur bei Notfallmaßnahmen umgangen werden. Sie setzt die vollständige Information durch den Arzt oder Untersuchenden sowie die volle Urteilsfähigkeit des Patienten voraus. Sie kann jederzeit widerrufen werden.

Die Versuche, die Rechtsnormen des Nürnberger Kodex zu revidieren und den Forschungsinteressen anzupassen, waren vielfältig. Die "Deklaration von Helsinki" von 1964 hingegen nimmt eine Präzision vor, der wir uns anschließen: Medizinische Untersuchungen, die einen Nutzen für den Betroffenen haben, sind Heilversuche und können bei nicht einwilligungsfähigen Personen ersatzweise durch die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters legitimiert werden.

Damit sind alle fremdnützigen Forschungen, die ohne freiwillige Zustimmung erfolgen, ausgeschlossen. Nicht einwilligungsfähige Personen sind dadurch vor solchen Forschungen und der Unterwerfung unter Menschenversuche eindeutig geschützt. Sämtliche sekundären Rechtfertigungsargumente wie geringes Risiko, hoher Nutzen für die gleiche Patientengruppe oder für die Menschheit schlechthin oder der Verweis auf Trost und Sinngebung, für nachkommende Patienten etwas beizutragen, sind zurückzuweisen.

Andere Revisionen des Nürnberger Kodex in den Deklarationen von Helsinki und danach, die den Forschungsinteressen Vorrang vor den Patientenrechten einräumen und die Verpflichtung zur persönlichen Einwilligung aushöhlen, lehnen wir ab.

Vielmehr plädieren wir dafür, den folgenden erläuternden Grundsatz, der von Jay Katz im Sinne des Nürnberger Kodex angesichts der späteren Revisionen formuliert wurde, heute wieder in den Mittelpunkt zu stellen und in alle Erklärungen zur Biomedizin aufzunehmen:

"Bei Forschungen an Menschen dürfen die Interessen der Wissenschaft und der Gesellschaft niemals über Erwägungen des Wohlbefindens des Einzelnen stehen, so wie er sie nach vollständiger Information durch den Arzt trifft und aufgrund derer beide zusammen eine bewußte und aufgeklärte Entscheidung fällen." (Jay Katz, The Nazi-Doctors and the Nuremberg Code, 1992, S. 232).

Damit ist den bioethischen Abwägungen zwischen individuellen Menschenrechten und dem vermeintlichen Menschenrecht auf Forschung eine eindeutige Absage erteilt. Ebenso sind sämtliche mögliche Kollektiv-Verpflichtungen, durch die der Einzelne seinen Körper als Versuchsobjekt für nachfolgende Generationen zur Verfügung zu stellen hätte, zurückgewiesen. Solidarität kann nur durch freiwillige Zustimmung des Einzelnen erreicht werden, nicht durch Zwangsverpflichtung oder gesetzliche Erzwingungen.

IV. Die Geschichte darf sich nicht wiederholen

Bioethischen Verweisen auf "übergeordnete Interessen", das "Wohl der kommenden Generationen" oder gar ökonomische Überlegungen bezüglich einer "Gesun-


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dung der Menschheit" stehen wir skeptisch gegenüber. Wir sehen in ihnen die Gefahr der Wiederholung der Geschichte.

Gigantomanische Gesundheitsvorstellungen haben in der Nazi-Ära dazu geführt, daß nicht nur die Rechte, sondern auch das Leben des Einzelnen mißachtet wurden, um den "Volkskörper" zu heilen. Wäre im professionellen Denken und Handeln der Ärzte im Nationalsozialismus die unumstößliche Notwendigkeit der menschenrechtlichen Schutzgarantien des Einzelnen fest verankert gewesen, hätten sie niemals den Illusionen und den verbrecherischen Folgen der "Magna therapia", der Heilung des "Volkskörpers" auf Kosten des Einzelnen, folgen können.

Eine Besinnung auf den Nürnberger Kodex und die geschichtliche Erfahrung, die zu ihm geführt hat, bedeutet eine Umkehr der weltweit zu beobachtenden Entwicklung, biomedizinische Möglichkeiten im Nachhinein über die Bioethik zu legitimieren.

Wir räumen ein, daß eine solche Umorientierung zu einer Verlangsamung der Forschung führen kann, auch dazu, daß Forschungserkenntnisse erst dann erzielt werden, wenn sie den heute lebenden Patienten nicht mehr zugute kommen können.

Angesichts der immensen Gefahren eines bioethisch legitimierten menschenrechtsverletzenden und ungezügelten Fortschritts der Biowissenschaften, angesichts der erneut heraufziehenden Gefahren einer "Magna Therapia", der die Rechte des Einzelnen geopfert werden, plädieren wir im Sinne eines Prinzips der Langsamkeit dennoch dafür, die Entwicklung der Biowissenschaften auf der strikten Grundlage der Menschenrechte zu kontrollieren.

Medizinischen Fortschritt, der sich auf menschenrechtsverletzende Experimente stützt, lehnen wir nach den historischen Erfahrungen der Menschenversuche im Nationalsozialismus und ihrer Verwertung nach 1945 ab.

Medizinischer Fortschritt hat in der Vergangenheit nicht per se dazu geführt, daß sich die Lebensqualität und die Lebenserwartung der Menschen erhöht haben. Die medizinische Versorgung der Mehrheit der Weltbevölkerung entspricht keineswegs dem erreichten Stand medizinischen Wissens. Der Fortschritt des Biowissenschaften und der Medizin muß sich deshalb immer auch an der Gerechtigkeit der Verteilung medizinischer Ressourcen messen lassen.

Ein humaner Fortschritt der Biowissenschaften und der Medizin ist nur auf der Grundlage der Prinzipien der Freiwilligkeit, der Zugänglichkeit für alle Menschen und der Unantastbarkeit der Würde und des Lebensrechtes aller Menschen möglich.

Verfasser für den "Arbeitskreis zur Erforschung der 'Euthanasie'-Geschichte": Dr. Michael Wunder, Himmelstraße 26, 22299 Hamburg.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 31 (Juni 1997) S. 77-85.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 31

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