oder
"Was die Briefe zu erzählen haben"
Meine Berichte über niederländische Zwangsarbeiter in Kiel und Lübeck [1] basieren in erster Linie auf Befragungen ehemaliger Zwangsarbeiter. Die Verwertbarkeit und "Objektivität" von Aussagen Betroffener wird häufig angezweifelt. Ich beanspruche absolut nicht, mit meinen Artikeln eine "objektive Darstellung" geleistet zu haben. Das kann und will ich gar nicht. Ich bezweifle auch, daß es überhaupt eine objektive Geschichtsschreibung gibt. Die offizielle Geschichtsschreibung ist gekoppelt mit den politischen Interessen der jeweils Herrschenden.
Und der AKENS? Ich denke, daß bei den Mitgliedern des AKENS in zwei Punkten ziemliche Einigkeit besteht: Wir tun unsere Arbeit zum einen, um dem Verdrängen und Vergessen dieser dunklen Jahre jüngster deutscher Geschichte entgegenzuwirken, und zum anderen um aufzuzeigen, wohin Faschismus führt, wenn er erst die Macht hat. Zu diesem Zweck halte ich die Befragung von Opfern des NS-Regimes nicht nur für eine legitime, sondern hervorragend geeignete Sache. In meinem Fall verstehe ich mich somit quasi als Sprachrohr der ehemaligen Zwangsarbeiter, wobei ich deren persönliches Empfinden und Erleben festzuhalten und zu vermitteln versuche. Daraus ergibt sich eine rein subjektive "Geschichtsdarstellung". Geschichte ist für mich nicht die Aneinanderreihung von (angeblichen) Fakten und Daten, sondern das konkrete Erleben und Handeln Betroffener in bestimmten politischen und ökonomischen Situationen.
Als Reaktion auf meinen zweiten Artikel über niederländische Zwangsarbeiter [2] erhielt ich einen Brief von Kees Schilt aus Rotterdam. Kees Schilt arbeitete u.a. bei der Firma MfM - Maschinen für Massenverpackung - in Lübeck. Er machte sich so seine Gedanken über meine Darstellung.
" Es ist Ihnen in der Tat gelungen, das tägliche Lebensklima deutlich darzustellen, auch wenn dieses Bild in meinen Augen jetzt besser aussieht als damals. Die Berichte meiner Landsleute kommen mir manchmal schon sehr positiv vor. Vielleicht verkehrten sie in einer etwas bevorzugten Situation in Kiel im Vergleich zu vielen anderen Niederländern, aber ich habe Angst, daß die lange Zeit, die seitdem vergangen ist, dazu führt, daß die negativen Erfahrungen aus der Erinnerung verblichen sind und die positiven Seiten hingegen eher hervorgehoben werden. Ich habe mich selbst auch dabei erwischt in meinem Bericht an Sie vom 1. Mai 1994.
Vielleicht auch ist die Gruppe der von Ihnen behandelten Personen (wozu ich auch gehöre) zufällig keine Durchschnittsgruppe, sondern in einiger Hinsicht eine etwas bevorzugte Gruppe, denn viele andere haben es bedeutend schlechter gehabt.
In Wirklichkeit war unsere Situation weniger günstig, als es aus den verschiedenen Interviews hervorgeht, und das gilt natürlich vor allem für die Zeit 1944/45. In einigen Berichten stellt man sich manchmal gewitzter und geschickter dar, als man es in Wirklichkeit wahrscheinlich war.
Wir erfuhren vor allem auch einen psychischen Druck, weil wir nicht wußten, wie der Zustand zu Hause war. Ab September 1944 durften wir keine Briefe mehr nach Hause schicken, folglich wußten wir nichts über die Folgen des Hungerwinters für unsere Familienmitglieder.
Diese psychische Belastung empfand ich häufig als viel einschneidender als die körperlichen Beschwerden wegen Hunger, Hygiene, usw." [3]
Am 30. Juni 1943 wurde der neunzehnjährige Alexander van Gurp von Den Haag aus zum Arbeitseinsatz nach Lübeck geschickt und dort zunächst zusammen mit seinen Landsleuten im Gemeinschaftslager "St. Jürgen" an der Geniner Straße untergebracht. In diesem Lager der Deutschen Arbeitsfront wohnten Niederländer, Belgier, Franzosen und Italiener. Alex van Gurp mußte bei den Berlin-Lübecker Maschinenfabriken Bernhard Berghaus, Curt-Helm-Straße 29-35 (heute Glashüttenweg), arbeiten. Später wurden seine Kollegen und er in das betriebseigene Gemeinschaftslager "West" in der Curt-Helm-Straße verlegt.
Dieses Lager war geteilt in eines für "West-" und eines für "Ostarbeiter", und es lebten dort etwa 1200 Menschen. Im "Westlager" wohnten junge Männer westlicher Nationen, im "Ostlager" Frauen und Männer aus Polen und der Sowjetunion. Obwohl die beiden Lager streng voneinander getrennt waren, fanden Alex van Gurp und seine Kollegen Wege, um dem “Ostlager Besuche abzustattenö.
Als Sprecher der ca. 200köpfigen niederländischen Lagergemeinschaft war Alex van Gurp wohl einem N.S.B.er [4] ein Dorn im Auge und wurde von ihm bei der Gestapo denunziert. Am 3. Januar 1944 wurde er verhaftet und durch den Gestapo-Beamten Wolf verhört. Anschließend verbrachte er einige Wochen im Gefängnis Lohmühle, um dann am 21. Januar nach Kiel überstellt zu werden. Hier steckte man ihn in ein "Straferziehungslager", die sog. "Polizeibaracke Drachensee", Vorläufer des berüchtigten "Arbeitserziehungslagers Nordmark". Am 29. März 1944 wurde Alex van Gurp als physisch und psychisch gebrochener Mensch aus dem Lager entlassen und zurück nach Lübeck geschickt. Mit Brustfellentzündung und 45 kg Gewicht brach er zusammen und mußte sechs Wochen lang von seinen Stubenkameraden gepflegt werden.
Nach einer Bombardierung der Fabrik und des Betriebslagers am 25. August 1944, bei der viele Zwangsarbeiter getötet wurden, zog man erneut um in das Lager "Am Stau", Travemünder Landstraße 241. Hier erlebte Alex van Gurp am 2. Mai 1945 die Befreiung durch die Engländer und machte sich am 5. Mai mit dem Fahrrad auf den Weg nach Hause, wo er am 17. Mai glücklich ankam. [5] 1946 heiratete er und wanderte bald darauf nach Kanada aus; seit 1953 lebt er in Halifax.
Auch Alex van Gurp bekam seine Zweifel mit der Darstellung seiner Erlebnisse nach so vielen Jahren. Dies beschäftigte ihn so, daß er versuchte, sei-
ne Memoiren aus jenen Jahren an Hand seiner Briefe zu schreiben, die er damals nach Hause geschickt hatte. So könne ihm die Zeit zumindest keinen Streich spielen. Ich fand seine Aufzeichnungen und Gedanken dazu für alle, die sich mit "Oral History" beschäftigen, so interessant, daß ich sie aus dem Niederländischen übersetzt habe.
Daß uns das Gedächtnis häufig sonderbare Streiche spielt, zeigt sich jedes Mal wieder, wenn ich an den eisernen Nachttopf denke. Dieser eiserne Nachttopf stand bei uns auf dem Speicher, wo wir mit etwa acht Kindern schliefen. Das war in den zwanziger Jahren, als die Wohnungen noch sehr klein und die Familien mitunter sehr groß waren. Das traf in jedem Fall auf unsere Familie zu. Ich war die Nummer zehn, und nach mir kamen noch fünf.
Nun also, zurück zum Nachttopf. Dieser wurde von uns ausschließlich nachts benutzt, und das war natürlich überhaupt nicht schlimm, auch nicht die Tatsache, daß wir alle denselben Nachttopf benutzen mußten. Das Schlimme kam dann, wenn man der letzte gewesen war, der ihn benutzt hatte, denn dann mußte man den randvollen Nachttopf morgens die Treppe hinuntertragen.
Ich weiß nicht, wie heutzutage ein Psychologe das erklären würde, aber ich habe jahrelang eine Art Besessenheit mit dieser Erfahrung gehabt, mitunter sogar Alpträume. In meiner Vorstellung wurde die Treppe immer steiler. Nicht nur allein in meinen Träumen, sondern ich meinte auch in meiner Erinnerung. Letztendlich war ich absolut und wirklich davon überzeugt, daß die Treppe furchtbar steil war. Ich hätte es beschwören können.
Das änderte sich gänzlich, als meine älteste Schwester und ich vor etwa zehn
[Abb. 1: Alex van Gurp im Jahr 1989]
Jahren beschlossen, eine Wallfahrt zu den Häusern zu unternehmen, wo wir als Kinder gewohnt hatten. Die erste Station war in der Jan van Houtstraat in Den Haag (einige nennen dieses Stadtviertel Scheveningen), das Haus mit der steilen Treppe und dem eisernen Nachttopf. Wir wurden herzlich von den Bewohnern empfangen. Als wir während des Rundgangs zu der berüchtigten Treppe gelangten, entdeckte ich, daß diese nun überhaupt nicht mehr steil war, sondern normal schräg, genauso wie alle anderen normalen Treppen. Aber ja, was erwartest du? So wie die meisten älteren Häuser war dieses Haus natürlich umgebaut und aufgefrischt worden, dachte ich. Zu meiner großen Über-
raschung erzählte die freundliche Dame, die uns herumführte, daß dies nicht der Fall sei und daß niemals etwas an diesem Haus umgebaut worden wäre!
Ich war am Boden zerstört. Nicht so sehr weil die Treppe nicht steil war, sondern weil ich feststellte, daß mein Gedächtnis, dem ich immer völlig vertraut hatte, letztendlich unzuverlässig zu sein schien. Wie stand es jetzt mit all meinen anderen Erinnerungen? Vor allem war ich besorgt, daß meine Erinnerungen an meine Deutschland-Zeit falsch sein sollten, ohne dahinterkommen zu können, in wie weit dies der Fall war. Es war an diesem Tag im Haus in der Jan van Houtstraat, daß ich beschloß, nichts mehr automatisch als Wahrheit anzunehmen, dem ausschließlich das Gedächtnis zugrunde liegt.
Im Jahr 1948, also drei Jahre nach meiner Rückkehr aus Deutschland, habe ich meine Erfahrungen im Arbeitserziehungslager zu Papier gebracht, und weil dies so kurz nach den Erlebnissen geschah, weiß ich, daß dieser Bericht unzweifelhaft genau ist. Aber ich habe mich häufig gefragt, wie genau meine Erinnerungen vom Leben im Arbeitslager und der Fabrik eigentlich waren. Vor allem begann ich zu zweifeln, als ich Berichte von anderen las und darüber sprechen hörte, so wie von meinen ehemaligen Leidensgenossen, mit denen ich gearbeitet hatte.
Ich kam zu der Einsicht, daß Berichte über Erlebnisse häufig gegensätzlich waren. Manche sprachen von entsetzlichen Entbehrungen, während ich mich dieser Zeit nun wirklich nicht als "entsetzlich" erinnern konnte, mit Ausnahme der Zeit im Straflager. Auch Ex-Zwangsarbeiter, die sich in anderen Lagern aufgehalten hatten, beschrieben jämmerliche Verhältnisse. Ich sah ein, daß wir in der Tat 12 Stunden pro Tag arbeiteten; daß wir niemals einen Tag Urlaub hatten; daß wir nach der Arbeit in der Fabrik auch noch für unsere wirtschaftlichen Erfordernisse sorgen mußten; daß wir häufig in Schutzkeller mußten und dann oft nicht schlafen konnten; daß ich gegen Ende des Krieges mit Lumpen an meinen Füßen lief, aber "entsetzlich"? Wir waren letztendlich jung, und dann kann man doch schon einiges aushalten.
Jahrelang habe ich Alpträume über das Straflager gehabt. In meinen Träumen fand ich mich selbst dann im Lager wieder, aber jetzt älter, so daß ich nicht mehr in der Lage war, die Arbeit zu verrichten, mit allen Folgen daraus. Die Alpträume hielten an, bis ich in den Sechzigern war, und sie wurden natürlich schlimmer, je älter ich in meinem Traum wurde. Selbst jetzt bin ich noch immer nicht in der Lage, einen Film über die Nazizeit anzusehen, ohne aus der Fassung zu geraten. Aber abgesehen von meinen Erfahrungen im AEL, wie schlimm waren meine Verhältnisse? Wenn ich nicht gerade dem Vertrauen in mein Gedächtnis abgeschworen hätte, würde ich jetzt sagen, daß ich mich nicht erinnern kann, jemals vom Arbeitslager der Berlin-Lübecker Maschinenfabriken geträumt zu haben.
Einige Zeit, nachdem ich aus Deutschland zurückgekommen war, übergab mir meine Mutter ein Päckchen mit den Briefen, die ich aus Deutschland nach Hause geschrieben hatte. Ich hob sie zusammen mit all meinen anderen Papieren aus der Zeit auf und konnte mich niemals dazu durchringen, die Briefe noch einmal zu lesen. Die steile Treppe hat das völlig verändert.
Eines der Dinge, die ich in meinen Briefen entdeckte, war, daß wir selbst damals schon nicht alles im selben Licht sahen. In meinem Brief vom 3. Oktober 1943 reagierte ich auf etwas, das meine Mutter geschrieben hatte, nämlich daß die Briefe meines Zimmergenossen Nico H. "nicht so optimistisch" wären wie meine Briefe. Erst viel später, als ich ein Stück älter und ein wenig weiser geworden war, bin ich zu der Entdeckung gekommen, daß ich im allgemeinen einen ziemlich optimistischen Charakter habe. Ich betrachte unangenehme Dinge häufig durch eine rosafarbene Brille und konzentriere mich dann auf das Positive.
Dies war bei Nico scheinbar nicht der Fall, mit der Folge, daß man zwei verschiedene Berichte über dasselbe Geschehen zu lesen bekommt. Wenn das für Nico und mich zutrifft, sollte es dann nicht auch auf andere Zwangsarbeiter zutreffen, und - ich traue mich fast nicht, es zu suggerieren - sollte es möglich sein, daß wir eher etwas von Pessimisten als von Optimisten hören? Vielleicht sind Pessimisten eher geneigt, ihre Gedanken zu Papier zu bringen, wohingegen Optimisten sagen: "Für mich ist das nicht mehr nötig." Es kann natürlich auch einfach nur ein Unterschied in der Elendsgrenze bei unterschiedlichen Personen sein. Das soll heißen, vielleicht kann eine Person mehr Unannehmlichkeiten vertragen, bevor sie als "Elend" betrachtet werden, als eine andere.
Alles dies ist natürlich Spekulation, und es scheint also vernünftig, bei den Tatsachen zu bleiben. Wir dürfen dabei natürlich nicht vergessen, daß das Berichten und selbst die Wahl der Tatsachen durch den Charakter des Schreibers gefärbt wird, und mitunter auch durch die Wirkung, die er oder sie damit erreichen will. Außerdem muß ich darauf hinweisen, daß nach August 1944 sehr wenige von meinen Briefen bei mir zu Hause angekommen sind. Welches hierfür die Gründe waren, weiß ich nicht. Vielleicht durften wir nicht mehr schreiben, oder vielleicht sind sie einfach nicht angekommen. Es ist natürlich auch möglich, daß die Umstände während der letzten Monate derart waren, daß ich meine Eltern nicht unnötig beunruhigen wollte.
Vor ein paar Jahren ließ mich mein Bruder ein Buch sehen, worin der Autor eine Beschreibung gab über Bewohner eines Stadtteils in Den Haag, der heute nicht mehr existiert, und über ihr Leben in diesem Stadtteil während der letzten 300 Jahre vor dem Krieg. Es war der Stadtteil, wo meine Vorfahren mütterlicherseits gelebt hatten, und während des Lesens dieser Geschichte stieß ich auf verschiedene Namen, die auch in unserem Stammbaum vorkommen, an dem ein anderer Bruder so hart gearbeitet hatte. Das war natürlich sehr interessant, aber noch frappierender war das Gefühl, das mich überkam. Während ich dieses Buch las, hatte ich jedes Mal die Vorstellung, daß ich da herumlief und der Familie begegnete. In einem gewissen Sinn war das auch so.
Ein ähnliches Gefühl bekam ich, als ich nach 50 Jahren wieder meine eigenen Briefe las. Dieses Mal begegnete ich einem jungen Mann, den ich ohne das Lesen der Briefe sicher nicht so genau hätte beschreiben können, und der, wie es schien, eine "andere" Person war. Woraus sich ergibt, daß selbst wenn es geschehen sollte, daß man eine Person "klont", der "Geklonte" schon
[Abb. 2: Alex van Gurp im Jahr 1943]
ganz anders ausfallen kann als das Originalmodell.
Als zweites fiel mir beim Lesen der Briefe auf, daß der junge Mann selbst 1945 eine ganz andere Person war als noch zwei Jahre zuvor, als er noch ein aufsässiges, junges Blag war, der das schon wußte und sie es eben auch wissen ließ. Im Nachhinein überrascht es mich nicht, daß ich nach kurzer Zeit in ein Straflager (Arbeitserziehungslager) kam. Vielleicht sollte ich auch etwas Böses getan haben als schwierige Rotznase, als die ich wohl gewirkt haben muß.
In dem, was jetzt folgt, werde ich alle wörtlichen Zitate aus meinen Briefen zwischen Anführungszeichen setzen, nachdem ich mitunter die ursprüngliche Gegenwartsform in Vergangenheit verändert habe, um das Ganze lesbarer zu machen. Solche Veränderungen ergeben sich natürlich schon aus dem Zusammenhang.
Ja, arbeiten, darum ging es: Arbeitseinsatz, mit einem großen Anfangsbuchstaben! Über die Geschichte des Arbeitseinsatzes und die Rolle, die dabei niederländische Beamte, Arbeitgeber, die niederländische Eisenbahn und andere gespielt haben, ist genug geschrieben worden. Man braucht nur einmal die Bücher von Karel Volder6 zu lesen, dann kommt man schon dahinter, daß es nicht alleine Deutsche waren, die daran mitarbeiteten. Aber darüber steht natürlich nichts in meinen Briefen; ich war auf dem Gebiet zu naiv und fand alles über die Hintergründe des Arbeitseinsatzes erst nach dem Krieg heraus. Was sich allerdings in meinen Briefen zeigt, ist, daß arbeiten, die Fabrik und alles, was damit zusammenhing, eines der wichtigsten Themen war.
Während der Zeit, die ich in Lübeck war, arbeitete ich in einer Fabrik, den Berlin-Lübecker Maschinenfabriken. Vor meiner Deutschland-Zeit hatte ich aus Liebhaberei schon viel an Radios gebastelt, und die größte Maschine, die ich je benutzt hatte, war eine Bohrmaschine. Maschinen, mit denen ich in der Fabrik konfrontiert wurde, hatte ich noch niemals gesehen. Anfangs arbeitete ich an einer Drehbank, wo ich täglich 600 "Bolzen" abdrehen mußte; später an einer Fräse, an der ich u.a. ein Stück meines linken Mittelfingers abschnitt! Warum ich Letzteres nie nach Hause geschrieben habe, weiß ich nicht, aber wenn ich meine Hand anschaue, sehe ich, daß es wahr ist! Wofür die Bolzen gebraucht wurden, wußte ich zunächst nicht, vor allem weil ich nur Teil eines größeren Arbeitsablaufes war. Erst später kam ich dahinter, was
[Abb. 3: Die Berlin-Lübecker Maschinenfabriken kurz nach Kriegsende]
in der Fabrik gebaut wurde: Maschinengewehre, Gewehre und Revolver.
In meinen Briefen war ich mehr an den Stunden interessiert, die wir machten, als an der eigentlichen Arbeit, die natürlich reichlich öde war: 600 Bolzen pro Tag! Selbst am Anfang waren die Tage schon sehr lang. Im Juli 1943 schrieb ich: "Aufstehen um 4 Uhr; zur Straßenbahn 4.45 Uhr; Arbeitsbeginn 6 Uhr; Pause 8 - 8.15 Uhr und 12 - 12.30 Uhr; fertig 5 Uhr; im Lager 6 Uhr." Elf Stunden pro Tag also, abzüglich Pausenzeit. Innerhalb von ein paar Wochen begann es schon: wir mußten auch samstags von 6 Uhr morgens bis halb 2 mittags arbeiten. Die Arbeitswoche war also etwa 58 Stunden lang. Eigentlich nicht so entsetzlich lang, verglichen mit der 48stündigen Arbeitswoche, die zu der Zeit in den Niederlanden die Regel war. Einige Abteilungen mußten auch sonntags arbeiten, wenn sie im Rückstand waren. Wie ich bereits bemerkte, wenn man jung ist, kann man schon einiges aushalten.
Die Nachtschicht war genauso lang: von 5 Uhr nachmittags bis 4 Uhr nachts, auch mit drei Viertelstunden Pause. Wenn man Nachtschicht hatte, oft ein paar Wochen hintereinander, mußte man außerdem noch am Samstagnachmittag von halb zwei mittags bis Viertel nach 9 abends arbeiten. Das war alles am Anfang, später wurde die Arbeitszeit länger, aber die Fahrzeit kürzer. Nach dem ersten Umzug im September 1943 liefen wir weniger als zehn Minuten, um zur Fabrik zu gelangen. Nach einem Jahr arbeiteten wir jedoch ungefähr 84 Stunden pro Woche: 12 Stunden pro Tag, sieben Tage in der Woche. "An Sonntagen auch", schrieb ich, "so daß außer arbeiten, essen und schlafen nicht viel auf dem Programm steht . . . . . . . das Elende ist, daß man solche dicken Beine bekommt, wenn man so lange hintereinander stehen muß."
Etwa einen Monat später: "Im Moment arbeiten wir 12 1/4 Stunden pro
[Abb. 4: Die Industrieruine der Berlin-Lübecker Maschinenfabriken 1997]
Tag." Das änderte sich völlig gegen Ende des Krieges. Ab Januar 1944 bekamen wir mitunter an Sonntagen wieder frei. Es kommt schon heraus, daß ich die Arbeit nicht so schlimm fand: "Die Arbeitszeit ist schon lang, aber es geht schon. Die Zeit läuft, und die Arbeit gefällt mir besser als Büroarbeit. . . . . ich stehe an einer Fräse . . . . . ich lerne hier eine Menge Maschinen kennen, und es ist wirklich interessant zu sehen, wie sie funktionieren."
Jetzt, wo ich meine Briefe noch einmal durchlese, fällt mir auf, daß ich niemals etwas über das Leben in der Fabrik schrieb. Da steht nichts über andere Arbeiter, obwohl da natürlich hunderte von Ausländern arbeiteten. Nichts über unser Verhältnis zu deutschen Arbeitern und Vorarbeitern. Aber umso mehr über unzufriedene Betriebsleiter, die uns regelmäßig Ansprachen hielten und warnten, wenn nicht hart genug gearbeitet wurde, oder wenn wir schwänzten, oder, wie wir es damals ausdrückten, krank feierten. Nach nur einer Woche in Lübeck waren auf einen Schlag acht Mann krank. Es half nicht, daß ich zu einem bestimmten Zeitpunkt " faules Menschenkind" genannt wurde, selbst nicht die Tatsache, daß ich demzufolge nur 17 Mark die Woche verdiente, nicht genug, um mein Essen zu bezahlen. "Die Holländer haben von der Direktion eine Standpauke bekommen. Sie arbeiten zu wenig, zu schlecht und sabotieren zu viel."
Aber es nutzte nichts, auch die Einführung von Bußen brachte keine Änderung. Einen Monat später waren von 170 Holländern 30 Mann "krank". Der Wachmann im Lager, "ein alter Nichtskönner", wollte zu einem bestimmten Zeitpunkt auch seinen Senf dazugeben, als er sagte: "Gerade diese Stube, Herrschaften, betreibt Sabotage." Er war nicht nur ein Nichtskönner, er war auch reichlich dämlich. In meinem Brief steht, daß er auf unsere Frage "warum?" dummdreist antwortete: "Ja."
"Hier wird entsetzlich viel Bier getrunken", schrieb ich in einem anderen
[Abb. 5: Die Berlin-Lübecker Maschinenfabriken 1997]
Brief. "Am Tage kommt ein Fräulein mit Bier herum. Man arbeitet mit einer Flasche Bier auf der Maschine." In der Fabrik war es hingegen nicht erlaubt zu rauchen, so daß wir auf dem WC rauchten. Nicht, daß wir viel zu rauchen hatten. Von Anfang an bestand unsere Ration aus nicht mehr als zwei Zigaretten pro Tag, und selbst die bekamen wir nicht immer.
Wo wir gerade von WC sprechen, ich muß hier noch eine Anekdote erzählen. Im Norden Deutschlands hat man einen eigenartigen Gruß, genauso ungewöhnlich wie "Grüß Gott" im Süden. In Norddeutschland sagt man - in jedem Fall sagte man es damals, ob es paßte oder nicht - "Mahlzeit", was eigentlich "Guten Appetit" bedeutet. Wenn sie morgens zur Fabrik kamen, sagten die Deutschen zueinander "Mahlzeit", genauso, wie man auf englisch (und wie ich vernahm auch in den Niederlanden) "Hi" sagt; wenn sie sich auf der Straße trafen, genauso. An einem gewissen Tag saß ich auf dem WC (aus wirklichem Bedürfnis, nicht um zu rauchen!). Nun hatten die Verschläge keine ganzen Türen, sondern nur halbe Dinger, die man nicht abschließen konnte. Nun wollte ein Deutscher in meinen Verschlag und wußte nicht, daß der besetzt war. Und, was sagt er zu mir? - Schon geraten: "Mahlzeit."
Außer in der Fabrik mußten wir auch im Lager Arbeiten verrichten, nämlich Ausgrabungsarbeiten zum Bau von Luftschutzkellern, selbstverständlich ohne Vergütung. Das war letztendlich zu unserer eigenen Sicherheit! Das paßte uns natürlich nicht. Leider hatten wir noch nicht gelernt, daß, so wie man früher zu sagen pflegte, wir mit unserem Willen hinter dem Berg hielten. "Man will uns dazu verpflichten, an Sonntagen das noch nicht fertiggestellte Lager herzurichten. Unsere Kammer ist davon schon zwei Mal betroffen gewesen. Das hat zur Folge, daß wir nächsten Sonntag den ganzen Tag (ansonsten 3 Stunden) arbeiten müssen, aber da wird sich schon was finden lassen." Im Nachhinein betrachtet war das mein erster kleiner
Schritt auf dem Weg ins Arbeitserziehungslager. Ich war nämlich "die Person, die im Namen der Holländer unseres Lagers Fürsprache hielt bei der Fabrikleitung, usw."
Obwohl wir für die Arbeit am Lager keinen Lohn erhalten sollten, wurde unsere Arbeit in der Fabrik natürlich schon bezahlt. Am Anfang sah das vielversprechend aus. Ich hatte das genau ausgerechnet. Stell dir vor: 600 Bolzen; RM 1,50 per 100 Stück. Das wären neun Mark pro Tag; 54 Mark pro Woche. Leider: "In Wirklichkeit erhalten die meisten 40 RM." (10. Juli 1943); "Heute Nacht erhielt ich RM 30." (17. Juli 1943); "Freitag habe ich gerade RM 17 als Lohn erhalten als Folge meiner geringen Arbeitsleistung. Wenn ich im grünen Bereich bin, werde ich schon etwas härter arbeiten." (15. August 1943); "Ich stehe gegenwärtig in der Fabrik auf Stundenlohn mit der Folge, daß ich pro Woche RM 31 erhalte, zumindest wenn ich die ganze Woche arbeite." (7. Oktober 1943).
Und dann gab es natürlich noch die Bußen. "Von der Woche wurde von meinem Lohn ein Gesamtbetrag für Buße von RM 11 einbehalten. Was ich alles betrieben habe, weiß ich nicht. 5 Mark mußte ich wegen eigenmächtigem Fortbleiben von der Arbeit bezahlen."
Als ich im Januar '44 im Strafgefängnis Kiel eingeschrieben wurde, bestand mein gesamtes Hab und Gut aus RM 39,60, und als ich sechzehn Monate später wieder in die Niederlande zurückkam, hatte ich fast kein Geld mehr in der Tasche.
Ja, glaube es oder nicht, im Verlauf der Zeit begannen wir, das Lager in der Tat als "zu Hause" anzusehen. Es gab dann auch so viele Dinge, die mit dem Begriff "zu Hause" zusammenhängen: kochen, essen, putzen, Kleider waschen, Socken stopfen, aber auch angenehme Dinge wie lesen, diskutieren und singen. Die letzten beiden Dinge gehören natürlich zu einem holländischen "zu Hause".
Während meines Aufenthaltes in Lübeck sind wir zwei Mal umgezogen. Als wir ankamen, wurden wir in einem Lager untergebracht, daß von der Deutschen Arbeitsfront war. Es dauerte eine Stunde zur Fabrik, und wir mußten mit der Straßenbahn hin und zurück, was sehr frühes Aufstehen und sehr spätes Zurückkommen bedeutete. Oft fielen wir unterwegs in Schlaf, meistens auf dem Weg zur Fabrik. Es waren 300 Mann in diesem Lager: Niederländer, Belgier, Franzosen und Italiener. Zwölf Mann pro Stube, die in hölzernen Stapelbetten schliefen, auf Strohsäcken. Auch die WCs waren gesellige Gemeinschaftstoiletten, auch für zwölf Mann zugleich, alle in einer Reihe, ohne Zwischenwände.
Nach drei Monaten zogen wir in ein nagelneues Lager dicht bei der Fabrik um. Das Lager gehörte dann auch zur Fabrik. Es bestand aus zwei Teilen: ein Teil für Westarbeiter, wir also, und einer für Polen und Ostarbeiter (Russen). Da waren 800 Russen und Polen und 400 Holländer, Belgier und Franzosen, ein kleines Dorf. Ich fand den Umzug überhaupt nicht schön. "Wir haben uns gerade hier eingewöhnt und es uns gemütlich gemacht, und jetzt müssen
[Abb. 7: Lagerkarte von Alex van Gurp]
wir weg." Aber der Umzug fand statt. Im neuen Lager saßen wir mit 18 Mann in einer Stube. Es waren ziemlich primitive Holzbaracken.
Was ich am schlimmsten fand, war, daß wir "sehr unter der Fuchtel der Fabrikspolizei saßen . . . . . selbst unser Bett müssen wir wie beim Militär machen. Nachlässigkeit wird mit Buße bestraft." Aber ja, auch hier gewöhnten wir uns schnell ein. "Am Anfang war man gegen das neue Lager, aber wir sind jetzt schon daran gewöhnt . . . . . nur gibt es viel Disziplin", schrieb ich zwei Monate nach dem Umzug. "Ich schlafe auf einer Matratze mit Papierfüllung anstelle von Federn oder Stroh. Dann bekommt man keine Läuse. Man schläft prima." Meine Briefe geben nicht an, ob man nach einem Monat oder so immer noch "prima" schlief!
Wenn die Arbeit eines der Hauptthemen in meinen Briefen war, so war die Beschreibung des Lagerlebens sicher ebenso wichtig. Bevor ich mit diesem Bericht begonnen habe, habe ich jeden Gedanken, der in meinen Briefen vorkam, katalogisiert. Die Begriffe "Arbeit" und "Lagerleben" nahmen jeder drei volle enggetippte Seiten in Beschlag! Zwei Dinge sind sehr deutlich: wir verbrachten eine Menge Zeit mit Briefeschreiben und mit schlafen. "Abends gehen die meisten früh ins Bett, weil sie morgens wieder früh hoch müssen. Abends gehen wir nie aus", schrieb ich einige Male. In einem meiner ersten Briefe schrieb ich: "Abends kommen wir gegen 6 Uhr nach Hause. Dann gehen wir essen, uns waschen und schreiben, Kaffee oder Bier trinken, Pfeife rauchen, etwas reden und ins Bett." Offenbar hatten wir so einen Hunger, daß das Waschen bis nach dem Essen warten mußte!
Das Reden war nicht einfach nur Geschwätz. "Es ist halb 9, und die Jungs gehen so allmählich ins Bett. Dann liegen wir noch etwas und reden. Mitunter um der Reihe nach Fragen zu stellen und zu besprechen", und in einem anderen Brief: "Wenn wir abends mit unseren Hausfrauenarbeiten fertig sind, gehen wir zu Bett und diskutieren über allerlei schwere Themen."
Das Diskutieren wurde schon sehr bald nach unserer Ankunft mehr oder weniger formell. Nach ein paar Monaten gingen wir dazu über, "eine evangelische Jünglingsvereinigung zu gründen." Es gab so etwas auch für die Römisch-Katholischen. "Es wird ein Thema eingeleitet und besprochen. Brüderlich sind da Kalvinisten, Reformierte,
Heilsarmee und ebenso Menschen, die überhaupt nicht in die Kirche gehen, zusammen. Das Interesse ist groß. Von etwa 250 Jungs (katholisch und evangelisch) sind 40 bei der evangelischen Jünglingsvereinigung. Der Vorsitzende ist sehr beredt und wirklich gut geeignet für dieses Amt."
Diese Person wurde Verbindungsmann für das Lager und später mein Ankläger bei der Gestapo, was meine Gefangenschaft im Arbeitserziehungslager zur Folge hatte! Es zeigte sich, daß er Mitglied der N.S.B. war. Diese Versammlungen begannen im Oktober 1943 und wurden jede Woche Mittwoch gehalten. Die letzte Meldung unserer "J.V." ist auf den 7. Januar 1945 datiert. Wir haben es also eine ganze Zeit lang durchgehalten. Danach gab es fast keine Briefe mehr.
Aus meinen Briefen zeigt sich schon, daß dies während unserer zwei Jahre in Lübeck ein gewichtiger Teil unseres Lebens war. "Wir lesen Stücke aus der Bibel und anderer Lektüre und singen viel. Das sind schöne Abende." Nur von den Deutschen bekamen wir keine Unterstützung. "Der Oberlagerführer sieht uns lieber bei den Huren als auf einer geistlichen Versammlung, sagt er." Auf den Versammlungen lasen wir auch aus Blättern, die uns zugeschickt wurden, so wie "Die Niederlande in der Fremde" und Briefe des niederländischen Jünglingsverbandes. Sogar ein Predigtenbuch, das uns von meinen Eltern zugeschickt wurde, ist lebhaft benutzt worden. Gegenseitige Besuche von Mitgliedern der protestantischen und römisch-katholischen Gruppen kamen auch vor. Hätten die Theologen es mal den Jungs überlassen, dann wären wir schon vor Jahren "sammen op weg" [7] gewesen.
Das Stattfinden dieser Versammlungen war eigentlich eine Folge unserer Unzufriedenheit mit den örtlichen Kirchendiensten. "Es ist traurig bestellt um die (reformierte) Kirche. Ungeachtet der Tatsache, daß da verschiedene Kirchen in Pracht dastehen, stand der Pastor vor einer fast leeren Kirche. In der Kirche, wo ca. 700 Menschen hineinpassen, waren anwesend: 32 Frauen, 11 Männer, 3 kleine Kinder, 8 Holländer." Außerdem war die reformierte Kirche oft geschlossen, "wegen Urlaub". In der lutherischen Kirche waren die Verhältnisse anders. "Am Sonntag bin ich in der lutherischen Kirche gewesen. Da waren wirklich viele Menschen (ca. 150)." Nach dem November 1943 findet sich in meinen Briefen keine Meldung mehr über Kirchenbesuch.
Mangel an Tabak war unser Los von dem Tag an, als wir in Deutschland ankamen bis zur Befreiung; niemals mehr als zwei Zigaretten am Tag. Auch andere Artikel waren knapp; einfache Sachen, wie Süßigkeiten, Zahnbürsten, Kämme, Toilettenpapier, Waschlappen, auch Schuhe und Kleidung. Aber richtig Hunger haben wir nie gelitten, auf jeden Fall nicht während der Zeit meiner Briefe, also bis Ende Januar 1945. Unser Essen bezogen wir aus zwei Quellen. Anfangs erhielten wir "Mittagessen" in der Fabrik und Abendessen im Lager. Das war den Fabrikleitern wahrscheinlich ein wenig zu teuer, denn als wir erst einmal im neuen Lager dicht bei der Fabrik saßen, mußten wir selbst
für unsere Kost sorgen und erhielten dafür Marken. Hierzu ein Auszug aus meinen Briefen über das Essen in der Fabrik, kurz nachdem wir in Lübeck ankamen: "Die Holländer sind bekannt dafür, viel zu essen. So wurde sich z.B. darüber beschwert, daß wir zu viel Soße nehmen und sie wie Suppe essen." . . . "Als wir diese Woche Suppe mit Reis und Johannisbeersaft aßen, durften wir so viel essen, wie wir wollten. Ich aß 5 Teller Suppe." . . . "Wenn die anderen schon längst fertig waren, saßen die Holländer immer noch und aßen."
Gegen Ende des Sommers 1943 erhielten wir Marken und mußten uns dann selber um unser Essen kümmern. Eine typische Wochenration (Juni 1944) bestand aus: 2700 g Brot, 1 l Magermilch, 175 g Marmelade, 225 g Zucker, 350 g Fleisch, 150 g Graupen oder Haferflocken, 2,5 kg Kartoffeln (nach einem meiner Briefe aßen wir die innerhalb von zwei Mahlzeiten auf), 125 g Butter, 2 oder 3 Eier, 50 g Fett, 62,5 g Käse oder Quark. Einige Male schrieb ich, daß an Gemüse kein Mangel herrschte. Zigaretten: 2 pro Tag. Wenn man in der Fabrik besonders schwere Arbeit hatte, erhielt man einen Zuschlag von 700 g Brot, 150 g Fleisch und 62,5 g Speck oder Fett. Ein einziges Mal bekamen wir 100 g Bonbons.
Nun ja, offenbar war eine Kinderhand schnell gefüllt, wie sich an dieser Dankbezeugung zeigt: "Wir tranken diese Woche mit 10 Mann 2 Liter Wein." Ein Glas pro Person also! Das kam von einem Freund, der irgendwo anders in Deutschland in einer Weinfabrik arbeitete. Ihm ging es offensichtlich besser als uns, denn er schickte häufiger etwas, z.B. Brot. So etwas würde ich heutzutage wahrscheinlich nicht mehr mit zehn Mann teilen. Meine Briefe lassen nicht erkennen, wie die Lage in den letzten Kriegsmonaten war. Allerdings bemerke ich, daß Brennstoff immer knapp war, "so daß wir einen richtigen Winterschlaf hielten; aber glücklicherweise haben wir eine dritte Decke dazu bekommen."
Es gab natürlich schon mal etwas extra. "Als ich heute morgen 500 g Brot kaufte, war da eine deutsche Frau im Geschäft, die mir 1500 g Brot zustopfte als Folge der Tatsache, daß, ihr zufolge, ein halbes Brot nicht der Mühe wert sei." Daraus zeigt sich, daß nicht alle Deutschen schlecht waren.
Mitunter hatten wir in der Fabrik Brandwache. Man mußte dann von abends um 9 bis morgens um 6 in der Fabrik sein. Wir konnten normalerweise schlafen. Falls Luftalarm war, wurden wir geweckt und mußten dann an bestimmten Plätzen Wache halten (sicher um Bomben aufzufangen?). Letztendlich war das Schöne daran, daß man außer RM 3,50 auch zwei Butterbrote pro Wache erhielt. Später bekamen wir Brei anstelle von "zwei dünnen Butterbroten". Wenn man an Festtagen wie Weihnachten oder Silvester Brandwache hatte, bekam man "herrlich und gut zu essen".
Es ist nicht meine Absicht, eine Abhandlung über meine Erfahrungen im Straflager hinzuzufügen. Solch eine Abhandlung habe ich schon einmal als separates Dokument erstellt, und wenn jemand daran interessiert ist, kann man davon eine Kopie erhalten.8 Aber weil wir gerade über Essen und "nicht schlechte Deutsche" sprechen, möchte ich doch ein Kapitel aus diesem Dokument heranziehen. Es ist genauso vertrauenswürdig wie meine Briefe und so-
mit nicht abhängig von Gedächtnisschwäche, weil ich es kurz nach dem Krieg geschrieben habe, als meine Erlebnisse noch frisch im Kopf saßen.
"Doch es muß auch bessere Augenblicke im Elend dieser Tage gegeben haben. Versuche ich mich zu erinnern, so kann ich nur eins erzählen, kann sein, weil es so einen bleibenden Eindruck auf mich machte. Für jemand anderen mag der Vorfall heute unbedeutend erscheinen, aber unter den Bedingungen der damaligen Zeit berührte er mich tief. Das tut er noch immer, wenn ich daran denke.
Wie üblich arbeiteten wir in der Stadt Kiel an einem Ort, der vor kurzem von den Alliierten bombardiert worden war. Als Gruppe von etwa dreißig Männern waren wir über den Bereich eines halben Straßenblocks verteilt und sortierten Ziegelsteine und Schutt, während bewaffnete Posten auf uns aufpaßten. In solch einer Situation geschah es, daß eine Frau, vermutlich eine deutsche, die Straße an unserer Arbeitsstätte entlangging. Ohne anzuhalten legte sie still ein kleines Päckchen oben auf einige Ziegelsteine. Ich arbeitete in dem Augenblick in der Nähe und bemerkte das Geschehen. Sobald die Luft rein war und die am nächsten stehende Wache nicht hinsah, rückte ich hinüber und schnappte mir das Päckchen. Kein Glück der Welt konnte größer sein, als ich feststellte, daß das Päckchen ein Butterbrot enthielt. Nicht nur etwas Eßbares, sondern ein richtiges Butterbrot!
Ich brauchte nicht lange, um zu der Erkenntnis zu kommen, daß das, was geschehen war, mehr bedeutete, als einen großen Fund gemacht zu haben. Was wichtig war, war nicht länger der Luxus eines richtigen Butterbrotes. Was sich in den Vordergrund schob, war der menschliche Akt von Mitleid eines gewöhnlichen Bürgers, der berührt war von der Notlage derer, die eindeutig die Feinde der Sache der Nation waren. Ein Akt von Mitleid und gleichzeitig eine Herausforderung, denn die Frau wäre mit Sicherheit schwer bestraft worden, wenn man sie herausgefunden hätte. Dieser Vorfall, anderen mag er unbedeutend erscheinen, ist für mich ein Symbol dafür geblieben, was gut und edel ist, gerade dort, wo man es nicht erwartet."
Nun möchte ich auch nicht den Eindruck hinterlassen, daß unser Leben nur aus Essen, Biertrinken und Diskutieren bestand. Wir haben eine Weile alles darangesetzt, um an eine niederländische Zeitung heranzukommen, und nach einiger Zeit ist uns das dann auch geglückt. Nach ein paar Monaten hatten wir für alle Holländer im Lager acht Abonnements von "het Volk"9 zu 40 Cent die Woche, so daß wir einigermaßen über die Ereignisse in den Niederlanden auf der Höhe blieben. Radios hatten wir nicht; die durften wir natürlich nicht haben. Unsere Lektüre war also nicht auf die Bibel und das Predigtenbuch beschränkt. Wir besaßen übrigens auch Bücher, die uns von zu Hause zugeschickt wurden.
Ich kann mich absolut nicht mehr daran erinnern, aber meinen Briefen zufolge ging ich sonntags, wenn wir nicht arbeiteten, mit einem Freund zusammen wandern, um dann unterwegs Himbeeren, Erdbeeren und Brombeeren zu pflücken. Das war, bevor wir in das Fabriklager umzogen. Wir saßen da nämlich ziemlich außerhalb der Stadt. Gänse, Hühner, Schweine und eine Katze liefen da herum, schrieb ich im August 1943. Auch daran kann ich mich gar
nicht mehr erinnern. In späteren Briefen lese ich, daß wir uns nach einiger Zeit um die Katze gekümmert haben. In meiner "freien" Zeit studierte ich auch Russisch mit Hilfe von ein paar illustrierten Büchern, die ich noch besitze, "1000 Worte Russisch". Hilfe erhielt ich von meinem russischen Freund, Petrenko Nicolai, einem kriegsgefangenen Piloten. Seine Frau war als Zwangsarbeiterin in Lübeck.
Wir verbrachten viel Zeit damit, zu kochen und Geschirr zu spülen. Obwohl ich nichts davon in meinen Briefen schreibe, mußten wir natürlich auch regelmäßig einkaufen. Ich kann das heute gar nicht mehr verstehen, aber damals scheine ich viel von Brei gehalten zu haben. "Ich habe gerade Brei gekocht; meine Pfanne randvoll. Er ist sehr dick geworden, aber echt lecker." Ich darf gar nicht daran denken! Wir hatten einen großen Ofen in der Stube, auf dem wir der Reihe nach kochten. Als Brennstoff benutzten wir Bäumchen aus der Lagerhecke. Das war am Anfang, bevor die Aufsicht strenger wurde. Später wurden wir verständiger und kochten gemeinschaftlich. "Mitunter kochen wir ca. 10 kg Kartoffeln auf einmal." Wenn ich das Thema "Nahrung" noch einmal in meinen Briefen nachlese, scheint es, als ob wir ausschließlich Brei, Bohnen, Erbsen, Kartoffeln und Pfannkuchen aßen. Von Fleisch war keine Rede.
Ich saß neulich und dachte an ein kürzliches Treffen mit einem ehemaligen Leidensgefährten, der mit mir in Lübeck auf derselben Stube gelegen hatte und den ich nach etwa 45 Jahren wiedergesehen habe. Das Wiedersehen fand vor dem Hauptbahnhof in Delft statt. Als ich aus dem Bahnhofsgebäude herauskam, stand Walter da mit seinem Fahrrad und wartete auf mich. Für mich war es ein bewegender Augenblick. Aber als sturer holländischer Junge darf man sich das natürlich nicht anmerken lassen. Man gibt sich dann ordentlich die Hand und sagt: "Tag Walter, wie geht's?" Ein Kloß im Hals, zitternde Stimme und feuchte Augen, nein . . . das darf nicht sein. Was würden sie von einem denken!
Aber nachdem ich über 45 Jahre im Ausland gewohnt habe, in einem Gebiet, wo es völlig normal ist, wenn man seine Gefühle zum Ausdruck bringt, auch die Männer, bin ich nicht mehr so emotionslos. Anzeichen von Gefühl waren also schon da, obwohl es mir, glaube ich, schon gelungen ist, sie zu verbergen. Ich werde ihn einmal danach fragen. Während ich so über diese Erfahrung von vor ein paar Jahren nachdachte, mußte ich auch an all die Berichte denken, die ich im Lauf der Zeit über feste Bande gelesen habe, entstanden in einer Zeit großen Elends, die letztendlich die Prüfung der Zeit überstanden haben. Ich selbst habe anderen auch oft erzählt, daß solche engen Freundschaftsverbindungen nur zwischen ehemaligen Leidensgefährten bestehen, wie Zwangsarbeitern oder Frontkämpfern, obwohl ich seit 1945 nur selten und mit wenigen Kontakt hatte.
Nun denn, während ich so saß und über dieses Treffen am Bahnhof in Delft und alles, was ich damit in Verbindung brachte, sinnierte, erwischte
ich mich dabei, wie ich wieder von meinem Plan abgewichen war, eine ganz objektive Abhandlung zu schreiben, ausschließlich auf meinen Briefen basierend. Als ich diese noch einmal durchlas, kam ich zu der enttäuschenden Feststellung, daß sie absolut keinen Beweis für eine Art durchlaufender Freundschaft, bei der es keinen Mißklang gab, beinhalten, was natürlich nicht das Entgegengesetzte suggeriert. Den Titel dieses Kapitels habe ich aber so gelassen. Es ist so ein schöner Titel, finde ich, eine Mitternachtseingebung, die auf alle Fälle widerspiegelt, was in mir umging.
Ich darf natürlich nicht vergessen, daß meine Briefe hauptsächlich momentane Berichte beinhalten, wohingegen sich Freundschaftsbande gewöhnlich über einen längeren Zeitraum hin entwickeln. Es ist darum eigentlich nicht so merkwürdig, daß in den Briefen kein Anzeichen von echter, gegenseitiger Freundschaftsbeziehung vorkommt. Aber in den Briefen ist nicht nur keine Rede von intimer und intensiver Freundschaft, sondern insgesamt auch kein Wort von Konflikten untereinander. Das läßt mich an das denken, was mitunter als Antwort gegeben wird auf die Frage: "Liebst Du mich?" Antwort: "Ja, natürlich, ich bin doch mit dir verheiratet" oder, im Vergleich dazu: natürlich waren wir Freunde durch dick und dünn, wir hatten doch keinen Streit.
Mein Brief vom 21. September 1943 endet mit den Worten: "Nicht die Propaganda, sondern die Landkarte spricht die deutlichste Sprache. Deshalb: Kopf hoch. Courage!" Ich sollte jetzt diesen Bericht in demselben Geist beenden können, mit: nicht unsere Erinnerungen, sondern die Fakten sprechen die Wahrheit. Wenn es dabei bleiben sollte, würde ich mich selbst eines Schatzes von großem Wert berauben, meines geistigen Kontos, meiner Erinnerungen. Ich schließe deshalb im positiven Sinn, nämlich: nicht die Fakten, sondern der Genuß an guten, selbst vermeintlichen Erinnerungen bereichert das Leben. [8]
1. siehe Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte, Heft 25 und 28.
2. siehe Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte, Heft 28.
3. Brief von K. Schilt an den Autor vom 26. Juni 1996.
4. N.S.B. war die Nationaal Socialistische Beweging, die Nazi-Partei der Niederlande.
5. vgl. Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte, Heft 25.
6. Karel Volder: Werken in Duitsland 1940-1945, Amsterdam 1990; ders., Van Riga tot Rheinfelden,
Amsterdam 1996.
7. In den Niederlanden versuchte eine Anzahl protestantischer Kirchen enger zusammenzuarbeiten. Dazu wurde das Projekt "samen op weg" (zusammen auf dem Weg) gebildet.
8. Alex van Gurp: A Letter to Susan, Halifax 1985. Eine deutsche Übersetzung ist bei Alex van Gurp oder Peter Meyer-Strüvy erhältlich.
9. "het Volk" ("Das Volk") ist eine niederländische Tageszeitung.
10. Alexander van Gurp: De Trap die steeds steiler werd, Halifax 1997.
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 32 (Dezember 1997) S. 55-70.
Abbildungsnachweis:
Abb. 1, 2: Privatbesitz A. van Gurp; Abb. 3: Stadtarchiv Lübeck; Abb. 4, 5: Foto Christian Rathmer, Lübeck
Alexander van Gurp, geboren 1924 in den Haag, arbeitete von 1943 - 1945 als Zwangsarbeiter bei den BLM in Lübeck. 1953 wanderte er mit seiner Familie nach Kanada aus und war bis 1989 Direktor eines Community Colleges in Halifax.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 32