//80//

Frank Omland:

Ganz normale Männer:

Ein Theaterprojekt des Thalia-Treffpunkt in Hamburg, Herbst 1997

Polizeieinheiten aus Hamburger waren beim Einmarsch nach Österreich 1938, bei der Besetzung der Tscheslowakei 1939 und dem Überfall auf Polen beteiligt. Die Hamburger Polizeibataillone 101, 102 und 103 wurden dabei im Rahmen von 'Umsiedlungen', d.h. Vertreibungen der jüdischen und polnischen Bevölkerung, Geiselerschießungen, Hinrichtungen und dem Massenmord an der jüdischen Bevölkerung eingesetzt.

Hamburger Polizisten haben zwischen 1939 und 1944 mindestens 30.000 Jüdinnen und Juden ermordet.

Auf Grundlage des Buches von Christopher Browning haben Herbert Enge, Michael Grill und Erika Hirsch szenisches Aufführungsprojekt erarbeitet, das im Herbst 1997 vom Thalia Treffpunkt in Kooperation mit der Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule / Hamburger Volkshochschule im Stadtgebiet inszeniert wurde. -

Dämmerung. Vor den Deichtorhallen stehen Wartende. Die einen warten auf den Beginn des Stückes, die anderen werden die Akteure sein. Ein älterer Schauspieler liest Passagen aus Christopher Brownings Buch Ganz normale Männer... und wird rüde von einer grellen Frau, aus deren Ghettoblaster laute Musik tönt ("Under the watchtower"), unterbrochen. Das Publikum ist kurz genervt, manche Zuschauer sind irritiert, doch es versteht dann das gebellte Kommando richtig: "Alle mitkommen!" Das Stück hat begonnen, und es geht im wahrsten Sinne des Wortes los.

Was los geht, ist ein Theaterstück, das nicht auf einer Bühne gespielt wird, sondern sich spielend den Orten nähert, an denen in Hamburg Geschichte passiert ist und an denen sich Geschichten erzählen lassen: Zum Beispiel auf der (damals drehbaren) Oberbaumbrücke, von der aus heute nicht mehr viel daran erinnert, wie lebhaft es zu den Zeiten zuging, als hier noch der Hafen Hamburgs war und Tausende Arbeiter hier ihren Lohn verdienten. Die Brücke selbst als der zentrale Verkehrsort: oben die Eisenbahnen, darunter Autos, Radfahrer und Fußgänger und darunter auf dem Fleet und der Elbe Schlepper, Lastkähne und kleinere Boote.

Weiter geht es zur Oberhafenkantine, wo die Besitzerin über die Ereignisse


//81//

[Abb.: Ganz normale Männer. Szenenfoto von Irina Höft]

im Herbst 1941 zu erzählen beginnt: Von einem Abend, an dem Polizeitransporter 'gen Hannöverscher Bahnhof fuhren und ihr Liebster Paul mit entschwand. Wohin, wußte sie nicht genau, doch zumindest sie hatte etwas gesehen! Weiter geht es vorbei an der heutigen Szenerie mit dem Trucker-Imbiß und dem bundesbahneigenen Güterbahnhof, damals Reichsbahngelände, zu abgestellten Güterwaggons mit Hilfslieferungen für die baltischen Länder, wo wir wieder auf Paul treffen, doch der flüchtet, als ihn die Wirtin der Kantine erkennt und nach ihm ruft.

Geführt von einer Tramperin, die sich guter Kontakte zu den LKW-Fahrern rühmt, kommen wir an alten und neuen Lagerhäusern vorbei und nähern uns alten, noch heute genutzten Lagerschuppen mit Bahnanschluß. Abendnebel kommt auf, und durch das dämmerige Licht und die gespenstische Atmosphäre dringt eine Lautsprecherdurchsage, die von den Vorgängen bei der Deportation jüdischer Menschen dröhnt und dann von einer anderen Lautsprecherstimme übertönt wird, die vom Polizeibataillon 101 aus Hamburg erzählt.

Schließlich treffen wir auf einen der Lagerarbeiter, der uns durch sein Reich führt: Lagerschuppen, in denen kurzfristig Waren aus aller Welt auf ihren Abtransport zu den Neubesitzern warten, und die von Stückgut, Holzpaletten, Teppichbergen, alten und neuen Möbelstücken, Fahrrädern und Hilfsgütern nur so bersten und wenig Platz für die Protagonisten auf diesem Spielort lassen. Erst jetzt betreten wir etwas, was einer Bühne ähnlicher sieht, einen


//82//

Spielort, wo sich die Beteiligten aus dem Polizeibataillon 101 mit ihren alltäglichen Sorgen und Nöten, fern der Heimat im besetzten Polen, als ganz normale Männer präsentieren:

Heinrich Sandler freut sich über das gute und billige Essen und bedauert, manche verderbliche Lebensmittel nicht nach Hause schicken zu können. Erwin Grafmann ist über die Schnäppchen wie etwa einen Filmprojektor begeistert, die er billig erstehen kann. Hauptmann Wolfgang Hoffmann macht es sich gemütlich und stickt an einer Arbeit für die heimatliche Wohnung und achtet auch sonst sehr auf seine äußere Erscheinung.

Die Schauspieler wechseln dabei immer wieder ihre Positionen, spielen um die herum, die Theater konsumieren wollen und darüber leicht irritiert sind, mitten im Geschehen zu sein. Dieses Geschehen ist ihnen manchmal zu dicht an ihnen dran, und die Distanzierung bröckelt leicht ab. Das Publikum, das bisher nur die Männer begleitet hat, die als Angehörige des Polizeibataillons 101 zu Tätern an Tausenden jüdischen Opfern werden sollen, empfindet nun das eigene Zuschauen nicht mehr als so weit weg, könnte Stellung beziehen, statt zu konsumieren und sich von scheinbar weiteren unbeteiligten, ebenfalls nur zuschauenden Menschen die Geschichte und Geschichten über das Polizeibataillon anzuhören.

Das Agieren der Schauspielerinnen und Schauspieler, von denen zwei als jüdische Frauen im Widerstand kritisch die andere Seite widerspiegeln und sich mit den Verdrängungen und Verhaltensweisen der Täter auseinandersetzen, am Ort unter denjenigen, die sich als Publikum in der Konsumentenrolle sehen, bringt eine Nähe, die gewollt ist und die problematische Trennung zugleich auflöst / zum Teil aufhebt: Die Möglichkeit zur Distanzierung, das Zurückbleiben und einfach nur Zugucken, das Sich-Entziehen fällt schwerer.

Die "Bühne" in den Lagerschuppen wird noch mehrmals gewechselt, der Spielort "ergangen", und die Schlußszenen entlassen ein Publikum, ohne es pädagogisch vorgeführt und doch gleichzeitig mit einem historischen Thema vertraut gemacht zu haben, was über das bloße Lesen eines Buches oder dem "Nachspielen" in einer konventionellen Aufführung hinausgeht.

Theater ohne Zeigefinger oder moralinsaure Betroffenheitserwartung an die Zuschauerinnen und Zuschauer, bei dem meines Erachtens mehr hängen bleibt als bei jeder Stadtführung zum selben Thema.

Über die Anregungen, die das Theaterstück für alternative / antifaschistische Stadtführungen bereithielt, und mögliche Ideen für Stadtführungen vor dem Hintergrund dieses Projektes soll später an einer anderen Stelle in der Zeitschrift berichtet werden.

Literatur: Christopher Browning, Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die Endlösung in Polen, Reinbek 1993.

Keine Bilder des Vergessens - Hamburger Polizeibataillone im Zweiten Weltkrieg. Begleitbroschüre zur Ausstellung in der Diele des Hamburger Rathauses. Mit einem Beitrag von Wolfgang Kopitzsch. Hrg. von der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Hamburg 1998.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 32 (Dezember 1997) S. 80-82.


Frank Omland, geboren 1967, ist Sozialpädagoge und in Hamburg bzw. Kiel bei der Organisation und Durchführung antifaschistischer Stadtrundgänge aktiv. Er arbeitet im Themenbereich Nationalsozialismus vorrangig zu den Aspekten Jugend, soziale Arbeit und Wahlen sowie zum Neofaschismus der Gegenwart.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 32

Übersicht Informationen

Verfügbare Texte

Titelseite AKENS