Der anzuzeigende, von zwei anerkannten Spezialisten zum Leben und Schaffen Gustav Frenssens (1863 - 1945) herausgegebene Sammelband nimmt sofort die Stellung der bis dato wichtigsten Buchveröffentlichung in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem kontroversen Heimatschriftsteller und Naziideologen aus Dithmarschen ein.
Wie Frank Trende in seinem Beitrag über die Behandlung und Aufnahme der Karriere und Werke von Frenssen nach 1945 zeigt, hat es erst seit etwa Anfang der 1980er Jahre ernstzunehmende Versuche gegeben, die Grundideen des weltberühmten Autors von Jörn Uhl (1901) und vielen anderen Romanen (von denen allein auf deutsch insgesamt über drei Millionen Exemplare verkauft worden sind) sowie neuerdings von seiner weitverstreuten Publizistik und umfangreichen Korrespondenz festzustellen und zu analysieren. Die umstrittenste Seite seines Denkens und Handelns - und gleichwohl der Grund, warum in dieser Zeitschrift von dem Band Notiz genommen wird - sind bekanntlich ihre Beziehungen zum Nationalsozialismus. Obwohl nicht jeder der in dem Band abgedruckten Aufsätze sich explizit mit dieser Frage beschäftigt, steuern fast alle zumindest indirekt etwas zu der Debatte bei.
Die dreizehn Beiträge des Buches können in mehrere Gruppen eingeteilt werden. Der gleich am Anfang und wegen seiner Länge (ganze 140 Seiten samt 420 Anmerkungen!) sowie des biographischen Themas alleinstehende Beitrag des Mitherausgebers und Pastors Dietrich Stein, heutzutage auch Nachbar des früheren Frenssenschen Anwesens in Barlt, liefert trotz seines streckenweise fast chronikartigen Ansatzes durchaus Einsichten und Erklärungen, die relevant für die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Weltanschauung Frenssens sind.
Beispielsweise weist Stein - wie auch einige andere Autoren dieses Bandes - auf das frühzeitige Erscheinen von manchen Gedanken Frenssens hin, etwa 1922 über die Eugenik (S. 61) oder aber den vermeintlich negativen Einfluß
der von ihm als jüdisch-romanisch bezeichneten Kulturelite der Weimarer Republik auf die Absatzmöglichkeiten einiger seiner Bücher (S. 71 u. 142, Anm. 245), die später im Dritten Reich zu verhängnisvollen Bestandteilen seiner rassistischen und antisemitischen Ideologie werden sollten.
Stein versorgt den Leser ebenfalls reichlich mit Material über eine Reihe von Begebenheiten (Geburtstagsfeiern, Verleihung der Goethe-Medaille usw.) und Veröffentlichungen der Jahre nach 1933, die Frenssen als überzeugten Hitleranhänger (aber Nichtmitglied der NSDAP) entlarven; besonders hervorzuheben in dieser Hinsicht sind Steins meist knappe Zusammenfassungen der zunehmend abstoßenden Inhalte von Vorland (1937), Prinz Wilhelm (1938), Der Weg unseres Volkes (1938), Recht oder Unrecht - mein Land (1940) und Lebenskunde (1942). Dieser Text stimmt der vom Regime bereits inszenierten Sterilisation und später Tötung von unheilbar kranken und gesellschaftlich schwer integrierbaren Personen freudig zu. Auch die Juden sollten laut Frenssen aus dem deutschen Herrschaftsbereich verschwinden.
Die Darstellung Steins von dem Lebensweg und den Schriften Frenssens in bezug auf den Nationalsozialismus ist durchaus nuanciert: Als Gauleiter Hinrich Lohse und andere schleswig-holsteinische Parteifunktionäre die Drucklegung der Erzählung Die Nachtwache, worin der gerade in die umgebaute Preußische Akademie der Künste aufgenommene Dichter seine biologischen Anschauungen über die Sexualität ausbreitet, zu seiner tiefen Enttäuschung ablehnten, kommentiert der Autor: "Es zeigt sich, daß die Nationalsozialisten den Schriftsteller zwar achten und auch sein Ansehen nutzen, aber durchaus nicht alles, was er gutheißt, ebenfalls gutheißen." (S. 90)
Dieselbe Differenzierung in der Betrachtung der Stellung von Frenssens OEuvre innerhalb des präfaschistischen Literaturkanons Deutschlands kennzeichnet den Beitrag von Uwe-K. Ketelsen, dem gegenwärtig wohl scharfsinnigsten Interpreten des Schrifttums des Dritten Reiches und seines Ursprunges. Er kommt zu dem Schluß, daß zumindest in seinen Werken aus den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts Frenssen eher als Kulturkritiker des etablierten deutschen Industriestaates statt als "Vorläufer, Weichensteller oder früher Prophet" (S. 154) des Nationalsozialismus zu betrachten ist. Damals zählte Frenssen zusammen mit Julius Langbehn zu den "niederdeutschen" - sprich: antimodernen - Befürwortern der angeblich besseren Werte der vorindustriellen Lebensweise einer "agrarisch oder kleinhandwerklich organisierten Gesellschaft" (S. 174f.). Ironischerweise entpuppte sich aber Frenssen als höchst moderner Marketingmanager seiner literarischen Produkte - aber nicht unbedingt als Urnazi.
Der Aufsatz von Ketelsen befaßt sich im allgemeinen mit den Werken Frenssens, die lange vor 1933 erschienen waren. Vier weitere Studien nehmen einzelne dieser Romane kritisch unter die Lupe, nämlich diejenigen von Klaas Jarchow (zu Jörn Uhl, 1901), Max Friedrich Jensen (zu Hilligenlei, 1905), Rolf Meyn (zu Peter Moors Fahrt nach Südwest, 1906) und Thomas Krömmelbein (zu Otto Babendiek, 1926). Bis auf letzteren kommen sie alle zu dem Ergebnis, daß es bereits um die Jahrhundertwende
erkennbare Vorzeichen des künftigen gegenseitigen Verständnisses zwischen Frenssen und dem Nationalsozialismus gab: bei dem Entstehen und der Rezeption von Jörn Uhl in ihrem gemeinsamen Nationalismus und Chauvinismus (S. 280ff.), in Hilligenlei die primär "biologische Funktion der Frau in Ehe und Mutterschaft" (S. 310f.) und der völkische Rassismus, der Sozialdarwinismus und das Sendungsbewußtsein bei Peter Moor (S. 332ff.). Krömmelbein dagegen lehnt die Interpretation von Norbert Mecklenburg glatt ab, daß Otto Babendiek "bereits Grundelemente faschistischer Ideologie mit sich führt" (S. 363); darüber hinaus charakterisierte er die Beschreibungen Frenssens von dessen Begegnungen mit sogar jüdischen Politikern der Weimarer Zeit wie Walther Rathenau in seinem sonst so berüchtigten Lebensbericht (1940) als "doch fair und frei von Nazi-Hetze" (S. 383, Anm. 8).
Derselbe Thomas Krömmelbein stellt einen von zwei Beiträgen über die Verbindungen Frenssens mit großen Literaten zur Verfügung, und zwar mit dem norwegischen Nationaldichter Knut Hamsun; während Thomas Neumann die Beziehung zum ehemaligen Mitschüler Frenssens, dem ebenfalls aus Dithmarschen stammenden Kritiker Adolf Bartels behandelt. Obwohl der Nobelpreisdichter Hamsun wegen seiner Kollaboration mit der deutschen Besatzung Norwegens danach eine Art von nationaler Degradation erfuhr und Bartels als "The Nazi's Literary Grandfather" (so der Titel der soeben erschienenen Studie von Steven N. Fuller) bekannt wurde, tragen beide Aufsätze überraschend wenig zur Beleuchtung des Themas "Frenssen und der Nationalsozialismus" bei (allerdings ist die Bezeichnung von Frenssen als "Nazimitläufer" durch Krömmelbein auf S. 389 sicherlich eine Unterschätzung der Verwicklung mit dem Regime und seiner Ideologie).
Die von Kornelia Küchmeister in ihrem informativen Kapitel über Frenssens Nachlaß aufgeführte Liste von einigen der insgesamt 1201 Briefkorrespondenten des Schriftstellers - darunter Gerhart Hauptmann, Hanns Johst und Hans Grimm - verspricht, daß ergiebigere Untersuchungen solcher Bekanntschaften durchführbar wären.
Es bleiben zuletzt die drei sich mit Frenssens Entfaltung zum nationalsozialistischen Geistesgenossen am deutlichsten und nachdrücklichsten beschäftigenden Aufsätze des Bandes zu erwähnen. Manfred Karl Adam untersucht die Position des einstigen Pastors Frenssen in der Theologie seiner Zeit. Er arbeitet dabei sorgfältig heraus die Wandlung in der Einstellung gegenüber sowohl geistig und körperlich Behinderten (von Zustimmung zu der "Pflege der Armen und Elenden" in den Dorfpredigten von 1899-1902 bis zu deren physischer Ausrottung in der Lebenskunde) als auch den Juden in Hilligenlei (wo Moses und Buddha beide "heilige Helden" heißen) und in seinem streng antikirchlichen Der Glaube der Nordmark (1936), worin Frenssen bejahend zu "dem harten Gericht [...], das nach dem Umbruch [vom 30. Januar] über die Juden in Deutschland gekommen war" (S. 193, 198, 205ff., 209f.), stand. Das Fazit des Theologen Adam: "Muß heutzutage nicht endlich auch von der Schuld Gustav Frenssens gesprochen werden?" (S. 211)
Diese Frage würde Kay Dohnke, der einen umfassenden Forschungsbeitrag über das politisch-ideologische Gele-
genheitsschrifttum von Frenssen zu dem von ihm mitherausgegebenen Band beisteuert, zweifellos mit "Ja" beantworten. Dohnke beweist, wie schon während des Ersten Weltkrieges der "Demagoge" Frenssen in zahlreichen Zeitungsberichten die Humanität der Gegner Deutschlands verleugnete (S. 231f.), wie bald nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler der Schriftsteller seine vorbehaltlose Begeisterung für den neuen "Fuhrmann des deutschen Volkes" wiederholt öffentlich kundtat (S. 240f.), und wie die "dreiste Lüge" der Propagandaäußerungen im Rundfunk des über Achtzigjährigen bis zu seinem letzten Atemzug am 11. April 1945 anhielt (S. 251ff.): "Ich verabschiede mich [...], trotz der jetzigen schwierigen [!] Lage, in dem Glauben aus dem Leben, daß der Endsieg auf deutscher Seite sein wird [!!]. Heil dem Führer!" Dohnke hat hiermit die absolute Unerläßlichkeit des Heranziehens von dem journalistischen Schaffen Gustav Frenssens - aber auch von vielen anderen Schriftstellern aus der NS-Zeit - für eine vollständige Würdigung ihrer damaligen Einstellung demonstriert.
Last but not least, die Studie über "Das Frauenbild und die Funktion von Sexualität in Gustav Frenssens Werk" von Kornelia Küchmeister, der Betreuerin seines in der Kieler Landesbibliothek aufbewahrten Nachlasses, rechtfertigt fast allein das Anschaffen dieses Bandes; sie gehört außerdem auf jegliche Leseliste von unentbehrlichem Material zum Thema "Frauen und Nationalsozialismus". Nach einer äußerst feinfühligen Zerlegung der Darstellungen von den Protagonistinnen in den Romanen Frenssens, bei der Küchmeister u.a. die gemeinsame Ablehnung der Berufsausbildung der Frauen vom Autor sowie von der NSDAP (S. 417ff.) und Frenssens Übernahme des "Zuchtprinzips" in bezug auf die Frauenrolle in der Gesellschaft aufdeckt, wobei Frenssen auf theoretischer Ebene der Praxis der "Lebensborn"-Organisation zuvorkam (S. 424, 430f.), kommt die Wissenschaftlerin zu einem vernichtenden Urteil über die Wirkung des Schriftstellers: Sein Werk "liefert unter ideologischem Aspekt den signifikantesten Beweis für die Instrumentalisierung des Frauenbildes in der Literatur des Nationalsozialismus. [...] Frenssen muß als Schriftsteller in die Reihe jener gestellt werden, die den Nationalsozialismus kulturell flankiert und für eine massenhafte Verbreitung zugrundliegender Ideen gesorgt haben." (S. 432)
Die ganz wenigen faktischen Fehler, die in diesem Buch zu verzeichnen sind - z.B. gehörte Eutin nicht "mit Lübeck", sondern mit dem sogenannten oldenburgischen Landesteil Lübeck zum Freistaat Oldenburg (S. 106), auch eine "Universität von Ithaca" (S. 62) gibt es meines Wissens nicht (Ithaca im Bundesstaat New York beheimatet die Cornell-Universität sowie das weit weniger bekannte Ithaca College) - schmälern keineswegs seinen Wert als die erste großangelegte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Stellung von Gustav Frenssen vor allem innerhalb der Ideenwelt des Nationalsozialismus und seiner Entstehungsgeschichte.
Es fehlt nur noch eine Abhandlung, die von diesem Standpunkt aus eine detailliertere Betrachtung seiner wichtigsten Publikationen im Dritten Reich als bei Stein anbietet, wie Dohnke dies für die Publizistik getan hat. Derselbe Verfasser rundet auch das Buch hilfreich
mit einer umfassenden Bibliographie der Werke von und über Gustav Frenssen (besonders für die Sekundärliteratur aus der Zeit nach 1945) ab. Alles in allem, ein sehr gelungenes Unternehmen.
Kay Dohnke / Dietrich Stein (Hrg.): Gustav Frenssen in seiner Zeit. Von der Massenliteratur im Kaiserreich zur Massenideologie im NS-Staat. Heide: Westholsteinische Verlagsanstalt Boyens & Co. 1997. 504 S., zahlr. Abb.
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 32 (Dezember 1997) S. 94-98.
Lawrence D. Stokes (geboren 1940) ist Professor für moderne europäische und speziell deutsche Geschichte an der Dalhousie University in Halifax/Kanada; neben seinem Buch Kleinstadt und Nationalsozialismus. Ausgewählte Dokumente zur Geschichte von Eutin 1918 - 1945 (Neumünster 1984) hat er eine Reihe von Aufsätzen zur Zeitgeschichte Eutins veröffentlicht. Eine von ihm zusammengestellt Dokumentation zum Eutiner Dichterkreis erscheint demnächst.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 32