Bettina Reichert

"...daß er keinen Ort wisse, wohin er sich begeben könne."

Juden in Leck [1]

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in Leck, dem damaligen Hauptort der Karrharde im Amt Tondern (heute Kreis Nordfriesland), zeitweise einige jüdische Einwohner. Dies ist um so überraschender, als Juden die Ansiedlung in den Landdistrikten des Herzogtums Schleswig eigentlich grundsätzlich nicht gestattet war. [2] Daher soll hier anhand der einschlägigen Akten des Landesarchivs Schleswig-Holstein den Fragen nachgegangen werden: Wer waren diese Menschen, und wie kam es zu ihrer Niederlassung in Leck bzw. zu ihrer späteren Vertreibung?

In den Jahren 1803 bis 1854 stieg die Einwohnerzahl Lecks von 598 auf 937 Personen. In der Volkszählung von 1803 werden unter den Bewohnern noch keine Namen genannt, die auf eine jüdische Herkunft schließen lassen; auch in der nächsten Volkszählungsliste von 1835 werden keine solchen aufgeführt. In der Zwischenzeit hielten sich in Leck jedoch einige Juden auf, die sich auf Dauer niedergelassen oder dies zumindest beabsichtigt hatten. Sie unterschieden sich dadurch von den jüdischen Händlern, die sich - mit Pässen versehen - nur vorübergehend und damit legal v. a. zum Besuch der jeweiligen Märkte dort befanden. Auf das Schicksal dieser Menschen in bezug auf ihre Verbindung zu Leck wird im folgenden - soweit rekonstruierbar - eingegangen.


Hirsch Isaac aus Breslau

Bereits im Jahr 1812 bat der sich in Apenrade aufhaltende Händler Hirsch Isaac aus Breslau, sich in Leck, Lügumkloster oder Bredstedt niederlassen zu dürfen. Er reiste bereits seit über 20 Jahren durch Schleswig-Holstein und schien relativ vermögend zu sein, da er den Ankauf eines Hauses und die Stellung einer Kaution für diese Genehmigung anbieten konnte. Karrhardesvogt Müller [3], der örtliche Vertreter der Obrigkeit in Leck, lehnte in seinem zu diesem Gesuch abgestatteten Bericht an den Tonderner Amtmann v. Bertouch [4] eine Ansiedlung des Juden in Leck jedoch strikt ab, v. a. da er als direkte Folge ein Herumstreifen und Hausieren in der Umgegend fürchtete; generelle juristische - oder gar religiöse - Vorbehalte nannte er nicht. Der Amtmann schloß sich dieser Meinung an und so wurde die Bitte des jüdischen Händlers von der Deutschen Kanzlei als oberster Verwaltungsinstanz abgelehnt.

Isaak Levin gen. Itzig Gosch

Im gleichen Jahr wurde der Jude Isaak Levin genannt Itzig Gosch von den Behörden gesucht, um in Haft gesetzt werden, da er angeblich aus der "Sclaverey" [5] in Rendsburg entflohen und mutmaßlich an verschiedenen Diebstählen beteiligt war. Die Vermutung, er habe sich mit weiteren Verdächtigen in Leck häuslich niedergelassen, stimmte zwar laut Karrhardesvogt Müller nicht, tatsächlich wohnte er aber zuweilen in den Zeiten zwischen den Märkten dort und konnte daher auch am 4. Juli 1812 gefangengenommen und nach Tondern transportiert werden.

Gleichzeitig wurden alle weiteren sich gerade in Leck aufhaltenden Juden zum persönlichen Erscheinen in der Karrhardesvogtei aufgefordert. Es fanden sich neun Menschen ein, die teilweise von weit her stammten (z.B. aus Posen und Emden); da sie sich aber alle nur auf der Durchreise befanden, gültige Pässe besaßen und ausnahmslos angaben, nach Apenrade weiterreisen zu wollen, blieben sie ansonsten unbehelligt. Isaak Levin wurde jedoch schon am 24. Juli 1812 von Amtmann v. Bertouch wieder freigelassen, da er gemäß der eingeholten Auskunft der Rendsburger Kommandantur seine fünfjährige Strafe, zu der er im Amt Bredstedt verurteilt worden war, bereits 1800 vollständig verbüßt hatte. Für kurze Zeit kehrte Levin daraufhin nach Leck zurück.

Als das Gottorfer Obergericht den Amtmann im September 1812 überraschenderweise erneut anwies, den - immer noch gesuchten - Juden in Leck gefangennehmen zu lassen [6], wurde am 3. Oktober 1812 eine "allgemeine und genaue Haussuchung" [7] von dem eifrigen Kirchspielvogt Johannsen [8] durchgeführt. Es wurden diesmal drei jüdische Händler ermittelt, die aber alle gültige Pässe hatten und sich nur zum "Krammarkt" [9] in Leck aufhielten. Isaak Levin selbst war jetzt also nicht mehr dort; der Amtmann verbreitete daher im Oktober 1812 einen Steckbrief nach ihm, der eine wenig schmeichelhafte Beschreibung des Verdächtigen gibt: Er sei 49 Jahre alt und aus Holstein, etwas harthörig, lang von Statur, ziemlich blatternarbig, habe schwarze Haare und schwarze Augen, eine große dicke Nase und der eine Daumen sei völlig lahm. Isaak Levin wurde dann wenig später mit seiner Frau Hanna in Apenrade verhaftet.


Pincus Hirsch aus Friedrichstadt

Im Jahr 1819 suchte erneut ein Jude bei seinem Landesherrn um die Erlaubnis nach, sich auf Dauer in Leck niederlassen zu dürfen. Es handelte sich um den 26jährigen Pincus Hirsch, der dort die Schlachterei betreiben wollte. Er war ein Sohn des Friedrichstädter Schlachters Hirsch Elias und selbst Bürger und Schlachter in Friedrichstadt. P. Hirsch gab als Gründe für seine Bitte an, in Leck ein besseres Fortkommen finden zu können, da dort bisher nur ein einziger Schlachter vorhanden sei; zudem wäre er selbst in Leck und Umgegend bereits seit Jahren wohlbekannt, so daß seine Niederlassung sogar der Wunsch der dortigen Einwohner sei! Unterstützend stellte ihm die Stadt Friedrichstadt ein sehr gutes Empfehlungszeugnis aus, das seinen untadelhaften und vorwurfsfreien Lebenswandel betont, und Hirsch appellierte ausdrücklich an die "Toleranz" [10] des dänischen Königs. Doch der zunächst von dem Tonderner Amtmann Matthiessen [11] um seine Ansicht zu diesem Gesuch gebetene Karrhardesvogt Müller reagierte unwillig: "In keinem Dorfe des Herzogthums Schleswig ward aber meines Wissens, bisher einem Bekenner der mosaischen Religion die Etablirung verstattet, und da mir von dem angeblichen Wunsche der mehresten Bewohner des Dorfes Leck und der Umgegend, daß sich Supplicant bey ihnen niederlasse, nicht das Mindeste bekannt geworden ist, so sehe ich keinen hinreichenden Grund ein, aus welchem [...] eine Ausnahme von der Regel gemacht werden dürfte". [12] Auch wenn die Antwort an den jüdischen Schlachter nicht überliefert scheint, ist wohl davon auszugehen, daß sich auch die anderen Instanzen der Ansicht des Karrhardesvogts angeschlossen haben und der Antrag abgelehnt wurde.

Jüdische Familien in Leck

Am 3. Juni 1830 erschien in der dänischsprachigen Zeitung Fyens Stifts Adresse-Avis og Avertissementstidende eine Anzeige der Stadtvogtei Faaborg vom 28. Mai 1830, nach welcher der Jude Levin Moses wegen Betrugs gesucht wird und nach Faaborg eingeliefert werden soll. Zum Erstaunen des neuen Tonderner Amtmanns v. Krogh [13] wurde als Wohnort des Juden das Dorf Leck angegeben! L. Moses wurde daraufhin auch tatsächlich dort angetroffen und von Hardesvogt Küster [14] am 23. Juni 1830 im Auftrag des Amtmanns inhaftiert. Vor dem Abtransport nach Fünen wurde er am 7. Juli im Tonderner Amthaus über sein Leben befragt und gab zu Protokoll: "Er heiße L. M., sey geboren in Baireuth und 37 bis 38 Jahr alt. [15] Sein Vater Moses Beer lebe noch und beziehe hier im Lande die Märkte. Seine Mutter Eva Marcus halte sich bey ihm auf. Seine Eltern seyen mit ihm als Kind hier ins Land gezogen und sey er wenigstens 27 bis 28 Jahr hier. Seine Eltern haben hier im Lande niemals einen festen Wohnort gehabt. Seit reichlich 14 Jahren sey er mit seiner jetzigen Frau Betty Levin verheirathet. Ungefähr 2 bis 3 Jahr vorher habe er sich von seinen Eltern getrennt und sich durch Treibung mechanischer Künste ernährt. Nach seiner Verheirathung sey er in den ersten Jahren gleichfalls umhergezogen." Er erwähnte außerdem eine Arreststrafe und Aufenthalte in Rantzau, Mölln, Süderbrarup und Lügumkloster; ein Jahr verbrachte er auch im Hannoverschen. In seiner eigenen Beschreibung heißt es weiter: Im Jahr 1818 " sey er mit ihr [seiner Frau] nach Leck gefahren. Ungefähr in den nächsten 2 Jahren habe er sich dann und wann, seitdem aber beständig in Leck aufgehalten. Zu der Zeit, als seine Tochter Lene geboren worden, habe er Leck zu seinem festen Aufenthaltsort gewählt und habe seine Familie, wenn er auch die Märkte bezogen, sich beständig [dort] aufgehalten [... und] habe zur Miethe an mehreren Stellen daselbst gewohnt". [16] Er ergänzte seine Aussage einen Tag später dahingehend, daß ihm bisher niemals gesagt worden sei, daß er sich in Leck gar nicht aufhalten darf! L. Moses wird die nächsten zwei Jahre im Zuchthaus Odense bis zu seiner Entlassung nach Leck im November 1832 verbringen, während seine Familie weiter in Leck wohnte.

Im Auftrag des Amtmanns ermittelte Kirchspielvogt Johannsen am 19. August 1830 noch weitere in Leck anwesende Juden: Die Familie von Levin Moses, Jacob und seine Familie, Gabriel Salomon Tachau mit Ehefrau, Schwiegermutter und Mutter, Isack und seine Frau, Lewin Kalkar und Dessauer. Die meisten hielten sich bereits seit vielen Jahren - wohl kaum ohne jede Kenntnis von seiten der Behörden - in Leck auf. Übrigens wird dem immerhin gerade verhafteten Juden L. Moses im Bericht des Hardesvogts Küster vom 27. August 1830 ein gutes Zeugnis ausgestellt, dieser habe sich sogar bei einem großen Dorfbrand besonders bei der Löschung ausgezeichnet und dafür eine Belohnung erhalten.

Zunächst reagierte der Amtmann menschlich auf die Situation der seit langem in Leck wohnenden Juden und beantragte persönlich im November 1830, ihnen eine Wegzugsfrist bis Mai kommenden Jahres zu gestatten, da sie bei einer sofortigen Vertreibung wegen des bevorstehenden Winters in eine drückende Lage versetzt würden. Als er jedoch im Sommer 1831 feststellen mußte, daß die Familien Levin Moses und Gabriel Tachau immer noch da waren, befahl er ihnen im Juli 1831, sich nunmehr innerhalb von vier Wochen zu entfernen und erließ gleichzeitig ein vorsorgliches Mandat, wonach es jedem Bewohner Lecks streng verboten wird, Juden ohne vorschriftsmäßige "Nachtzettel" und andere Legitimationsdokumente zu beherbergen. [17]

Nachdem der anscheinend nicht ganz arme Händler Tachau, der auch Bürger in Friedrichstadt war, im August 1831 zunächst gegen Erlegung einer Geldsumme bei der Ortsarmenkasse Leck einen weiteren Aufschub bis Mai 1832 erreicht hatte, wurde seine Bitte um dauernden Aufenthalt - trotz Vorlage einer befürwortender Bescheinigung der anderen Einwohner - schließlich doch abgelehnt, woraufhin er Leck verließ, so daß im Herbst 1832 nur noch die Familie des L. Moses in Leck verblieben war.

Nachdem Levin Moses seine Zuchthausstrafe in Odense verbüßt hatte und zu seiner Familie zurückgekehrt war, bestätigte eine weitere Überprüfung seiner Lebensumstände im November 1832 erneut, daß er mit seiner Frau, acht Kindern, von denen übrigens vier in Leck geboren waren, und seiner über 90jährigen Mutter in kümmerlichsten Verhältnissen lebt und zwar zur Miete im Haus des Küsters Brodersen [18] in Leck. Der Amtmann erkannte nun, daß die Familie sich wohl "nicht gutwillig entfernen wird". [19] Er betonte in einem Bericht vom 8. Dezember 1832, daß sie trotz der langen Aufenthaltsdauer kein Heimatrecht in Leck erworben haben könnte, da - juristisch gesehen - aus einer unerlaubten Tatsache grundsätzlich keine Rechte entstehen können. [20]

Auf Geheiß des Gottorfer Obergerichts befragte der Amtmann L. Moses im Januar 1833, in welchem der erlaubten Orte er sich niederlassen wolle. Dieser erklärte schließlich, nach Friedrichstadt gehen zu wollen, bat aber gleichzeitig um Frist bis Mai 1833, da er dort keine Wohnung erhalten und den Transport, der relativ teuer ist, da die kleinen Kinder und die Großmutter gefahren werden müssen, vorher auch gar nicht bezahlen könne. Bei einem Befehl zum sofortigen Verlassen Lecks sähe er keinen anderen Ausweg, als davonzugehen und seine Familie im Stich zu lassen. [21]

Der Amtmann gewährte ihm daraufhin eine weitere Frist bis Ostern 1833, drohte aber, ihn danach endgültig wegtransportieren zu lassen. [22] Auf Nachfrage des Amtmanns in Friedrichstadt, ob dem (Zwangs-)Transport der Familie dorthin etwas im Weg stünde, stellte sich heraus, daß sich die dortige jüdische Gemeinde weigerte, diese große und verarmte Familie aufzunehmen, da sie grundsätzlich der Ansicht war, daß aus der Tatsache, daß Juden nur an einigen wenigen Orten wohnen dürfen, kein Zwang für diese Orte abgeleitet werden könne, alle fremden Juden aufnehmen zu müssen. Außerdem verlange Friedrichstadt von jedem Niederlassungswilligen obrigkeitliche Zeugnisse des bisherigen Wohlverhaltens.

Die Gemeinde warf sogar dem Amt Tondern vor, fremde Juden aufgenommen und jahrelang in Leck geduldet zu haben, wodurch diesen überhaupt erst die Gelegenheit gegeben werde, sich - zum Nachteil der mosaischen Gemeinden - in Schleswig-Holstein einzubürgern. Da dies aber nun geschehen sei, so könne die Religionsverschiedenheit allein kein Grund sein, die daraus erwachsenen Heimatrechte abzulehnen. Die Gemeinde sei ohnehin bereits mit fremden Familien überfüllt, deren Mehrheit unvermögend oder verarmt ist.

Für die Friedrichstädter war L. Moses außerdem kein Unbekannter, der Älteste und die Vorsteher der Gemeinde schrieben ihm kein gutes Zeugnis aus: Eins der Kinder sei ein Krüppel und Taugenichts, der Vater und Mutter schlägt, ein zweiter begehe Diebereien, und die Familie suche sich mit Glücksspielen auf Märkten zu ernähren; insgesamt handele es sich bei Levin Moses um ein "augenscheinlich unwürdiges Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft". [23] Der Magistrat Friedrichstadt bat daher, den Transport nicht durchzuführen.

Das Gottorfer Obergericht rügte daraufhin seinerseits den Amtmann, er hätte die jüdische Familie einfach aus dem Amt Tondern wegschaffen und sich selbst überlassen sollen. Die Anfrage an Friedrichstadt hatte die Sache in den Augen der Behörde also nur kompliziert.

Amtmann v. Krogh stellte am 8. September 1833 für Friedrichstadt dann das verlangte Führungszeugnis über L. Moses aus; dieses Zeugnis, das sehr diplomatisch verfaßt ist - schließlich will der Amtmann die jüdische Familie ja loswerden -, reichte der Stadt jedoch aus mehr oder weniger formalen Gründen nicht aus. Nunmehr erkannte das Obergericht das Zögern aber nicht mehr an und verlangte entschieden den Transport der Familie, der schließlich 14 Tage vor Ostern 1834 durchgeführt wurde, allerdings ohne den Familienvater selbst, der gerade wieder auf einer Handelsreise war.

Schnell trat genau das ein, was die jüdische Gemeinde befürchtet hatte: die große Familie muß von ihr beherbergt und versorgt werden. In der Annahme, daß doch ein Heimatrecht in Leck bestehen müsse, erbat sie 1835 eine Kostenerstattung durch die Lecker Armenkasse. Der Amtmann von Tondern konnte sich jedoch mit der - von den Lecker Armenvorstehern selbstverständlich geteilten - Ansicht, daß durch den gesetz-widrigen und verbotenen Aufenthalt in Leck keine Rechte erworben werden konnten, durchsetzen, so daß dieser Antrag ebenso von der Regierung abgelehnt wurde wie ein erneuter Versuch im Jahr 1836, die Erstattung durch eine Staatskasse zu erreichen.

Verbittert führte die jüdische Gemeinde Friedrichstadt die Familie Moses bei ihren späteren Bemühungen, zukünftig die für sie existenzbedrohende Niederlassung fremder armer Juden grundsätzlich zu beschränken, als negatives Beispiel an.


Der Streit um Michel Levin

Michel Levin war einer der Söhne des Levin Moses. Auch um ihn wurde eine längere Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Behörden geführt. Der als "Judenjunge" [24] bezeichnete M. Levin verunglückte im Januar 1832 als 16jähriger sehr schwer in der Mühle des Kirchspielvogts Johannsen bei Leck. Seine Stellung bei dem Mühlenbesitzer konnte nicht endgültig geklärt werden; nach Ansicht des Hardesvogts war Michel als Dienstbote bei Johannsen, was eigentlich nicht zulässig war. Der Kirchspielvogt selbst gab jedoch an, der Junge sei kein Dienstbote gewesen; er habe ihn lediglich auf Bitten der Mutter und aus Mitleid mit ihren ärmlichen Umständen bei sich aufgenommen. Um die Frage, wer letztlich für die Übernahme der hohen Kosten seiner chirurgischen Behandlung zuständig war, entspann sich ein jahrelanges Hin und Her. Obwohl auch Michel Levin kein Heimatrecht in Leck hatte und die Mühle eigentlich auf Boverstedter Grund lag, so gehörte letztere doch zur Lecker Armencommüne. Daher verfügte die Regierung 1835 zuletzt die Erstattung der zunächst von der Amtsanlagekasse vorgeschossenen Kosten durch die Armenkasse Leck - unter Vorbehalt des Regresses gegen den Kirchspielvogt. Diese Erstattung erfolgte durch die Armenkasse trotz Androhung von Zwangsmitteln schließlich erst im Dezember 1839.

Lewin Kalkar

Daß die Obrigkeit des Amtes Tondern in den folgenden Jahren ein besonders wachsames Auge auf die jeweils sich in Leck aufhaltenden Juden hatte - wohl um jede Ansiedlung von vornherein zu unterbinden - , zeigt folgender Vorfall: Am 1. April 1833 beherbergte der Krugwirt Jürgen Jürgensen Hjort [25] in Leck den Juden Lewin Kalkar [26] aus Kopenhagen für eine einzige Nacht. Auf eine entsprechende Anzeige des Hardesvogts Küster wurde er daraufhin sofort im Amthaus zu Tondern verhört. Da der Wirt zugeben mußte, weder den Paß des Juden gesehen, noch den vorgeschriebenen "Nachtzettel" verlangt zu haben, wurde er am 19. April 1833 wegen Verstoßes gegen das entsprechende Mandat des Amtmanns vom 24. Juli 1831 kurzerhand zu einer Geldstrafe verurteilt.

Die Umfrage der Deutschen Kanzlei 1834

Im Jahr 1834 interessierte sich die Deutsche Kanzlei im Rahmen der sich abzeichnenden Bemühungen zur Emanzipation generell für die in Schleswig-Holstein lebenden Juden. Amtmann v. Krogh aus Tondern berichtete daher auftragsgemäß über die "Verhältnisse der mosaischen Glaubensgenossen" [27] und brachte in Erinnerung, daß in Leck früher mehrere nichtkonzessionierte jüdische Familien, die sich hauptsächlich durch den "Schacherhandel" [28] ernährten, gewohnt hatten. Er habe jedoch die "Entfernung" [29] derselben veranlaßt, und dies sei jetzt (also 1834) bereits seit längerer Zeit erfolgt, so daß in Leck keine Juden mehr ansässig seien.

Mit dieser "Erfolgsmeldung" des Amtmanns ist ein Kapitel der Bevölkerungsgeschichte Lecks zunächst abgeschlossen. In den Listen der nächsten Volkszählung im Jahr 1835 konnte unter den 766 Einwohnern dann auch kein Name ermittelt werden, der auf eine jüdische Herkunft hinweist.

Als Fazit bleibt: Nachdem Juden also über längere Zeit offensichtlich unbehelligt in Leck hatten leben können (man erinnere sich z.B. an die mehrfach beigebrachten positiven Zeugnisse der Eingesessenen), gerieten sie - eher zufällig - in den Blick der obrigkeitlichen Verwaltung; dies führte schließlich zu ihrer Vertreibung aus dem inzwischen wohl als Heimat empfundenen Ort und vielleicht sogar zu ihrer endgültigen Verarmung.


Anmerkungen

Als Quellenmaterial wurden folgende Akten des Landesarchivs Schleswig-Holstein (LAS) benutzt:

Abt. 49.11 (Schleswig-Holsteinische Regierung zu Gottorf) Nr. 157, Abt. 49.32 Nr. 63; Abt. 65.2 (Deutsche Kanzlei zu Kopenhagen) Nr. 440I, 440II, 1063III, 2791I; Abt. 161 (Amt Tondern) Nr. 1456, 2493, 2529; Abt. 412 (Volkszählungen) Nr. 43; Abt. 415 (Volkszählungen) Nr. 5404. Aufgrund mangelnder Quellen kann von der historischen Einordnung der in diesem Beitrag erwähnten Personen als "jüdisch" kein Rückschluß auf ihre tatsächliche Religionszugehörigkeit oder auf ihr Selbstverständnis gezogen werden.

1. LAS Abt. 49.11 Nr. 157: Bericht des Karrhardesvogts vom 28.11.1832 über den Juden Levin Moses.

2. LAS Abt. 49.11 Nr. 157: Gemäß der Verfügung vom 13.6.1729 (durch Kanzleischreiben bestätigt und um den Ort Elmshorn ergänzt am 22.12.1818) durften sich Juden nur in Altona, Glückstadt, Rendsburg und Friedrichstadt häuslich niederlassen.

3. Georg Ludwig Müller, gest. 1844, Hardesvogt der Karrharde 1801-1825, danach Stadtsekretär in Altona, außerdem seit 1829 Besitzer des adligen Gutes Klixbüllhof bei Leck.

4. Ernst Albrecht v. Bertouch, 16.12.1745-17.12.1815, Amtmann von Tondern 1789 bis zu seinem Tod.

5. LAS Abt. 161 Nr. 2529: Schreiben des Gottorfer Obergerichts an den Amtmann vom 26.6.1812.

6. Anscheinend wurde er eigentlich wegen einer ganz anderen Karrenstrafe gesucht, zu der er 1801 im Gut Ludwigsburg verurteilt worden und aus der er ein halbes Jahr später geflohen war. I. Levin hatte also zunächst von der mangelnden Koordinierung und dem schlechten Informationsfluß zwischen den verschiedenen beteiligten Behörden profitieren können und so seine Entlassung nach der ersten Verhaftung in Leck erreicht.

7. LAS Abt. 161 Nr. 2529: Schreiben des Kirchspielvogts an den Hardesvogt vom 3.10.1812.

8. Johann Johannsen, langjähriger Kirchspielvogt - zeitweise suspendiert - des Kirchspiels Leck bis zu seinem Tod 1844.

9. LAS Abt. 161 Nr. 2529: Schreiben des Kirchspielvogts an den Hardesvogt vom 3.10.1812.

10. LAS Abt. 161 Nr. 2493: Gesuch vom 30.7.1813; dieses wurde von dem Friedrichstädter Advokaten Nicolaus Gülich (1770-1834) - im Auftrag des Supplikanten - aufgesetzt und eingereicht.

11. Peter Matthiessen, 19.3.1767 - 25.12.1829, Amtmann von Tondern 1816 bis zu seinem Tod.

12. LAS Abt. 161 Nr. 2493: Schreiben des Hardesvogts vom 14.2.1820.

13. Friedrich Christian v. Krogh, 13.4.1790 - 28.12. 1867, Amtmann von Tondern 16.2.1830 - 28.4.1848 (abgesetzt von der Provisorischen Regierung).

14. Friedrich Otto Küster, geb. 1783, Hardesvogt der Karrharde 1826 - 1851.

15. Gemäß der Aussage seiner Frau vom 12.6.1834 kommt L.M.s Mutter aber aus Kopenhagen und er wurde nur auf der Durchreise in Bayreuth geboren (LAS Abt. 49.11 Nr. 157: Auszug aus dem Friedrichstädter Polizeiprotokoll).

16. LAS Abt. 49.11 Nr. 157 Abschrift aus dem Verhörprotokoll des Amtes Tondern vom 7.7.1830 (gekürzt).

17. LAS Abt. 161 Nr. 2529: Mandat des Amtmanns vom 24.7.1831.

18. Christian Brodersen, 1762 - 1836, seit 1782 Küster in Leck.

19. LAS Abt. 49.11 Nr. 157: Schreiben des Amtmanns vom 8.12.1832.

20. Gem. Patent vom 23.12.1808 erwarb ein verarmter Hilfsbedürftiger durch mindestens dreijährigen Aufenthalt an einem Ort das Recht auf Armenunterstützung durch den jeweiligen Armendistrikt.

21. LAS Abt. 49.1 Nr. 157: Protokollauszug v. 15.1.1833.

22. Ebenda.

23. LAS Abt. 49.11 Nr. 157: Schreiben der Gemeinde vom 3.4.1833.

24. LAS Abt. 161 Nr. 2529 u.a. Schreiben des Amt-manns an den Kirchspielvogt vom 7.12.1832.

25. Jürgen Jürgensen Hjort, geb. 1788, besaß seit 1823 eine Konzession zur Krügerei in Leck.

26. Es stellte sich im Zuge der Untersuchungen interessanterweise heraus, daß L. Kalkar seit Herbst 1832 öfter nach Ladelund gekommen war, um dort im Haus des Krügers Peter Jürgen Bendixen den Sabbat zu feiern. Auch gehörte er zu den früher in Leck wohnenden Juden, die das Dorf hatten verlassen müssen.

27. LAS Abt. 65.2 Nr. 440 II: Bericht des Amtmanns vom 6.10.1834.

28. Ebenda.

29. Ebenda.

Im Original enthält der Beitrag zwei Abbildungen.


Die Autorin: Bettina Reichert (Jahrgang 1968) ist Diplom-Archivarin und beim Landesarchiv Schleswig-Holstein tätig. Sie interessiert sich besonders für die Geschichte des alten Amtes und Kreises Tondern.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 33/34

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