Bernd Philipsen

Tinte floß übers Hakenkreuz

Dr. Arnold Kalisch - ein verfolgter Pazifist und Jude

Der Jurist, Publizist und Sprachlehrer Dr. Arnold Kalisch - eine der bedeutsamsten Persönlichkeiten der deutschen Friedensbewegung vor 1933 - war demonstrativen Gesten offensichtlich nicht abgeneigt: "Fredshjem", also "Friedensheim", nannte er sein oberhalb der dänischen Küste der Flensburger Förde gelegenes Häuschen, in das er sich schon bald nach der Machtergreifung Hitlers vor den Nationalsozialisten geflüchtet hatte. Bei der symbolträchtigen Namensgebung spielten sicherlich auch eine Portion Trotz und die Enttäuschung darüber eine Rolle, daß seinen Mahnungen vor den dramatischen politischen Entwicklungen in Deutschland keine Beachtung geschenkt worden war.

Kalisch war während des NS-Regimes gleich in zweifacher Weise stigmatisiert - als überzeugter Pazifist und als Jude. Sein langjähriger Freund und Weggefährte, der Lehrer und Schulreformer Johann Ohrtmann [1], mit dem er in der Friedensbewegung und publizistisch eng zusammenarbeitete, hatte sich über die plötzliche Emigration Kalischs zunächst gewundert, wie dieser in seinen nach dem Kriege niedergeschriebenen Lebenserinnerungen [2] einräumt, aber doch bald erkennt, "daß es für ihn als einen Deutschen jüdischer Abstammung [...] eine Rettung nur in der Flucht gab". Von seinem Exilstandort Rönshoved (Randershof) aus blickte der Emigrant über die dort nur etwa vier Kilometer breite Wassergrenze auf die deutsche Seite, auf der inzwischen Intoleranz und Unfreiheit herrschten und Chauvinisten, Rassisten und Kriegstreiber das Sagen hatten.

Das denkwürdigste und berühmteste Grab auf dem Alten jüdischen Friedhof in Prag ist das des großen Gelehrten und Lehrers Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel aus dem Jahre 1609. Der um 1525 wahrscheinlich in Posen [3] geborene Löw, dem die Legende die Erschaffung eines künstlichen Menschen, des Golem, zuschreibt, war ein enger Vertrauter des dänischen Astronomen Tycho Brahe [4] und an dessen Beobachtungen und Erfindungen außerordentlich interessiert. Dieser bedeutende "Hohe Rabbi", an dessem stattlichen Grabmal Friedhofsbesucher aus aller Welt Zettelchen mit Wünschen oder Danksagungen niederlegen, gehört zu den Vorfahren von Arnold Kalisch, der - am 22. Januar 1882 in Berlin geboren - einem deutsch-jüdischen Elternhaus entstammte. [5] Nach der am Görlitzer Gymnasium bestandenen Abiturprüfung "führt ihn sein Studium in Berlin, in Freiburg i. Br., in Kopenhagen und Leipzig ebenso sehr in die neueren Sprachen wie in die Rechtswissenschaft". [6]

Sein Studium der Rechtswissenschaft und Philologie schloß Kalisch mit einer rechts- und staatswissenschaftlichen Arbeit über "Die Landtage und die Instruierung der Bundesbevollmächtigten" ab, mit der er am 12. Juli 1914 an der Universität Leipzig zum "Dr. jur. mit Staatsrecht" promoviert wurde. [7] Nur kurze Zeit war er in Berlin als Rechtsanwalt tätig, dann mußte er erkennen, daß das nicht sein eigentliches Metier war. Dazu merkte Ohrtmann später in einer Kalisch gewidmeten Gratulationsadresse an: "Mit der Juristerei ist es nichts Rechtes, man kann sich bei diesem Juristen [...] nicht recht vorstellen, daß er die Sache Müller contra Schulze so wichtig nimmt, daß er der obsiegenden oder der unterliegenden Partei deshalb noch Geld abnehmen könnte. Aber selbstverständlich ist, daß er auch auf den Gedanken kommt, wer denn in den Streitereien der Völker, deren Menschen und deren Sprachen er liebt, denn eigentlich recht haben möge." [8]

Ein "Skandinavien-Schwärmer"

Der rede- und schreibgewandte Kalisch, der sechs Fremdsprachen beherrschte, darunter auch die skandinavischen, war ein "Nordland-Mensch", seine "Skandinavien-Schwärmerei" im Kreise seiner Freunde bald schon sprichwörtlich. [9] Er mischte sich noch zu seiner Studentenzeit publizistisch in die Diskussion um die aus dänischer Sicht außerordentlich repressiven "Köller-Politik" [10] der preußischen Provinzialverwaltung ein und nahm als genereller Verfechter von Minderheitenrechten vehement Partei für die dänische Bevölkerung in dem nach dem deutsch-dänischen Krieg von 1864 von Preußen einverleibten Nordschleswig.

Von 1911 bis 1914 lebte er in Kopenhagen, erkundete von dort aus die dänischen Regionen, unternahm zahlreiche Reisen durch Norwegen und Schweden und fand sich zunehmend angezogen von der skandinavischen Lebensform und Kultur. Im Gegenzug verstärkten sich seine Vorbehalte gegen den engstirnigen Nationalismus und Chauvinismus. Er empfand sich als Weltbürger - offen für fremde Kulturen. Dabei kam ihm seine Sprachbegabung besonders zustatten: "Fremde Sprachen führen sein Interesse zu fremden Menschen." [11]

Alle Bestrebungen um Befriedung und Ausgleich zwischen Deutschland und seinen Nachbarn wurden mit einem Schlage zunichte gemacht, als am 1. August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und Soldaten ins Feld zogen, um für das Großmachtstreben Deutschlands zu kämpfen. Kalisch wurde an die Westfront geschickt und kam in Frankreich und Belgien zum Einsatz. Schließlich wurde er nach Berlin abkommandiert, um dort im Kriegspresseamt als Dolmetscher tätig zu sein.

Körperlich zwar unversehrt, aber durchdrungen von der Erkenntnis, daß die "Ehrfurcht vor der Heiligkeit des menschlichen Lebens" [12] absolute Priorität habe, überstand er den ersten großen Waffengang dieses Jahrhunderts und sah von nun an seine Lebensaufgabe darin, den Krieg zu bekämpfen, egal, welchen Zwecken er auch diente. Er beschwor die absolute Gewaltfreiheit und engagierte sich mit aller Kraft in der Friedensbewegung, in der seine Stimme zunehmend an Bedeutung gewann.

Dr. Hans Wehberg [13], Professor des Völkerrechts in Genf und Herausgeber der pazifistischen Zeitschrift Die Friedens-Warte, würdigte Kalisch später als einen "der aktivsten deutschen Pazifisten" und "verdienten Vorkämpfer [...] im Dienste der Friedensbewegung". [14] Zwar beanspruchte sein - natürlich ehrenamtlicher - Friedenseinsatz fast seine ganze Kraft, so daß viele Arbeiten dafür in die Abend- und Nachstunden fielen, seinen Lebensunterhalt bestritt er als freier Schriftsteller und als Redakteur der Textil-Zeitung in Berlin. Diese soziale Absicherung erlaubte es ihm, eine Familie zu gründen: Am 9. September 1922 schloß er die Ehe mit Erna Schröder, geb. am 26. Mai 1889 in Berlin. Am 21. Juli 1925 wurde ihre Tochter Helga geboren.

Unklar ist das Verhältnis der Kalischs zum Judentum. Vermutlich gehörten sie keiner jüdischen Gemeinde an. Zumindest werden sie im "Jüdischen Adressbuch für Gross-Berlin" [15] von 1931, das sich wohl auf Material von jüdischer Seite stützt, nicht erwähnt. Oder sie waren - wie es bei überzeugten Pazifisten häufiger der Fall war - konfessionslos. Auch eine parteipolitische Zuordnung ist nicht eindeutig möglich. Arnold Kalischs Präferenzen lagen - bei aller Distanz zu Parteiorganisationen überhaupt - im linken Spektrum, vor allem bei den Sozialdemokraten. Denn "ohne weiteres ist klar, daß die Parteien der Rechten" für den Anhänger der Friedensbewegung "nicht existieren". [16] Rassistischem Gedankengut hielt er entgegen: "Der Mensch entstammt keinem Gestüt." [17] Der Ausdruck "Rasse" im Zusammenhang mit Menschen war ihm zuwider.

SPD - "Schmerzenskind" der Pazifisten

Die SPD galt ihm als "Schmerzenskind" der Pazifisten: "Unter allen Parteien ist für den Pazifisten die Sozialdemokratische Partei das Schmerzenskind. Welch schöne Anlagen hatte nicht dies Kind! Welche Taten versprach nicht der Jüngling, um dann unter energischer Ueberspringung des Mannesalters rasch zu vergreisen! Diese Partei, die im Kaiserreich jeden Militäretat ablehnte, nimmt jetzt jeden Militäretat an; denn sie kämpft nicht gegen, sondern 'um' die Reichswehr. Sie will sie also erhalten. Sie ist eine Militärpartei geworden. Jedoch für den, der nach staatspolitischer Orientierung verlangt, indem er davon ausgeht, daß in den nächsten vier Jahren im Reichstage über Weltanschauungen nicht entschieden wird, sondern über dringliche politische Tagesfragen - für ihn sei gesagt, daß die Partei stets ehrlich und anständig um die Völkerversöhnung bemüht ist, und daß sie nebst ihrem Anhängsel dem Reichsbanner innerhalb des immer schärfer in Deutschland hervortretenden Gegensatzes zwischen faschistischen und antifaschistischen Kräften vielleicht der einzige kompakte Block ist, an dem die Wogen einer faschistischen Sturmflut zerschellen können." [18]

Die von ihm selbst in der Friedensfront gestellte Frage "Wen wählen wir zum Reichstag?" beantwortete er für sich mit einem Bekenntnis zur Sozialdemokratie: "Ich werde [bei der Reichstagswahl vom 14.9.1930; d. Verf.] SPD wählen." [19] Für die Feststellung des deutschen Konsulats in Apenrade vom 29. März 1939 im Zusammenhang mit dem Ausbürgerungsverfahren gegen den Dänemark-Emigranten, Kalisch sei "früher preußischer S.P.D.=Abgeordneter" [20] gewesen, ließ sich keine Bestätigung finden. [21]

Die Politik der Kommunisten sei für wahre Pazifisten nicht akzeptabel, konstatierte Kalisch in seiner "Parteienkritik" weiter und lieferte dafür eine differenzierte Begründung: "Den einen gelten sie als Pazifisten, den anderen als Militaristen. Nämlich ihr Endziel ist ein pazifistisches: der befriedete Weltstaat. Aber sie streben dahin durch das Mittel des Militarismus, und es ist Glaubenssache, also durch Zureden unbeeinflußbar, ob man es für möglich oder unmöglich hält, daß ein Ziel durch ihm wesensungleiche Mittel tatsächlich jemals wird erreicht werden können. Die Kriegsdienstverweigerung ist das rote - Verzeihung! - das weiße Tuch für den echten Kommunisten. Denn sie wollen den Krieg nicht verhindern, sondern ihn in den Bürgerkrieg überführen, also ihn verdoppeln. Auch werden nirgends in der Welt die Kriegsdienstgegner so schmählich unterdrückt, wie in Sowjetrußland. Das bloße Endziel wird allmählich ein sehr dünner Pazisfismus." [22]

Unterstützt von seiner Ehefrau, die selbst aktiv in der Friedensbewegung mitarbeitete [23], entfaltete Arnold Kalisch eine Vielzahl von öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten, wobei er sich vor allem der Verbreitung des Gedankens der Kriegsdienstverweigerung widmete. In Berlin organisierte er mit dem nach dem Ersten Weltkrieg von linksrepublikanischen Intellektuellen gegründeten antimilitaristischen "Friedensbund der Kriegsteilnehmer" (FdK), in dem sich ehemalige Kriegsteilnehmer ohne Unterschied der parteipolitischen Zugehörigkeit und des Dienstgrades als Protagonisten des Weltfriedensgedankens zusammenfanden, große öffentliche Aufklärungsveranstaltungen. [24]

Von 1922 bis 1933 prägte er als Vorstandsmitglied wesentlich die Arbeit der Berliner Ortsgruppe der "Deutschen Friedensgesellschaft" (DFG), vor allem in Jahren der Weimarer Republik die mitgliederstärkste und damit bedeutendste pazifistische Organisation in Deutschland. [25] Den "Bund der Kriegsdienstgegner" (BdK), eine Vereinigung jener radikalen Pazifisten, die jeden direkten und indirekten Kriegsdienst ablehnten und bekämpften [26], vertrat Kalisch im "Deutschen Friedenskartell" (DFK), dem im Jahre 1928 22 Verbände mit zusammen etwa 100.000 Mitgliedern angeschlossen waren. [27] An der DFK-Spitze stand zeitweilig der Historiker, liberale Politiker und Friedens-Nobelpreisträger von 1927, Ludwig Quidde [28], mit dem Kalisch eng zusammenarbeitete.

Publizistisch vertrat Arnold Kalisch die Thesen der Friedensbewegung und der Kriegsdienstverweigerer offensiv in zahlreichen einschlägigen Blättern - etwa in der Kulturwehr, dem Organ des "Verbandes der nationalen Minderheiten Deutschlands", in der Zeitung Das Andere Deutschland (Untertitel: "Für entschiedene republikanische Politik / Keiner Partei dienstbar"), in der Friedens-Warte ("Blätter für internationale Verständigung und zwischenstaatliche Organisation") und in der Deutschen Zukunft.

Diese "Halbmonatszeitschrift der norddeutschen Friedensbewegung" (1925) war im Juni 1924 von der Flensburger Ortsgruppe der Deutschen Friedensgesellschaft mit dem programmatischen Titel Die Brücke gegründet worden. Mit ihr wollte die örtliche Friedensbewegung eine "Brücke [...] schlagen zwischen Deutschland und Dänemark-Skandinavien" [29] und zur Aussöhnung zwischen Deutschen und Dänen im Grenzgebiet beitragen, dessen Klima durch den Abstimmungskampf von 1920 nachhaltig vergiftet worden war.

Doch stieß die Flensburger DFG-Ortsgruppe mit ihrem ambitionierten Zeitungsprojekt bald an die Grenzen ihrer Möglichkeiten, wie Johann Ohrtmann, Mitinitiator dieses Blattes und seit 1927 Schriftleiter des inhaltlich und optisch aufgewerteten Nachfolgezeitung Deutsche Zukunft, später einräumte: "Dieser Titel ['Die Brücke'] stammte noch von mir - Schleswig als Brücke zwischen Deutschland und dem Norden war damals ein neuer Begriff, heute ist er eine Selbstverständlichkeit und eigentlich schon eine Banalität geworden. Die Zeitschrift wurde in einer kleinen Druckerei [Joh. Hoops in Flensburg, Südermarkt 5; d. Verf.] hergestellt, doch sie war ein ganz dürftiges Blättchen geworden - inhaltlich uninteressant und ungeschickt redigiert. [...] Die Flensburger DFG konnte das Blatt [...] weder materiell noch geistig tragen, und [der Kieler Arzt, Politiker und Publizist Dr. Johannes] Leonhart versuchte nun, etwas daraus zu machen." [30]

Unter der Regie von Leonhart, der zunächst noch an dem alten Titel Die Brücke [31] festhielt, bekam das Blatt zwar einen professionelleren Anstrich, doch inhaltlich genügte es nicht völlig den Ansprüchen fortschrittlicher Vertreter der Arbeitsgemeinschaft Schleswig-Holstein der Friedensbewegung, deren offizielles Organ die Zeitung mit dem Wechsel nach Kiel geworden war. Zu den Kritikern gehörte auch Ohrtmann, der daraufhin von Leonhart gebeten wurde, selbst die Redaktionsleitung zu übernehmen. "Nach einigen Bedenken" sagte er unter einem Vorbehalt zu: "Ich wollte nicht ausdrücklich als Schriftleiter genannt werden." [32]

Als neuen Verleger und Drucker konnten Leonhart und Ohrtmann den Heider Druckereibesitzer Paul Riechert [33] gewinnen, der selbst "engagiert links eingestellt und nicht in erster Linie darauf bedacht [war], einen Gewinn aus diesem Druckauftrag zu ziehen". [34] Die wirtschaftliche Extistenzgrundlage des Unternehmens bildeten in erster Linie Akzidenz-Druckaufträge von Privat- und Geschäftskunden aus Heide und der Umgebung. [35] In der Ausgabe der Deutschen Zukunft (DZ) vom 1. Oktober 1927 wurde den "werten Abonnenten und Mitgliedern" mitgeteilt, daß "mit der heutigen Nummer [...] der Verlag der DZ in die Hände unseres Gesinnungsfreundes Paul Riechert in Heide in Holstein über[geht]. Der neue Verlag wird es als seine erste Aufgabe betrachten, den idealen Gedanken der Völkerversöhnung zu hegen und zu pflegen, die Kriegstreibereien erzreaktionärer Nationalisten und Militaristen jedoch mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen und das wahre Gesicht der Kriegsfurie der Menschheit zu enthüllen." [36] Zu dem Mitarbeiterstamm gehörten angesehene Publizisten wie Friedrich Bloh, Richard N. Graf von Coudenhove-Kalergi, Berthold von Deimling, Franz Carl Endres, Wilhelm Julius Foerster, Richard Grelling, Lilli Jannasch, Heinrich Kanner, Johannes Leonhart, Erich Lüth, Ludwig Quidde, Heinrich Prinz zu Schoenaich-Carolath, Hans Schwann und Arnold Kalisch.

Kalischs Sprachrohr: Die Friedensfront

Kalisch konnte bald sein eigenes publizistisches Feld bestellen: Mit der sechsten Ausgabe vom 15. Dezember 1929 übernahm er die Schriftleitung der Friedensfront, einem eigenständigen Beiblatt von Ohrtmanns Deutscher Zukunft. Diese Zeitung - offizielles Organ des "Bundes der Kriegsdienstgegner / Deutscher Zweig der War Resisters International" - sah ihre Hauptaufgabe darin, den Gedanken der Kriegsdienstverweigerung als eine politische und moralische Notwendigkeit zu propagieren. [37] Ihre Intention war, "die vorhandenen Streiter zu stärken, anzufeuern, zusammenzuhalten und in nützlicher Weise auszurüsten, Unentschiedene zu gewinnen, Gegner zu überzeugen, zur Mehrung und Festigung der Reihen". [38]

Die Zusammenarbeit zwischen beiden - ehrenamtlich tätigen - Redaktionsleitern "entwickelte sich gut; wir tauschten oft Manuskripte aus und haben uns auch gegenseitig in Berlin-Hermsdorf und [...] in Lägerdorf besucht". [39] Auch Kalisch scharte eine Reihe von gleichgesinnten Autoren aus dem In- und Ausland um sich, darunter Franz Rona (Österreich), Wilfried Wellock (England), William Pickens (USA), Pierre Doyen (Frankreich), Marcel van Dienst (Belgien), Eugen Relgis (Rumänien), Edvin Stenwall (Finnland), Mathias Sörensen (Dänemark), Carl Lindhagen (Schweden), Leonhard Ragaz (Schweiz) und Bernard Szarlitt (Polen) sowie Walter Fabian, Otto Lehmann-Rußbüldt, Theodor Lessing, John Otto Reinemann, Magnus Schwantje, Karl Heinz Spalt, Oskar Stillich und Helene Stöcker aus Deutschland.

Viele Leitartikel stammen aus Kalischs Feder selbst. Dabei plädierte er vehement für eine Politik der Abrüstung und des Ausgleichs der Weimarer Republik und setzte sich nachdrücklich für die Rechte von nationalen Minderheiten ein, in seinen Augen primär eine Angelegenheit der jeweiligen Innenpolitik: "Die Frage der nationalen Minderheiten geht den Pazifismus sehr nahe an, weil es äußerst wichtig ist, ob die große Masse derjenigen Menschen, die durch ihr Schicksal mit zwei Kulturkreisen - den ihrer Sprache und den ihrer Staatszugehörigkeit - in Verbindung stehen, ein Bindemittel sind, das die Völker zusammenführt, oder ein Sprengstoff, der explosivbereit ist. Es gibt in Europa etwa 30 Millionen solcher Menschen, was beinahe an die Einwohnerzahl eines so großen Staates wie Polen heranreicht. Wir ziehen daraus die Lehre, daß die Völkerversöhnung nicht nur zwischen den Staaten, sondern sehr oft auch zwischen den verschiedenen Völkern eines Staates erstrebt werden muß, und zwar gleichzeitig aus Gründen des inneren und äußeren Friedens. [...]

Unser Interesse an den nationalen Minderheiten ist ein doppeltes; einmal wegen der zahlreichen Deutschen in anderen Staaten und zum anderen Male wegen der anderssprachigen Staatsbürger unseres Landes. Das stellt uns vor die Frage, ob wir unsere völkerversöhnende Aufgabe innerhalb unserer sprachlichen Volksgemeinschaft oder innerhalb unserer Staatszugehörigkeit oder in beiden Kreisen zu erfüllen haben. Die Antwort lautet: Wenn wir nicht heillose Verwirrung anrichten wollen, müssen wir die Minderheitenfragen als innerpolitische und nicht als außerpolitische auffassen." [40] In der "heutigen Staatenwelt" seien die Minderheitenfragen nicht lösbar, sondern nur in einer "höheren politischen Form": "Das können aber nur die Vereinigten Staaten von Europa sein."

Mit Blick auf die deutsch-dänische Grenzziehung von 1920 warnte er vor revisionistischen Bestrebungen ("Auf beiden Seiten dieser Grenze gibt es Nationalisten, die wegen einer geringfügigen Verschiebung der Grenzpfähle es in den Kauf nehmen würden, daß die Welt noch einmal in Brand gerät") und würdigte als beispielhaft eine Übereinkunft deutscher und dänischer Sozialdemokraten, die sich gegenseitig dazu verpflichtet hätten, "jederzeit, sei es als regierende Partei, sei es als Opposition, unverbrüchlich daran [festzuhalten], daß die Grenze so bleibt, wie sie einmal ist, gleichzeitig aber dafür einzutreten, daß in jedem der beiden Länder die nationale Minderheit volle Freiheit in kulturellen Angelegenheiten erhält". [41]

Arnold Kalisch beschränkte sich nicht nur auf seine publizistischen Aktivitäten, sondern entwickelte auch konkrete Initiativen, die seinem besonderen Anliegen - der deutsch-dänischen Aussöhnung - dienten, oder beteiligte sich daran. So nimmt es nicht Wunder, daß er nicht nur dem an alle Friedensfreunde ergangenen Appell, zum "Dänisch-deutschen Friedenstag" am 28./29. Mai 1930 nach Kopenhagen zu reisen [42], wie selbstverständlich folgte, sondern auch bereit war, an der Konferenz als Referent und Diskussionspartner aktiv mitzuwirken. Wie Ohrtmann später in seinem Bericht über die Tagung, an der "etwa 80 - 100 pazifistische Kämpfer" teilnahmen, hervorhob, seien die meisten Reden auf Deutsch gehalten worden; daher habe "unser Freund Kalisch" mit seinem tadellosen Dänisch stark beeindruckt. [43]

Die in Kopenhagen versammelten Friedenskämpfer setzten vor allem auf die Jugend und loteten Möglichkeiten eines deutsch-dänischen Kinderaustausches und der Bildungsarbeit an den Schulen im Dienste der Völkerverständigung aus. Konkret vereinbart wurde noch für das Jahr 1930 der Austausch von "etwa 350 Kindern von jeder Seite".

Der in die Zukunft gerichteten Friedensarbeit diente auch ein großes Jugendlager, das vom 25. Juli bis zum 3. August 1932 auf der in der Flensburger Förde auf dänischer Seite gelegenen Kleinen Ochseninsel stattfand. Vorträge und Diskussionen über Fragen des Pazifismus und über die Rolle von nationalen Minderheiten standen dabei im Vordergrund. Kalisch, der vor den jungen Leuten aus vielen Ländern über das Thema "Weshalb Kriegsdienstgegner?" referierte, "bewegte sich auf einem Boden, der den aktiv in der [Friedens-]Bewegung Stehenden vertraut war, den Neulingen jedoch erwünschte Klarheit schaffte über die religiösen, ethischen und politischen Untergründe [sic] der Kriegsdienstverweigerung sowie über die verschiedenen äußeren Erscheinungsformen, die diese in der Welt angenommen hat". [44]

Zu diesem Zeitpunkt hatten Kalisch angesichts der fortschreitenden Militarisierung bereits starke Zweifel am ehrlichen Friedenswillen Deutschlands erfüllt. "Wir wollen nicht Leichen auf Urlaub sein!" [45] betitelte er einen Leitartikel, der in Form eines an den SPD-Reichstagsabgeordneten Heinrich Ströbel [46] gerichteten Offenen Briefes abgefaßt war. Das nächste Jahr - 1932 - stelle "unser Land und die ganze Welt vor eine Schicksalswende". Denn der für den Dezember 1932 geplanten Internationalen Abrüstungskonferenz in Genf werde es beschieden sein, "den unerträglichen Spannungen der neuen Vorkriegszeit ein Ende zu setzen". Werde Genf einen Mißerfolg bringen, "so sind wir alle Leichen auf Urlaub".

Die Zeichen standen schlecht. Deutschland fühlte sich wieder erstarkt: "Man will wieder die alte Militär- und Kolonialmacht, und zwar, soweit es angeht, in den alten Grenzen werden." [47] Nachdem der neue Reichskanzler Franz von Papen sein Kabinett der Rechtskoalition vorgestellt und die Auflösung des Reichstages beantragt hatte, sah Kalisch deutlich das Ende der Weimarer Republik und den Anfang einer Nazi-Diktatur vor Augen: "Ich bin pessimistischer als das Gros der Leute, indem ich eine Naziregierung nicht als vorübergehend, sondern als Barbarisierung von 3 Generationen betrachte", schrieb er am 3. Juni 1932 seinem Freund und Mitstreiter Johann Ohrtmann. [48]

Etwa ein halbes Jahr später hatte Hitler die Macht in Deutschland übernommen, was bei Kalisch zu "einer Art Lähmung" führte. [49] Wie er Ohrtmann weiter mitteilte, habe er sich am nördlichen Ufer der Flensburger Förde, in unmittelbarer Nähe der Ochseninsel, auf der sich einst Friedensfreunde aus aller Herren Länder zum Meinungsaustausch getroffen hatten, eine "Liliputklitsche" gekauft - "teils Sommerlust, teils Alterssitz, teils Hitlerflucht. Na, wir werden sehen."

Die Flucht nach Dänemark

Dieses Häuschen in Rönshoved sollte schon bald zum "Flüchtlingsheim" werden. Doch zunächst zauderte Kalisch noch. Wahrscheinlich war es eine polizeiliche Haussuchung in seiner Vier-Zimmer-Wohnung in Berlin-Schmargendorf - die Familie war in der Zwischenzeit in die Hundekehlstraße 13 umgezogen - , die zur überstürzten Flucht nach Dänemark führte. Sie ließ Möbel, Geschirr und Bücher zurück und reiste mit nur wenigen Koffern Anfang April 1933 [50] mit der Eisenbahn [51] zunächst nach Flensburg.

Offenbar aus Furcht, auf der Fahndungsliste der Gestapo zu stehen, entschied sich Kalisch zum illegalen Grenzübertritt. Der Fischer und Nazi-Gegner Paul Andresen (genannt "Schrober") [52] fand sich bereit, "den von der Gestapo gesuchten jüdischen Sprachwissenschaftler Dr. Kalisch mit Frau und Tochter" [53] an Bord seines kleinen Kutters zu nehmen, um sie nach dem Einbruch der Dunkelheit an den auf der Förde patroullierenden Kontrollbooten vorbei nach Dänemark zu bringen.

Der Start verzögerte sich, da Andresen mit seinem Schiff bei dem Anlegemanöver an einem privaten Bootssteg zwischen Fahrensodde und Solitüde bei niedrigem Wasserstand auf Grund lief. Dennoch gelang es den Flüchtlingen, an Bord zu gehen, und dem Fluchthelfer nach mehreren Versuchen, das Fahrzeug freizubekommen. Das - schließlich geglückte - Fluchtunternehmen blieb für den Fischer nicht ohne Folgen, auch wenn Grenzpolizei und Gestapo ihm eine direkte Beteiligung daran nicht nachweisen konnten. Nach Angaben seines Sohnes Axel Andresen hat die SA den Kutter so stark demoliert, daß sein Vater eine Zeitlang nicht mehr zum Fischen herausfahren konnte und wieder in seinem alten Beruf als Segelmacher arbeiten mußte. [54]

Reihenweise wurden von den neuen Machthabern oppositionelle Zeitungen verboten. Am 23. Mai 1933 kam auch für die Deutsche Zukunft nebst Beiblatt Die Friedensfront das endgültige Aus in Form eines vom Regierungspräsidenten in Schleswig verfügten Verbots, das sich auf die - wie es in dem amtlichen Schreiben heißt - "Verordnung des Herrn Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28.2.1933" stützte. [55] Noch in der Ausgabe vom 15. Februar 1933 der Deutschen Zukunft hatte Ohrtmann den gerade an die Macht gekommenen Adolf Hitler heftig angegriffen, indem er in seinem Artikel "Könnte es ihm gelingen?" zu folgendem Resümee gelangte:

"Kann man einem solchen Menschen das deutsche Volk anvertrauen? Ein verantwortungsbewußter Deutscher darf es nicht. Er müßte vielmehr seine letzte Kraft daran wenden, sein Volk vor jener Katastrophe zu bewahren, die unweigerlich bei dem Zusammenprall Hitlerscher Ansichten mit der Wirklichkeit entstehen wird. Jener Wirklichkeit, die sich nicht hängen und köpfen läßt, die aber als blindes Geschick jene Völker vernichtet, die sie nicht meistern können, weil sie sie nicht erkennen und verstehen dürfen." [56]

Der Emigrant Kalisch - seiner wirtschaftlichen Existenzgrundlage als zwar mäßig, aber dennoch regelmäßig entlohnter Redakteur der Textilzeitung beraubt - lebte fortan immer in schwierigen finanziellen Verhältnissen. Aus privatem Sprachunterricht, den er entweder in einem im nahegelegenen Graasten (Gravenstein) angemieteten Zimmer oder in seinem neuen Zuhause in Ranshöved erteilte, bezog er nur "ein geringes Einkommen". [57]

In seiner Not wandte er sich hilfesuchend an ehemalige Mitstreiter aus der Friedensbewegung und fand von dieser Seite auch wiederholt Unterstützung. Am 1. Oktober 1938 offenbarte er dem in Genf lebenden Friedens-Nobelpreisträger Ludwig Quidde, finanziell völlig am Ende zu sein: "Den Oktober über bin ich einfach blank; im Moment sitzen wir mit ca. Kr. 4,00 (vier null null) da, und nach allen Seiten hin muß alles Mögliche bezahlt werden." [58]

Selbst von seinem Exil aus mußte Kalisch - formell bis zu seiner Ausbürgerung am 14. November 1939 ein sogenannter Auslandsdeutscher - Auseinandersetzungen mit deutschen Behörden führen. Als im Reichsgesetzblatt vom 18. August 1938 die "Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen" veröffentlicht worden war und die Presse über den entsprechenden Runderlaß vom 23. August 1938 [59] berichtet hatte, empörte sich der jüdische Flüchtling in einem Brief an das "Deutsche Konsulat in Aabenraa" (Apenrade):

"Ich betrachte es als nicht der Würde meines Volkes angemessen, dass ehrwürdige Namen unserer nationalen Geschichte wie Israel und Sara nach Art eines Viehstempels massenweise ausgestellt werden. Sollte es in Ausführung des Gesetzes beabsichtigt sein, mir und meinen Angehörigen ausser den innerhalb der Familie selbst gegebenen Namen zusätzliche Namen in die Pässe einzutragen, so werde ich solche Dokumente als für mich und die Meinigen ungültig ablehnen und sie mit dem Ersuchen um Richtigstellung zurücksenden." [60]

Mit der Handhabung dieses neuen antisemitischen Gesetzes hatte - aus ganz anderen Gründen - auch das deutsche Konsulat in Apenrade seine Probleme, das im Auswärtigen Amt in Berlin nachfragte, ob die Vorschrift über die Zwangsnamen auch bei der Ausstellung von Pässen anzuwenden sei. Zugleich setzte es sich mit der Gestapo in Verbindung, um die Frage einer Ausbürgerung der Kalischs überprüfen zu lassen, "da die Eheleute K. sich in der pazifistischen Bewegung an führenden Stellen betätigt haben". [61] Die Pässe des Ehepaars wurden am 29. Oktober 1938 auf Empfehlung der Gestapo befristet auf sechs Monate verlängert - ohne die als diskriminierend empfundenen Ergänzungen der Vornamen.

Offenbar wollte Kalisch die deutschen Behörden provozieren, um das Ausbürgerungsverfahren gegen sich und seine Ehefrau noch zu beschleunigen, als er vor Ablauf dieser Frist eine erneute Paßverlängerung beantragte und Dokumente einreichte, die in den Augen des Konsulats gezielt "besudelt" worden waren: "In beiden Pässen ist auf dem Umschlag das Hoheitszeichen mit Tinte überschmiert, so daß das Hakenkreuz unsichtbar geworden ist. Ferner ist in beiden Pässen auf der ersten Seite das 'J' und das Hoheitszeichen mit Tinte übergossen. Es ist nicht daran zu zweifeln, dass dies von Kalisch mit voller Absicht unternommen ist, um seinem Hass gegen Deutschland Ausdruck zu verleihen. Ein Zufall durch Umfallen eines Tintenfasses ist ausgeschlossen, da die Beschmutzung in beiden Pässen an gleicher Stelle geschehen ist. [...] Durch die Besudelung sind [...] die Pässe ungültig geworden." [62]

Von den Apenrader Diplomaten um eine Stellungnahme ersucht, versicherte Kalisch, die Tintenflecke seien auf einen "Schreibtischunfall" zurückzuführen. Die Aufforderung des Konsulats an das Auswärtige Amt, das gegen die Eheleute eingeleitete Ausbürgerungsverfahren auch auf die Tochter Helga auszudehnen, wurde untermauert mit einem Spitzelbericht der Gestapo, offiziell bezeichnet als "Auskunft eines Vertrauensmanns": "Er [Kalisch] ist hier als eine üble Erscheinung allerschlimmster Sorte bekannt. Er soll gleich nach der Machtergreifung 1933 aus Deutschland ausgerückt sein und er hat auch wohl Ursache dazu gehabt. Schon im Jahre 1932 hat er auf einem internationalen sozialistischen Treffen auf der Ochseninsel in der Flensburger Förde Reden gehalten und dabei Deutschland heruntergemacht. [...] Weiter weiß ich, daß amtliche deutsche Stellen nach ihm fahnden aus verschiedenen Gründen. Er bewohnt ein kleines Sommerhäuschen in Randershof, erhält oder hat erhalten Zuschüsse vom dänischen Zionistenfonds. In Grafenstein erteilt er Sprachunterricht in deutsch, englisch, französisch u.s.w. Er soll aber nur 2 Schüler haben." [63]

Am 14. November 1939 ließ der Reichsminister des Inneren im Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger Nr. 167 eine Liste mit 166 Namen veröffentlichen - allesamt Personen, denen "auf Grund des § 2 des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14. Juli 1933" [64] die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen worden war, darunter auch Dr. Arnold und Erna Kalisch sowie ihre Tochter Helga. Die Aberkennung der Staatsbürgerschaft wurde mit dieser Veröffentlichung wirksam. Die Kalischs waren auf diese Weise zu Staatenlosen geworden.

Angesichts der Kriegsgebärden Nazi-Deutschlands hatte Kopenhagen wohl in erster Linie den Schutz der deutschen Emigranten im Blick, als die dänischen Behörden diesen Personenkreis aufforderten, den grenznahen Raum zu verlassen und sich weiter im Binnenland ein neues Quartier zu suchen. [65] Die Familie Kalisch fand in Vejle eine Wohnung. Am 9. April 1940 wurden die Flüchtlinge von den deutschen Truppen, die Dänemark trotz des bestehenden Nichtangriffspakts zwischen beiden Staaten handstreichartig besetzten, wieder eingeholt. Die militärischen Übermacht der Besatzer realistisch einschätzend, stellte sich die damals sozialdemokratisch geführte dänische Regierung auf eine Zusammenarbeit mit der deutschen Seite ein. Auf diesem Wege gelang es Kopenhagen auch, daß manche Festnahme revidiert und mancher Flüchtling freigelassen wurde.

Im Februar 1943 wurde Dr. Kalisch auf Betreiben der deutschen Besatzer und in Anwesenheit der Gestapo von einem dänischen Kriminalpolizisten in Vejle verhaftet. "In der Haft war er mein bester Freund, hat mir bedeutende Vergünstigungen verschafft und meinem Verteidiger und mir bedeutende Tips gegeben", würdigte Kalisch später die Doppelrolle dieses dänischen Polizisten. [66] Berlin hatte eigens einen Gestapomann nach Kopenhagen geschickt, um dort, in der Polizeistation, Kalisch stundenlang zu verhören, wobei der dem Verhafteten zugetane dänische Beamte "überwachte, dass der dänische Justizstandard gewahrt blieb". Genau 276 Tage verbrachte Kalisch in der Haft, bis ihm ebenso wie seiner Ehefrau und der Tochter im Zusammenhang mit der großen Rettungsaktion für die Juden in Dänemark Anfang Oktober 1943 die Flucht nach Schweden glückte. Innerhalb weniger Tage gelang es couragierten Dänen, ihre gefährdeten Landsleute und zahlreiche weitere Juden, die - wie Kalisch - nach 1933 vor Hitler aus Deutschland nach Dänemark geflüchtet waren und dort im Exil lebten, über den Öresund ins neutrale Schweden und damit vor der drohenden Deportation in Sicherheit zu bringen. [67]

Nach dem Kriege kehrten Arnold und Erna Kalisch nach Dänemark zurück. Ihre Tochter - sie war von Beruf Krankenschwester - hatte am 24. Februar 1945 in Stockholm den Dänen Erik Christensen, der ebenfalls vor den Nazis geflüchtet war, geheiratet und in Schweden eine eigene Familie gegründet. Die Eltern bezogen wieder ihr "Fredshjem" an der Flensburger Förde mit freiem Blick auf die Kleine Ochseninsel, auf der einst auf internationalen pazifistischen Treffen der Weltfriede beschworen worden war. Jetzt aber lag ganz Europa in Trümmern.

Das Schreckensbild, das Kalisch 1931 gezeichnet hatte für den Fall, daß - wie schließlich geschehen - die für 1932 eingerufene Genfer Abrüstungskonferenz scheitern würde, war grausame Wirklichkeit geworden. Barer Unsinn sei es, "zu planen, zu sparen, zu siedeln, Kinder großzuziehen, weil das alles ja doch zerstört werden wird, ehe es noch recht leben darf". [68]

Verarmt und vergessen starb Dr. Arnold Kalisch im Alter von 75 Jahren am 29. Oktober 1957 im Krankenhaus von Sonderburg. Er wurde am 1. November 1957 in Kopenhagen auf dem neuen jüdischen Friedhof mit der Bezeichnung "Mosaisk Vestre Kirkegard" bestattet. [69] Neben seinem Grab wurde auch die Urne seiner am 4. Oktober 1961 in Kopenhagen verstorbenen Frau beigesetzt.

Das Ehepaar Kalisch hat einen gemeinsamen Grabstein; er ist eher klein, besteht aus braun-rotem Granit und trägt im oberen Bereich einen eingemeisselten Davidstern. [70] Die bescheidene Grabstätte wird von der jüdischen Gemeinde betreut.

Anmerkungen

1. Johann Ohrtmann wurde am 18.3.1898 in Flensburg geboren. 1933 wurde er verhaftet und aus dem Schuldienst entlassen. Nach dem Kriege war er als Regierungs- und Schulrat der schleswig-holsteinischen Landesregierung tätig. Er starb am 27.5.1978 in Kiel.

2. Johann Ohrtmann: "Sind Kriege notwendig?", Kiel 1995 (= Veröffentlichungen des Beirats für Geschichte der Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig-Holstein, Band 15), S. 191.

3. Julius H. Schoeps (Hrsg.): Neues Lexikon des Judentums, Gütersloh/München 1992, S. 295.

4. Tycho Brahe wurde am 14.12.1546 in Knudstrup (Schonen) geboren; er starb am 24.10.1601 in Benatky bei Prag.

5. Ohrtmann in seinen Lebenserinnerungen, S. 191: "Er [Kalisch; d. Verf.] hatte in seinem Stammbaum den aus der 'Golem-Sage' bekannten Prager Rabbi Löw."

6. J.O. (d.i. Johann Ohrtmann): Arnold Kalisch - 22. Januar 1932 50 Jahre alt, in: Deutsche Zukunft, Heide 1932.

7. Helmut Donat: Arnold Kalisch - Ein führender Vertreter der historischen Friedensbewegung, in: Grenzfriedenshefte, Flensburg, 4/1983, S. 245.

8. Ohrtmann: Kalisch.

9. Ohrtmann: Kalisch.

10. Benannt nach dem Schleswiger Oberpräsidenten Ernst Matthias von Köller, der in seiner Amtszeit (1897-1901) versucht hatte, mit Zwangsmitteln das Nationalitätenproblem zu lösen.

11. Ohrtmann: Kalisch.

12. Arnold Kalisch: Die mehreren Kriegsdienstverweigerungen, in: Die Friedensfront, Heide, 15.2.1930.

13. Der international hochangesehene Völkerrechtler und erfolgreiche akademische Lehrer Hans Wehberg wurde am 15.12.1885 in Düsseldorf geboren; er starb am 29.5.1962 in Genf.

14. Hans Wehberg: Dr. Arnold Kalisch 50 Jahre alt, in: Die Friedens-Warte, Schweidnitz in Schlesien, XXXII. Jg. 1932, S. 20.

15. Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin, Berlin 1931 (Reprint Berlin 1994).

16. Arnold Kalisch: Wen wählen wir zum Reichstag?, in: Die Friedensfront, Heide, 1.9.1930.

17. Arnold Kalisch: Negergeruch?, in: Die Friedensfront, Heide, 1.2.1932.

18. Arnold Kalisch: Wen wählen wir zum Reichstag?

19. Die SPD kam bei den Wahlen zum 5. Reichstag vom 15.9.1930 auf 24,5 Prozent der Wählerstimmen und errang 143 Mandate, gefolgt von der stark aufkommenden NSDAP, die bereits 18,3 Prozent und 107 Sitze erringen konnte.

20. Schreiben des deutschen Konsulats Apenrade vom 29.3.1939 an das Auswärtige Amt in Berlin, PAAA Inland II A/B 83-76, R 99823.

21. Auch in dem Handbuch "Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867-1933" (Düsseldorf 1995), herausgegeben von Wilhelm Heinz Schröder, wird Dr. Arnold Kalisch nicht erwähnt.

22. Arnold Kalisch: Wen wählen wir zum Reichstag?

23. Erna Kalisch leitete von 1924 bis 1927 und in den Jahren vor 1933 das Sekretariat des "Bundes der Kriegsdienstgegner" (BdK); es befand sich in der Privatwohnung der Familie Kalisch in Berlin.

24. Helmut Donat/Karl Holl (Hrsg.): Die Friedensbewegung - Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz, Düsseldorf 1983, S. 138.

25. Helmut Donat/Karl Holl: Die Friedensbewegung, S. 72.

26. Helmut Donat/Karl Holl: Die Friedensbewegung, S 60.

27. Helmut Donat/Karl Holl: Die Friedensbewegung, S 86.

28. Ludwig Quidde wurde am 23.3.1858 in Bremen geboren. Seit 1901 leitete er die deutsche Delegation auf den Weltfriedenskonferenzen. 1933 flüchtete er vor den Nazis in die Schweiz. Er starb am 5.3.1941 in Genf.

29. Andreas Andersen: Zur Grenzfrage, in: Die Brücke, Flensburg, 1924, erste Oktober-Nummer, Nr. 6.

30. Johann Ohrtmann: "Sind Kriege notwendig?", S. 161f.

31. Mit der ersten Januar-Ausgabe 1925 wurde die Zeitung umbenannt in "Deutsche Zukunft - Halbmonatsschrift der Norddeutschen Friedensbewegung". Redaktion und Geschäftsstelle befanden sich in Kiel, Rosenfelder Straße 5.

32. Johann Ohrtmann: "Sind Kriege notwendig?", S 162.

33. Paul Riechert wurde am 21.12.1874 in Neuhardenberg/Brandenburg geboren. Seine Erlebnisse während des Ersten Weltkrieges machten ihn zum überzeugten Pazifisten. Er starb am 12.7.1951 in Kolding/Dänemark.

34. Johann Ohrtmann: "Sind Kriege notwendig?", S. 164.

35. Gespräch des Verfassers mit Martin Riechert (Kappeln-Ellenberg), einem Sohn Paul Riecherts, am 12.5. 1998.

36. Deutsche Zukunft, Heide 1.10.1927.

37. Helmut Donat/Karl Holl: Die Friedensbewegung, S 145.

38. Warum Friedensfront?, in: Die Friedensfront, Heide 1.11.1929.

39. Johann Ohrtmann: "Sind Kriege notwendig?", S. 164.

40. Arnold Kalisch: Pazifisten und nationale Minderheiten, in: Die Friedensfront, Heide 1.11.1929.

41. Arnold Kalisch: Grenzen, in: Die Friedensfront, Heide 1.12.1929.

42. Dr. Johannes Leonhart (Kiel) wandte sich in der Deutschen Zukunft vom 15.5.1930 an "Alle, die guten Willens sind, an Alle, welche wissen, daß Völkerverständigung und Völkerfreundschaft zu pflegen die wichtigsten Aufgaben sind für jeden, der sein Vaterland liebt", und rief sie dazu auf, sich in großer Zahl an dem deutsch-dänischen Friedenstag 1930 in Kopenhagen zu beteiligen.

43. O. (d.i. Johann Ohrtmann): Vom dänisch-deutschen Friedenstag in Kopenhagen, 28. und 29. Mai 1930, in: Deutsche Zukunft, Heide 15.6.1930.

44. Harold F. Bing: Auf der Kleinen Ochseninsel, in: Die Friedensfront, Heide 15.9.1932.

45. Arnold Kalisch: Wir wollen nicht Leichen auf Urlaub sein!, in: Die Friedensfront, Heide 1.5.1931.

46. Heinrich Ströbel, geb. am 7.6.1869 in Bad Nauheim, war Mitglied der "Deutschen Friedensgesellschaft" und emigrierte nach der Machtübernahme Hitlers 1933 in die Schweiz. Er starb am 11.1.1944 in Zürich.

47. Arnold Kalisch: Warum haben wir noch keinen Krieg?, in: Die Friedensfront, Heide 15.6.1931.

48. Brief von Dr. Arnold Kalisch an Johann Ohrtmann vom 3.6.1932, Privatarchiv K. Rudat (Heide), zitiert nach: Helmut Donat: Arnold Kalisch, S. 247.

49. Brief von Dr. Arnold Kalisch an Johann Ohrtmann vom 27.2.1933, Privatarchiv K. Rudat (Heide), zitiert nach: Helmut Donat: Arnold Kalisch, S. 257.

50. Über den genauen Zeitpunkt der Flucht der Familie herrscht noch Unklarheit. Während Johann Ohrtmann in seinen Lebenserinnerungen ("Sind Kriege notwendig?") berichtet, Anfang Februar 1933 von Kalisch eine Postkarte aus Dänemark mit der Information erhalten zu haben, daß er emigriert sei, nennen die deutschen Behörden im Zusammenhang mit dem nach dem Kriege angestrengten Entschädigungsverfahren den 1.4.1933 als Fluchttag. Eine dritte Version stammt von Gerhard Moltsen, der in seinem Buch "Die Geschichte der Ochseninseln" (Schleswig 1982) schreibt, die dreiköpfige Familie sei in der Nacht zum 10.7.1933 von einem Flensburger Fischkutter über die Förde nach Dänemark gebracht worden. Gegen den von Moltsen erwähnten und von Irene Dittrich (Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945 / Schleswig-Holstein I, Frankfurt/Main 1993) übernommenen Termin spricht der Hinweis von Martin Riechert, daß er nach seinem Grenzübertritt (mit Hilfe eines vom Flensburger Polizeipräsidiums ausgestellten sogenannten "Groschenpasses" für den deutsch-dänischen Ausflugsverkehr) am 28.6.1933 zunächst im Kalisch-Haus unterkommen wollte, es aber bereits besetzt vorfand - von der Familie Kalisch selbst und seinem Vater Karl Riechert. Martin Riechert übernachtete daraufhin beim dänischen Grenzgendarm (Gespräch des Verfassers mit Martin Riechert am 12.5. 1998).

51. Information von Maria von Borries (Bremen) vom 29.4.1998.

52. Gespräch des Verfassers mit Axel Andresen (Flensburg), dem Sohn Paul Andresens, am 26.1.1995.

53. Gerhard Moltsen: Die Geschichte der Ochseninseln, Schleswig 1982, S. 78.

54. Gespräch des Verfassers mit Axel Andresen.

55. Maria von Borries: Der Verleger und Pazifist Paul Riechert, in: Mitteilungen des Beirats für Geschichte der Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig-Holstein, Kiel 1991, Nr. 13, S. 9.

56. Johann Ohrtmann: Könnte es ihm gelingen?, in: Deutsche Zukunft, Heide 15.2.1933.

57. Entschädigungsamt Berlin in seinem Bescheid Nr. 81084 vom 27.1.1956. Im Besitz des Verfassers. Ich danke Martin Riechert (Kappeln) ausdrücklich dafür, daß er mir schriftliches Material zu Kalisch überlassen hat. Martin Riecherts Schwester Emmy Daetz (Flensburg) war mit Kalisch befreundet und dessen Bevollmächtigte in Fragen der Entschädigung.

58. Schreiben von Dr. Arnold Kalisch an Prof. Ludwig Quidde vom 1.10.1938, BAK, Nachlaß Quidde/ 32, zitiert nach: Helmut Donat: Arnold Kalisch, S. 264.

59. Flensburger Nachrichten vom 24.8.1938: "Soweit Juden zur Zeit Vornamen führen, die nicht in den Richtlinien verzeichnet sind, müssen sie vom 1. Januar 1939 ab zusätzlich einen weiteren Vornamen annehmen, und zwar männliche Personen den Vornamen Israel, weibliche Personen den Vornamen Sara."

60. Schreiben von Dr. Arnold Kalisch an das deutsche Konsulat in Apenrade vom 10.9.1938, PAAA Inland II A/B 83-76, R 99823.

61. Schreiben des deutschen Konsulats in Apenrade an das Auswärtige Amt in Berlin vom 12.9.1938, PAAA Inland II A/B 83-76, R 99823.

62. Schreiben des deutschen Konsulats in Apenrade an die Geheime Staatspolizei in Berlin vom 22.3.1939, PAAA Inland II A/B 83-76, R 99823.

63. Schreiben des deutschen Konsulats in Apenrade an das Auswärtige Amt in Berlin vom 29.3.1939, PAAA Inland II A/B 83-76, R 99823.

64. In § 2 dieses Gesetzes heißt es u.a.: "Reichsangehörige, die sich im Ausland aufhalten, können der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt werden, sofern sie durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt zu haben." RGBl. 1933 I, S. 540

65. Information von Martin Riechert.

66. Brief von Dr. Arnold Kalisch an Emmy Daetz (Flensburg) vom 22.7.1951. Im Besitz des Verfassers.

67. Rasmus Kreth/Michael Mogensen: Flugten til Sverige, Kopenhagen 1995.

68. Arnold Kalisch: Wir wollen nicht Leichen auf Urlaub sein!, in: Die Friedensfront, Heide 1.5.1931.

69. Schreiben des Oberrabbinats Kopenhagen an den Verfasser vom 6.2.1996.

70. Information von Erik Henriques Bing (Kopenhagen) vom 22.7.1998.

Im Original enthält der Beitrag acht Abbildungen.


Der Autor: Bernd Philippsen, Jahrgang 1941, lebt in Flensburg und ist Leitender Redakteur beim Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag. Verschiedene zeitgeschichtliche Veröffentlichungen, vor allem zur Geschichte der Juden in Schleswig-Holstein.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 33/34

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