Sigrun Jochims

"Lübeck ist nur eine kurze Station auf dem jüdischen Wanderweg"

Die Situation der Juden in Schleswig-Holstein 1945 - 1950 im Spiegel der Zeitungen Undzer Schtime, Wochnblat und Jüdisches Gemeindeblatt [1]

Vorbemerkung

Angeregt durch eine Ausstellung über das jüdische Leben in Lübeck, die im Frühjahr 1992 im Lübecker Burgkloster gezeigt wurde, begann ich mich mit der Frage zu beschäftigen, ob es in Schleswig-Holstein nach 1945 wieder jüdisches Leben gegeben hat. Bei meinen Nachforschungen stieß ich auf die zwei jiddischen Zeitungen: Undzer Schtime bzw. deren Nachfolgezeitung Wochnblat und das deutschsprachige Jüdische Gemeindeblatt. Die Entstehungsgeschichte dieser Zeitungen und ihre Berichterstattung über die jüdischen Überlebenden in Schleswig-Holstein weckten mein Interesse und ich beschloß, meine Examensarbeit über dieses Thema zu schreiben. Der vorliegende Aufsatz stellt eine erste überarbeitete Zusammenfassung dar und soll die bis dato in der Landesforschung unberücksichtigt gebliebenen Zeitungen als historische Quellen einem breiteren Publikum zugänglich machen. Es freut mich ganz besonders, daß diese Veröffentlichung im Rahmen einer Festschrift für Erich Koch geschieht, da er einer der ersten gewesen ist, die meine Arbeit gelesen haben, und er mich bestärkt hat durch sein Interesse und seine Begeisterung für das Thema. Ich hoffe, Mitte nächsten Jahres meine Doktorarbeit auf breiterer Quellengrundlage vorlegen zu können.

Zur Gliederung

Die Bearbeitung meiner Examensarbeit für den vorliegenden Aufsatz war von folgenden Überlegungen bestimmt: Im Laufe der Recherchen für meine Examensarbeit stellte sich heraus, daß die Kenntnis der größeren politischen Zusammenhänge sowohl für das Verständnis von Genese der Zeitungen und Art ihrer Berichterstattung als auch für die Situation der Juden in der britisch besetzten Zone unerläßlich ist. Deswegen wird auch in diesem Aufsatz zunächst die Besatzungspolitik gegenüber den Juden in der britischen Zone sowie die Haltung der jüdischen Interessenvertretung umrissen. Die zwei jiddischen Zeitungen und das deutschsprachige Gemeindeblatt und ihre jeweilige Berichterstattung über die Situation der Juden in Schleswig-Holstein werden dann wegen des unterschiedlichen Charakters der Zeitungen getrennt behandelt. Da die Blätter Undzer Schtime und Wochnblat mit hebräischen Schriftzeichen gedruckt sind und deshalb für viele Interessierte schwerer zugänglich sein dürften, werden die einzelnen Ereignisse, über die dort berichtet wird, im Unterschied zum Gemeindeblatt ausführlicher dargestellt.

Die britische Besatzungspolitik gegenüber den Juden

Die Haltung der westlichen Alliierten gegenüber den Juden im besetzten Deutschland war zunächst einheitlich: Einzig die Staatsangehörigkeit galt als Grundlage einer kollektivrechtlichen Qualifizierung, Juden bildeten deshalb keine eigene Gruppe. [2] Die amerikanische Besatzungsmacht gab dieses Prinzip in ihrer Zone im August 1945 auf und erkannte die jüdischen Überlebenden vornehmlich ihrer Leiden wegen als besondere Volksgruppe an. Der Historiker Dan Diner bezeichnet dies als "herausragenden Umschlagpunkt jüdischer Geschichte". [3] Die Briten hingegen hielten an der Zuweisung der Juden zu den bestehenden Nationalitäten fest.

Dabei spielten untergeordnet auch folgende Haltungen eine Rolle: Der Widerwille, die Auffassung der Nationalsozialisten von den Juden als nichtassimilierbarer Gruppe zu übernehmen, die Angst vor neuauflebendem Antisemitismus und die Entschlossenheit, eine jüdische Masseneinwanderung in das britische Mandatsgebiet Palästina zu verhindern. [4] Die Historikerin Hagit Lavsky konstatiert darüber hinaus einen latenten Antisemitismus der Briten, der in den oben genannten Haltungen eine rationale Umsetzung gefunden habe. [5]

Aus britischer Perspektive gab es im wesentlichen zwei Gruppen jüdischer Überlebender: die den Briten bzw. der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) unterstellten und in Lagern untergebrachten DPs (displaced persons) und diejenigen Juden außerhalb der Lager, für die in erster Linie die deutschen Behörden zuständig waren.

Unter dem Begriff "displaced person" verstanden die westlichen Alliierten "Zivilpersonen, die sich aus Kriegsfolgegründen außerhalb ihres Staates befinden; die zwar zurückkehren oder eine neue Heimat finden wollen, dieses aber ohne Hilfeleistung nicht vermögen." [6] Zu den DPs zählten ausländische Zwangsarbeiter und ehemalige Konzentrationslagerhäftlinge, aber auch Osteuropäer, die entweder nach Kriegsbeginn im Deutschen Reich ihr Auskommen gesucht hatten oder 1944 vor der sowjetischen Armee geflohen waren.

Die alliierte Politik gegenüber diesen Menschen läßt sich in drei Phasen gliedern: 1. Die Pflege, Wohlfahrt und sogenannte Repatriierung durch die UNRRA 1945-1947. 2. Die Neuansiedlung in anderen Ländern durch die IRO (International Refugee Organisation) 1947-1952. 3. Die Überstellung derjenigen DPs unter deutsche Verantwortung, die weder zur Rückkehr noch zur Ausreise bereit bzw. in der Lage waren. [7]

In der britischen Zone bildeten die jüdischen DPs unter den DPs insgesamt eine verhältnismäßig kleine Gruppe. Der Jahresschlußstand 1946 wies für die britische Zone Deutschlands 324.437 DPs insgesamt auf, Mitte Juni 1946 befanden sich dort 12.277 jüdische DPs [8], die entsprechend ihrer Zugehörigkeit zu den bestehenden Nationalitäten wiederum unterschiedlich behandelt wurden.

Zu den jüdischen DPs stießen im Laufe der Zeit noch einige jüdische Flüchtlinge, die in den britischen Akten "infiltrees" genannt wurden. Diese Menschen kamen erst nach Kriegsende aus Osteuropa in das besetzte Deutschland. Schätzungsweise 30.000 Juden gelangten bis zum Ende des Jahres 1945 in die britischen und amerikanischen Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs. Von April bis November 1946 drängten weitere 98.800 Menschen nach. [9] Antisemitische Gewalt in Polen, insbesondere das Pogrom in Kielce am 4. Juli 1946, dem 41 Menschen zum Opfer fielen, hatte eine jüdische Massenflucht ausgelöst. Unterstützung bei der Flucht leistete vielfach die zionistische Untergrundorganisation "Brichah" (hebr. = Flucht). [10]

Bereits am 5. Dezember 1945 hatten die Briten jüdischen Flüchtlingen untersagt, über Berlin in oder durch die britische Zone zu reisen. [11] Einigen Menschen gelang es, in den DP-Lagern zunächst illegal Aufnahme zu finden und schließlich offiziell den DP-Status zu erhalten. Nach dem 10.August 1946 gab es in der britischen Zone keine Zulassung von Registrierungen zusätzlicher DPs mehr. [12] Eine große Zahl der jüdischen DPs hatte den Wunsch, in Palästina ein neues Leben zu beginnen. Da die Briten aber weiterhin nur eine begrenzte Zahl von Einwanderungszertifikaten freigaben, wählten viele Juden den illegalen Weg, um ihr Ziel zu erreichen. Häufig endete dieser Versuch jedoch in erneuter Gefangenschaft: in britischen Internierungslagern auf Zypern.

Der Begrifflichkeit der britischen Verwaltung weiterhin folgend, setzte sich die Gruppe der jüdischen Überlebenden, die den deutschen Behörden unterstellt waren, zusammen aus

- Juden mit deutscher bzw. ehemals deutscher Staatsangehörigkeit, die als Deutsche galten

- "infiltrees", die nicht als DPs registriert worden waren, und

- ehemaligen DPs, die ihren Wohnsitz ab dem 1. Juli 1946 außerhalb der DP-Lager genommen hatten. Ihre Zahl betrug 1947 7.000, zwei Drittel davon waren Juden deutscher Herkunft. [13]

Für die Briten erschien eine Integration dieser Menschen, insbesondere der sogenannten deutschen Juden, als grundsätzlich wünschenswert. Die "Zone Policy Instruction No. 20" vom 22. Dezember 1945 war ein erster Versuch, die materielle Not von Menschen, die in der Nazizeit verfolgt worden waren, zu mindern. Die Militärregierung setzte sogenannte Kreissonderhilfsausschüsse ein, die über die zusätzliche Verteilung von Lebensmitteln, Geld, Arbeit und bevorzugte Anweisung von Wohnungen entschieden. [14]

Bei der Rückerstattung jüdischen Besitzes wirkten sich verschiedene Erwägungen von Seiten der Briten zuungunsten der Opfer aus. Seit Juli 1945 stand das jüdische Vermögen unter der Kontrolle der Besatzungsmacht; jede vorzeitige Lösung für Einzelpersonen lehnten die Briten ab, da sie keine Präzedenzfälle schaffen wollten. Ein Rückerstattungsgesetz wurde erst im Mai 1949 verabschiedet. Die britische Regierung war in dieser Frage nicht bereit, amerikanische Vorschläge zu akzeptieren, die vorsahen, jüdische Organisationen Amerikas und Englands mit der Treuhandverwaltung des erbenlosen Vermögens zu beauftragen. Grund für die ablehnende Haltung der Briten war die Befürchtung, daß die Gelder für die Aufbauarbeit der jüdischen Ansiedlung in Palästina oder sogar für den Kampf jüdischer Untergrundorganisationen verwendet werden könnten. [15] Das Bemühen der Briten ging dahin, daß es für die jüdischen DPs ("Goers") einerseits und die in den Gemeinden organisierten Juden andererseits ("Stayers") getrennte Interessenvertretungen geben sollte. [16]

Die einzige von den Briten geschaffene Instanz, die für alle Juden in der britischen Zone gleichermaßen zuständig war, war der im März 1946 eingesetzte "Adviser on Jewish Affairs", Colonel Robert Solomon. Er versuchte, in dem an Schärfe zunehmenden Konflikt zwischen britischer Militärregierung und jüdischer Interessenvertretung, der mit der Exodus-Affäre im Jahr 1947 seinen Höhepunkt erreichte, zu vermitteln.

Die Interessenvertretung der jüdischen Überlebenden

Kurz nach der Befreiung gründeten die jüdischen Überlebenden in den DP-Lagern jüdische Komitees und in den Städten jüdische Gemeinden. Die unterschiedliche Herkunft der jüdischen Überlebenden barg durchaus Konfliktpotential, insgesamt überwog aber ein gemeinsames jüdisches Selbstverständnis, das in den Jahren der gnadenlosen Ausrottungspolitik entstanden war. [17] Dieser Zusammenhalt wurde durch den Widerstand gegen die weitgehend kompromißlose Haltung der Briten weiter gefestigt. In Zeitungen und Verlautbarungen der jüdischen Überlebenden nicht nur in der britischen, sondern in allen drei westlichen Besatzungszonen findet sich die Selbstbezeichnung "Sche'erit Hapleitah" (hebr. = Rest der Geretteten). Diese Bezeichnung ist biblischen Ursprungs und eng mit der nationaljüdischen Idee verknüpft.

Das de facto einzige jüdische DP-Lager in der britischen Zone - das in Teilen des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen eingerichtet worden war - war das Zentrum jüdischer Aktivitäten. Ende September 1945 fand dort ein Kongreß statt, an dem jüdische Überlebende aus über 40 Städten und DP-Lagern teilnahmen. Zum Vorsitzenden des "Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Zone", das Mitglieder von Gemeinden und Komitees der britischen Zone in sich aufnahm, wurde Josef Rosensaft (Belsen), als sein Stellverteter Norbert Wollheim (Lübeck) gewählt.

In den auf dem Kongreß verabschiedeten Resolutionen wurde an erster Stelle die Proklamation eines jüdischen Staates Israel und freie Einwanderung gefordert. Dort hieß es u.a. auch, Juden sollten als Juden anerkannt werden und nicht als Angehörige der Länder, in die sie nicht zurückkehren wollten. Zur Vorbereitung auf ein Leben in Palästina wären jüdische Zentren unter jüdischer Administration vonnöten. [18] Die Briten modifizierten ihre Politik in dieser Frage nur soweit, daß sie den jüdischen DPs im November 1945 erlaubten, in den DP-Lagern separat zu wohnen. [19]

Darüber hinaus existierte seit Juni 1946 ein Zusammenschluß aller jüdischen Gemeinden in der britischen Zone. Seine Hauptaufgabe war, in der Frage der materiellen Entschädigung die Stimme zu erheben. [20] Mit der Person Norbert Wollheims, der sowohl Vizepräsident des Belsener Zentralkomitees als auch ab September 1946 Vorsitzender des Rates der jüdischen Gemeinden war, gab es schon lange vor dem eigentlichen Zusammenschluß der beiden Organisationen auf dem zweiten Kongreß der befreiten Juden in der britischen Zone im Juli 1947 in Bad Harzburg eine enge Verbindung der beiden Interessenvertretungen. Von Juli 1947 an waren dann alle Gemeinden und Komitees unter dem Vorsitz von Karl Katz in einem Rat vertreten, der Teil des Zentralkomitees war.

Das Belsener Zentralkomitee besaß folgende Dezernate: Sekretariat, Gesundheitsabteilung, Rabbinat, Kultur und Presse. Die Hauptzielsetzungen der geeinten jüdischen Interessenvertretung waren: nationale Anerkennung, die politische, materielle und rechtliche Absicherung derjenigen Menschen, die Deutschland nicht verlassen konnten oder wollten, und eine Regelung in Entschädigungs- bzw. Rückerstattungsfragen. Als Vorsitzender wurde im Juli 1947 erneut Josef Rosensaft, als sein Stellvertreter Norbert Wollheim gewählt. [21]

Beide wurden von der Militärregierung wohl oder übel als Gesprächspartner akzeptiert. Eine offizielle Anerkennung erfolgte erst sehr spät und offensichtlich nur für die Person Norbert Wollheims [22], da die Briten auf getrennten Interessenvertretungen bestanden und Wollheim und Rosensaft von ihnen zunächst als extreme Zionisten angesehen wurden. [23] Nach der Entstehung des Staates Israel und der Auflösung der DP-Lager kam es unter maßgeblicher Mitwirkung von Norbert Wollheim und Josef Rosensaft zu einem weiteren Wandel der Selbstorganisation der Juden in Deutschland, zur Gründung des "Zentralrates der Juden in Deutschland" im Jahr 1950.

Unterstützung erfuhren die jüdischen Überlebenden in ihren Anliegen und Bedürfnissen durch ausländische jüdische Hilfsorganisationen. Angefangen mit Nahrung, Kleidung und Medikamenten über die Finanzierung kultureller, sozialer und berufsbildender Einrichtungen bis hin zur Betreuung bei der Auswanderung leisteten sie Hilfe in enormem Ausmaß. Unmittelbar nach der Befreiung standen jüdische Armeegeistliche und Soldaten insbesondere aus den Reihen der "Jewish Brigade" innerhalb der britischen Armee den jüdischen Überlebenden zur Seite. Die wichtigsten jüdischen Hilfsorganisationen in der britischen Zone waren das "American Jewish Joint Distribution Comittee" (AJDC), kurz Joint genannt, das britische "Jewish Comittee for Relief Abroad", das verschiedene "Jewish Relief Units" nach Deutschland schickte, die "Organisation for Rehabilitation through Training" (ORT), die Unterrichts- und Fachschulprogramme anbot, und die "Jewish Agency", die auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitete und sie organisierte.

Die Zeitungen Undzer Schtime und Wochnblat

Die Zeitung Undzer Schtime war das Organ des Zentralkomitees. Sie erschien bis mindestens Ende Mai 1947 illegal, d.h. ohne daß eine Lizensierung durch die Briten erfolgte. [24] Das Redaktionskollegium mit Sitz in Belsen bestand aus Rafael Olewski, David Rosenthal und Paul Trepman. In der ersten Ausgabe vom 12. Juli 1945 äußerte sich David Rosenthal in einem Artikel "Warum eine jiddische Zeitung?" zur Programmatik, die sich mit den Stichworten Mahnung, Organisation, Bildung, Erziehung und damit Vorbereitung auf die Auswanderung, insbesondere nach Palästina, umreißen läßt. Die Zuspitzung des Konflikts mit den Briten im Laufe der Zeit des Erscheinens spiegelte sich in dem zunehmend kämpferischen Ton der Berichterstattung wider. [25]

Die ersten Rubriken, die ab der fünften Ausgabe ihren festen Platz in der Zeitung fanden, lauteten "In Erez Israel und in der zionistischen Bewegung" und "In der Welt von Literatur und Kunst". Hinzu kamen am 1. Januar 1946 "Aus der ganzen Welt" und "Wir suchen unsere Verwandten" und schließlich ab dem 20. August desselben Jahres "Unser Leben im Bild", die "Sportbeilage" und "Von unserem Leben". Zum ein- und zweijährigen Bestehen erschienen Jubiläumsausgaben, und am 14. September 1947 wurde in einer Extrabeilage über die Exodus-Affäre berichtet. [26]

Nach dem Ende von Undzer Schtime arbeitete das dreiköpfige Redaktionsteam für die Zeitung Wochnblat, die den Untertitel "Organ der Sche'erit Hapleitah in der britischen Zone" trug und ebenfalls vom Belsener Zentralkomitee herausgegeben wurde. Hinsichtlich des Inhalts gab es keine wesentlichen Unterschiede zu dem Vorgänger Undzer Schtime. Über Auflagenzahlen, Verbreitung und Leserschaft gaben weder die Zeitungen selbst Auskunft, noch fanden sich in der wissenschaftlichen Literatur hierzu Angaben. Für beide Zeitungen als Organe des Zentralkomitees galt allerdings, daß darin im Gegensatz zu der jiddischen Presselandschaft in der amerikanischen Zone keine Kritik an der offiziellen Politik des jüdischen Zentralkomitees zu finden war. Leserbriefe - vorausgesetzt es gab sie - wurden in Undzer Schtime und im Wochnblat nicht abgedruckt.

Mit der Auswanderung der meisten jüdischen DPs hatten die DP-Zeitungen ihre Aufgabe erfüllt, "eine Brücke zwischen Gestern und Morgen" [27] zu sein. Die letzte Ausgabe des Wochnblat erschien am 18. August 1950.

Die Berichterstattung über Schleswig-Holstein

Gemessen an dem gesamten Textumfang der Zeitungen Undzer Schtime und Wochnblat nahmen die Artikel über Schleswig-Holstein einen verschwindend kleinen Raum ein. Hauptsächlich wurde über das DP-Lager Neustadt/ Holstein und über Lübeck berichtet, denn dort lebten die größten Gruppen jüdischer DPs in Schleswig-Holstein. In Undzer Schtime erschienen - in der Mehrzahl unter der Rubrik "Von unserem Leben" - elf Artikel von jeweils rund einer Seite Länge. Hinzu kam die achtseitige Extra-Beilage zur Exodus-Affäre mit vier Bildseiten. Im Wochnblat gab es vier Artikel über das DP-Lager Neustadt sowie einen Bericht über den Dichter Jizchak Perlow, der über die Exodus-Affäre ein jiddisches Gedicht und ein Lied verfaßt hatte. Ferner fanden sich in vielen anderen Rubriken vereinzelte Informationen über die Situation in Schleswig-Holstein.

In den Artikeln berichteten auch Menschen aus den verschiedenen Orten selbst: Aus Lübeck schrieb Boris Kusne, aus Neustadt S. Ziwier und M. Feldman, alle drei - so ist es den Artikeln zu entnehmen - arbeiteten in jüdischen Komitees oder anderen jüdischen Einrichtungen mit. Weitere Autoren waren Simon Kempler aus Hamburg und der Belsener Zeitungsredakteur Rafael Olewski, der den ausführlichsten Bericht über eine Besuchsreise durch Schleswig-Holstein verfaßte. Bei neun Artikeln wurden die Verfasser nicht angegeben. Einige dieser Beiträge könnten den jüdischen Interessenvertretungen in Neustadt und Lübeck entstammen, andere zumindest teilweise von der Belsener Zeitungsredaktion geschrieben worden sein. [28]

Die Berichterstattung entsprach im kleineren Rahmen der oben mit den Worten "Mahnung" und "Organisation, Erziehung, Bildung als Vorbereitung auf die Auswanderung" skizzierten Programmatik der Zeitungen Undzer Schtime und Wochnblat. Ob dies bewußt geschah, ließ sich nicht klären, zumal die Autorenschaft der Mehrzahl der Artikel nicht bestimmt werden konnte. Die Artikel, die aus dem Rahmen fallen, da sie besondere Ereignisse zum Inhalt haben, werden im vorliegenden Aufsatz unter den Überschriften "Selbstbehauptung der jüdischen Überlebenden" und "Antisemitismus" vorgestellt.

Mahnung

Das Anliegen, des Massenmordes an den Juden mahnend zu gedenken, fand in der Berichterstattung über Schleswig-Holstein vielfach seinen Ausdruck: Der erste Artikel, der sich mit der Situation der überlebenden Juden in Schleswig-Holstein beschäftigte, handelte von dem DP-Lager Neustadt und begann mit den Worten: "Neustadt ist ein kleines ruhiges Städtchen am Ufer des Meeres. Ein Städtchen, das Vielen unbekannt ist, für die Juden aber ist es zu einem Symbol der Vernichtung geworden. In Neustadt hat man hunderte verschleppter Häftlinge im Meer ertrinken lassen." [29]

Auch in zwei anderen Artikeln wurde des Schicksals der schätzungsweise 7.300 Häftlinge gedacht, die in Neustadt am 3. Mai 1945 bei der sogenannten Cap-Arcona-Katastrophe ums Leben kamen. [30] Während Boris Kusne in dem Artikel "Das Totenschiff (Cap Arcona)" den Versuch unternahm, die Ereignisse des 3. Mai 1945 möglichst genau zu schildern, verband Rafael Olewski in seinem Bericht die Betrachtung der Schiffsruine mit der Zukunftsvision eines Lebens in Palästina. [32]

Außerdem fanden insgesamt vier Trauer- und Gedenkfeiern aus verschiedenen Anlässen Erwähnung. So wurde z. B. am 5. Januar 1947 in Neustadt der jüdische Friedhof eingeweiht, und am Abend versammelten sich Gäste und Bewohner des DP-Lagers im Kinosaal: "Einen unvergeßlichen Eindruck hinterließ die künstlerische Gestaltung durch den Berliner jüdischen Kunstmaler Preiser. Die Gestalt eines 'Muselmannes' und ein Grab mit der Aufschrift P.N.K.Z. [P.N. hebr. Abkürzung = hier ruht] und ein Davidstern verkörpern alles, wofür die zwei bescheidenen Buchstaben K.Z. stehen. Herr Ziwier redet über die Todesschiffe "Kap Arkona" und "Thielbeck" [...] Eine eindrucksvolle Rede hält Herr Leszman. Er sagt: 'Wir haben nur Gräber, auf der Erde, in den Meeren und sogar die Luft ist ein Massengrab unserer Millionen, die in Rauch verwandelt worden sind.'" [33]

Organisation, Erziehung und Bildung

Einen zweiten Schwerpunkt in der Berichterstattung über Schleswig-Holstein bildeten die Fragen der Organisation, Bildung und Erziehung, die im vorliegenden Aufsatz zusammengefaßt dargestellt werden. Im Neustädter internationalen DP-Lager, in dem sich die jüdische Bevölkerung in der Minderheit befand, wurde einige Tage nach der Befreiung unter dem Vorsitz von Salomon Rosendorn ein jüdisches Komitee gebildet. Eine der ersten Aufgaben war die Registrierung der Juden und die Suche nach Verwandten, die möglicherweise überlebt hatten. Das Komitee setzte sich außerdem dafür ein, daß kranke jüdische ehemalige Häftlinge bei der Verschickung nach Schweden berücksichtigt wurden, und verteilte Nahrungsmittel, die aus dem DP-Lager Belsen angeliefert worden waren. [34]

In Undzer Schtime wurde über ein zweites Komitee berichtet, das sich in Schleswig-Holstein in Lübeck unter dem Vorsitz von Norbert Wollheim gegründet hatte. [35] Nur ein Teil der Juden in Lübeck hatte den DP-Status, und zwar waren dies im wesentlichen Juden polnischer Herkunft, die zunächst zusammen mit anderen nichtjüdischen polnischen DPs in der Walderseestraße in Kasernen lebten. [36] Nach längeren Auseinandersetzungen erreichten es die jüdischen DPs, daß sie auf dem Kasernengelände von den übrigen DPs getrennt wohnen durften. [37]

Eine besondere Aufgabe erfüllte das Lübecker Komitee bei der Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen aus dem Osten, die vorübergehend in der Lübecker Synagoge einquartiert wurden. [38] Als weitere Orte in Schleswig-Holstein, in denen sich kleinere Gruppen von Juden befanden, wurden Lensterhof, Eutin und das polnische DP-Lager Jägerslust bei Kiel genannt. [39]

Den Zeitungsberichten zufolge entwickelte sich in Schleswig-Holstein im DP-Lager Neustadt das intensivste jüdische gesellschaftliche Leben: Dort kam es zur Einrichtung eines jüdischen Kindergartens [40], eines "Sozialklubs" [41], eines Fußballvereins "Maccabi Neustadt" [42], eines eigenen Friedhofes [43], eines Betsaals [44] und einer Schule der jüdischen Berufsausbildungsorganisation "ORT". Im Juli 1947 erlernten in der "ORT"-Schule 56 Frauen das Schneiderhandwerk, weitere Kurse für das Schmiedehandwerk, Radio- und Elektrotechnik, Tuchmacherei, Fischerei, Meeresrettung, Netzflechten und Segelmacherei und die Fertigung von Korsetts standen auf dem Plan. [45] Im September 1947 waren bereits 100 Schüler eingeschrieben, und es hieß, daß noch weitere hinzukommen würden. [46]

Unter den jüdischen DPs gab es ausserdem ein großes Bedürfnis nach einem spezifisch jüdischen Kulturprogramm: "Die Juden in Neustadt lechzen danach, ein jüdisches Wort, jüdischen Gesang oder Theater zu hören. Man kann sich die Freude der Juden kaum vorstellen, wenn sie hören, daß eine kulturelle Veranstaltung vorbereitet wird. Wir wollen uns bekannt machen mit unseren alten Kulturquellen." [47]

Ende des Jahres 1945 gastierte die Theatergruppe "Kle'im Kle'im' (hebr. = Kulisse, Kulisse] der "Jewish Brigade" in Neustadt und Lübeck. Die von den Mitgliedern der Brigade größtenteils selbstverfaßten Texte erzählten von Ghettos und Konzentrationslagern, von Partisanen und von dem jüdischen Kampf für einen eigenen Staat in Palästina. Die jiddische Partisanenhymne "Sage niemals, du gehst den letzten Weg" und andere hebräische Lieder rundeten das Programm ab. [48] In Neustadt gründete sich einige Zeit später eine eigene jüdische Theatergruppe, die allerdings nur eine Vorstellung gab. [49]

Im Laufe der Zeit übernahm das Kulturamt in Belsen in wachsendem Maße die Aufgabe, das kulturelle Leben der Juden in der britischen Zone zu gestalten. Aus einer Sammlung von Büchern, die dem Zentralkomitee in Belsen geschenkt worden waren, erstellte das Kulturamt eine Wanderbibliothek, die auch den jüdischen DPs in Neustadt zugute kam. [50] In Kiel, Lübeck und Neustadt wurden jiddische Filme gezeigt. [51] Schließlich schloß sich ein Kreis von Kulturschaffenden aus der britischen Zone zusammen mit dem Ziel, auf Vortragsreisen jüdisches Kulturgut zu vermitteln. So referierte beispielsweise der jiddische Dichter Meir Ber Gutman in Neustadt über ein literarisches Thema. [52]

Vorträge verschiedenen Inhalts waren in Neustadt zu hören: Der Oberrabbiner der britischen Zone, Hermann Helfgott, vermittelte den Gedanken, daß das jüdische Volk und seine Religion untrennbar verbunden seien. [53] Die Emissäre der "Jewish Agency" in Neustadt hielten politische Referate mit zionistischer Ausrichtung: David Etstein sprach über das Aufbauwerk der jüdischen Ansiedlung in Palästina [54] und zeichnete in einem anderen Vortrag die wichtigsten Etappen des Zionismus nach, um dann den Bogen zur gegenwärtigen Situation zu schlagen. [55] Mordechai Caspi hielt in der ORT-Schule im Rahmen des Unterrichts wöchentlich ein politisches Referat. [56] Aus Lübeck wurde berichtet, daß die Synagoge und der jüdische Friedhof wiederhergerichtet und eine Bibliothek geschaffen worden sei. [57]

Auswanderung

Die zionistische Ausrichtung der Zeitungen zeigte sich u.a. darin, daß dort nur die Auswanderung bzw. die Vorbereitung darauf ihren Niederschlag fand, die Palästina zum Ziel hatte. Zumindest in Neustadt hatte allerdings offensichtlich auch die weit überwiegende Mehrheit der jüdischen Überlebenden den Wunsch, nach Palästina zu gehen. So schrieb Rafael Olewski im Januar 1946 über die jüdischen DPs in Neustadt:

"Keiner denkt daran, in die alte Heimat zurückzukehren. Von einigen Ausnahmen abgesehen, sind alle dazu entschlossen, unter jeder Bedingung nach Erez Israel einzuwandern. Und das Komitee unter der Leitung von Salomon Rosendorn scheut keine Mühe, die Lebensbedingungen der Juden zu verbessern, bis der Moment der Alijah [hebr. = Aufstieg = Einwanderung nach Palästina] gekommen ist. Fast die gesamte jüdische Jugend hat sich der "Noar Chaluzi Meuchad" [hebr. = Vereinigte Pionierjugend] angeschlossen. Man lernt fleißig jüdische und zionistische Geschichte und die hebräische Sprache." [58]

Vermutlich auf Anregung des Vertreters der "Jewish Agency" in Schleswig-Holstein, Mordechai Caspi, gründete sich in Neustadt die linksgerichtete "lige farn arbtndikn Erez Jisroel" (Liga für das arbeitende Land Israel). [59] Im Sommer 1947 erhielt die erste Gruppe von Juden aus Neustadt Einwanderungszertifikate nach Palästina. Der Berichterstatter aus Neustadt kommentierte dies mit den Worten: "Während der letzten Wochen herrscht in Neustadt eine heitere Stimmung. Die Alijah von 35 Neustädter Juden, unter denen sich fast alle Mitglieder des Komitees befinden, hat unseren Herzen Mut und Hoffnung gegeben.[...] Nach langem Warten kommt endlich der Moment, auf den wir so lange gehofft haben. Wir können offen und frei unsere Freunde verabschieden, die Ojleh [hebr. = Einwanderer nach Palästina] sind. Die Stimmung der versammelten Menge ist munter. Wir glauben, daß auch wir bald unter den Glücklichen sind. Die Eisenbahnwagen sind dekoriert mit Dutzenden blau-weißer Fahnen. U.a. folgende Losungen sind zu lesen: "Lehitraot be Erez-Israel" [hebr. = "Auf Wiedersehen im Land Israel"] und "Am Israel chaj" [hebr. = "Das Volk Israel lebt"]. Der Zug fährt bei den Klängen der "Hatikwa" [hebr. = die Hoffnung, spätere israelische Nationalhymne] an, und führt die 35 Neustädter an unser - ihr Ziel." [60]

Eine zweite Gruppe von 28 Personen verließ das DP-Lager Neustadt auf dem gleichen Wege. [61] Die besondere Vorgeschichte von 51 jüdischen Menschen aus Lübeck, die schließlich Einwanderungszertifikate nach Palästina erhielten, wird im folgenden Abschnitt näher beschrieben.

Selbstbehauptung der jüdischen Überlebenden

Drei Artikel der Zeitungen Undzer Schtime und Wochnblat und eine Extrabeilage beschrieben Konflikte der Überlebenden mit verschiedenen Parteien - den Briten, der UNRRA, der IRO und der deutschen Polizei - , gegenüber denen sie sich behaupten mußten: Den Versuch einer Verlegung jüdischer DPs von Lübeck nach Neustadt, die Exodus-Affäre und das Eindringen deutscher Polizei ins DP-Lager Neustadt auf britische Anweisung hin.

Der Versuch einer Verlegung jüdischer DPs

Schon ein halbes Jahr bevor die jüdischen DPs in Lübeck ihre Unterkünfte in der Walderseekaserne im Dezember 1946 endgültig verlassen mußten, war der Befehl zu einem Umzug in Baracken hinter der Stadt ergangen. [62] Damals intervenierten Norbert Wollheim und der "Joint"-Mitarbeiter Rotman erfolgreich gegen die Verfügung. Das Verbleiben der jüdischen DPs in der Walderseekaserne schien gesichert.

In der Nacht des 12. Dezember jedoch umstellte deutsche und britische Polizei das Lager, um es dann genau zu durchsuchen, offensichtlich wegen des Verdachts auf Schwarzmarkthandel. [63] Einige Juden wurden festgenommen, wegen mangelnder Beweise aber bald wieder auf freien Fuß gesetzt. Am nächsten Morgen erteilte die UNRRA den Befehl, das Lager aufzulösen und die polnischen und jüdischen DPs nach Neustadt zu verlegen. Sofort fuhren einige der jüdischen Menschen nach Neustadt, um sich die neuen Unterkünfte anzusehen. Sie berichteten nach ihrer Rückkehr, daß die Baracken dort keine Fenster hätten und unbewohnbar seien. Bei 15 Grad Frost, so kommentierte Kusne, habe man dort Menschen und kleine Kinder einquartieren wollen. Die jüdischen DPs beschlossen, nicht nach Neustadt zu gehen.

Da Norbert Wollheim sich zu dieser Zeit in den USA aufhielt, wandte sich das jüdische Komitee mit der Bitte um Hilfe an den Vorsitzenden des Zentralkomitees Josef Rosensaft. Von Belsen kam die Antwort, man solle aushalten, bis Hilfe komme, doch die Zeit verrann, und die Juden wurden gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen. Sie durften nichts mitnehmen außer Wäsche; wer versuchte, eine Matratze oder ein Bett mit sich zu führen, wurde festgenommen.

Das jüdische Komitee verständigte die Mitarbeiter der "Jewish Relief Unit", Pearl Rosenblum aus Neustadt und den Rabbiner Alexander Carlebach aus Hamburg, die einige Zeit später in Lübeck eintrafen. Ihre Proteste blieben erfolglos.

Als die jüdischen DPs sahen, daß sie ihre Wohnungen nicht halten konnten, nahmen sie spontan ihr Gepäck und gingen zur Synagoge. Dort standen jedoch deutsche Polizisten, die niemanden ins Gebäude hinein oder heraus ließen. Der Lübecker Polizeipräsident, bei dem Vertreter des jüdischen Komitees deswegen protestierten, erwiderte, der Befehl stamme von höheren Instanzen, er könne nichts ausrichten. Mittlerweile näherte sich der Abend, und da es Freitag war, kamen Juden zur Synagoge, um dort zum Schabbatbeginn zu beten. Die Polizei schlug vor, daß die Menschen die Synagoge zum Gebet betreten dürften, falls das jüdische Komitee garantiere, daß niemand Gepäck mitnähme und dort bliebe. Das Komitee lehnte ab.

Ein paar jüdische DPs fanden über Nacht Unterschlupf bei Bekannten, andere wanderten gezwungenermaßen die ganze Nacht bei frostigen Temperaturen durch die Stadt. Am nächsten Morgen war die Polizei verschwunden. In zwei Zimmern der Synagoge richteten sich nun 70 jüdische Menschen, unter denen sich auch Kinder befanden, notdürftig ein. Noch hegten sie die Hoffnung, in Lübeck bleiben zu können. Mit diesem Anliegen wandten sie sich erneut an die Mitarbeiter der "Jewish Relief Unit", Pearl Rosenblum und Rabbiner Carlebach aus Hamburg. Darüber hinaus verständigten sie Heinz Salomon aus Kiel.

Doch deren energische Proteste gegen die Verlegung zeigten keinerlei Wirkung. Als die Delegation darauf hinwies, daß in Lübeck 30 Häuser aus jüdischem Besitz in der Nazizeit enteignet worden seien, und forderte, eins davon den heimlosen Juden zur Verfügung zu stellen, lautete die Antwort von britischer Seite, dies sei Angelegenheit der deutschen Behörden.

Bei gedrückter Stimmung harrten die jüdischen DPs in der Synagoge aus. Doch die Holzvorräte für die Beheizung des Gotteshauses gingen schon bald zu Ende, und sie mußten anderswo Unterkunft suchen. Ein Appell des jüdischen Komitees bewirkte, daß eine kleine Zahl von ihnen in Häusern von deutschen Juden Aufnahme fand. Wie sehr sich die jüdischen DPs von den Briten bzw. von der UNRRA zurückgesetzt und diskriminiert fühlten, zeigte der abschließende Kommentar Kusnes:

"Die Tragödie ist noch größer, wenn man weiß, daß an die Stelle der herausgetriebenen Juden professionelle SS Mörder treten: Letten und Littauer, die für die Engländer das gewünschte Element darstellen. Als kurios kann folgender Fall dienen. Als im vergangenen Jahr der jüdische Block geschaffen wurde, ist unter den Letten ein einziger Jude gewesen, der darum bat, bei uns aufgenommen zu werden. Die "UNRRA" hat ihm damals geantwortet, daß er Lette sei und im polnischen Block nicht wohnen könne. Nach langen Interventionen ist es ihm gelungen, sich in den jüdischen Block einzuordnen. Bei der letzten Räumung hat er sich (im Spaß) an denselben "UNRRA"-Beamten gewandt: er sei lettischer Bürger und so wie die Letten bleiben (man muß betonen, daß sich in demselben Lager etliche von Letten bewohnte Blocks befinden, auf die der Räumungsbefehl nicht zutrifft) wolle er auch bleiben. Darauf wurde ihm geantwortet: 'Nein, du bist ein Jude und mußt ebenso wie alle Juden herausgehen.' Das alles ist vorgekommen im Jahr1946 und spiegelt unsere Lage auf das deutlichste." [64]

Über die Entwicklung der Situation im Laufe der folgenden Monate gab die Zeitung keine Auskunft; es wurde nur berichtet, daß angesichts der schwierigen Situation die Entscheidung fiel, das Purimfest, das ausgelassen und fröhlich gefeiert wird, nicht in der gewohnten Form zu begehen. Stattdessen hörten die in der Synagoge versammelten Juden Vorträge. In seiner Begrüßungsrede verlieh Boris Kusne der Hoffnung Ausdruck, die Anwesenden kommendes Purimfest beim Karneval in Tel-Aviv zu treffen. [65] Der Undzer Schtime-Ausgabe vom 14. September 1947 war dann zu entnehmen, daß die Ungewißheit von 51 Betroffenen ein Ende hatte, da sie Auswanderungszertifikate nach Palästina erhalten hatten.

Die Exodusaffäre

Während 51 jüdische DPs aus Lübeck nun endlich ihre Reise nach Palästina antreten konnten, befanden sich einige Tausend jüdische Flüchtlinge gezwungenermaßen auf dem genau entgegengesetzten Weg - von Palästina nach Lübeck. Die Weltöffentlichkeit verfolgte schon seit Wochen gebannt das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge auf dem Schiff "Exodus 1947", das zum Symbol des Kampfes für einen jüdischen Staat wurde. Die etwa 4.500 Menschen, die als "Exodus"-Flüchtlinge in die Geschichte eingingen, hatten versucht, außerhalb der offiziellen, von den Briten festgesetzten Einwanderungsquote nach Palästina zu gelangen. Anfang Juli waren sie mit Hilfe eines kolumbianischen Sammel-Transitvisums aus Deutschland nach Südfrankreich gelangt und hatten dort das Schiff "President Warfield" bestiegen, das dann auf offener See in "Jeziat Europa 1947" (hebr. = Exodus aus Europa 1947) umbenannt wurde.

Die Briten fingen die Flüchtlinge vor der Küste Palästinas ab und verteilten sie auf drei englische Schiffe, die wieder Kurs auf Frankreich nahmen. Mit dieser Entscheidung wichen die Briten von der bisherigen Praxis ab, illegale jüdische Flüchtlinge in Lagern auf Zypern zu internieren. Da die französischen Behörden sich weigerten, die Passagiere ohne ihr Einverständnis an Land zu bringen, faßten die Briten schließlich auf Vorschlag ihres Außenministers Bevin den Entschluß, die Flüchtlinge nach Deutschland zurückzubringen. Unter dem Namen "Operation Oasis" trafen die Briten Vorbereitungen für die Zwangsausschiffung in Hamburg. Von dort wurden die Flüchtlinge dann nach Lübeck in die Lager Pöppendorf und Am Stau gebracht. Ihr Aufenthalt in Lübeck dauerte drei Monate.

Anfang November wurden sie in winterfeste Kasernengebäude im Raum Wilhelmshaven und Emden gebracht. Viele von ihnen gelangten von dort mit Hilfe der "Brichah" in die amerikanische Besatzungszone und einige noch vor der Staatsgründung Israels weiter nach Palästina. [66]

Rund zwei Wochen nach der Zwangsausschiffung in Hamburg erschien eine Extra-Beilage der Zeitung Undzer Schtime. Darin war eine Presseerklärung abgedruckt, in der das Zentralkomitee den Zustand der zwei Lager, die die Flüchtlinge aufnehmen sollten, kommentierte:

"Laut unseren Informationen sind die zwei Aufnahmelager in Lübeck wie Gefangenenlager ausgestattet (hohe Zäune aus Stacheldraht, Wachtürme, bewaffnete Posten). Sowohl die allgemeinen als auch die sanitären Einrichtungen sind primitiv oder gar nicht vorhanden. Im Einklang mit der "IRO" und den großen ausländischen Hilfsorganisationen werden wir auf dem Gebiet der Hilfstätigkeit weder aktiv noch passiv etwas unternehmen, was den Eindruck erwecken könnte, wir wären einverstanden, daß die Männer, Frauen und Kinder der "Exodus" wie Gefangene in Konzentrationslagern behandelt werden." [67]

Wiederholt tauchte in der Berichterstattung der Vergleich der Briten mit den Nationalsozialisten auf. In dem Artikel über die Zwangsausschiffung im Hamburger Hafen hieß es: "Durch riesige Lautsprecher wurde Jazzmusik übertragen - genau wie in Auschwitz, genau wie in Belsen, genau wie bei den Nazis." An anderer Stelle waren in der Extra-Ausgabe unter der Überschrift "In den neuen KZs" Bilder der Flüchtlinge in Pöppendorf und Am Stau zu sehen.

Die Art der Berichterstattung war nicht nur von Wut und Verbitterung über die Briten gekennzeichnet, sie brachte auch die Bewunderung für das Verhalten der jüdischen Flüchtlinge zum Ausdruck. Neben dem Zeitungskopf war die Widmung zu lesen "gewidmet dem heldischen Kampf der Ma'apilim [hebr. = Palästinaeinwanderer außerhalb der offiziellen Quote] von 'Exodus 1947' auf deutschem Boden". [68]

Der Rabbiner Dr. Helfgott gab in einem auf der letzten Seite der Beilage abgedruckten Interview wieder, was er den Menschen in Pöppendorf am zweiten Tag des jüdischen Neujahrsfestes gesagt hatte:

"In meinen Worten brachte ich zum Ausdruck, daß sie ein neues Kapitel unserer Geschichte zu schreiben begonnen haben: 'Ihr Ma'apilim habt dem jüdischen Volk seine Ehre zurückgegeben. Seid stolz, jeder von euch soll stolz sein. Wenn ihr euern Kindern einmal die neuere jüdische Geschichte erzählen werdet, sollt ihr stolz daran erinnern: - Auch ich gehörte zur Exodus 1947'." [69]

Im Lager Pöppendorf schrieb der Dichter Jizchak Perlow ein Lied über die Exodus-Flüchtlinge und bezeichnete sie als Avantgarde des jüdischen Volkes. [70]

Die letzte Auseinandersetzung zwischen Briten und deutscher Polizei einerseits und DPs - unter denen sich auch jüdische befanden - andererseits, über die in der Zeitung Wochnblat berichtet wurde, hatte ihren Schauplatz im DP-Lager Neustadt.

Deutsche Polizei im DP-Lager Neustadt

Bis Mitte des Jahres 1947 war es der deutschen Polizei verboten, ihre Tätigkeit in die DP-Lager hinein auszudehnen. Im September 1947 gab der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Lüdemann bekannt, daß Polizisten in Zukunft in begrenztem Maße Zutritt zu den Lagern hätten und daß an Polizeistellen des Außendienstes unter bestimmten Umständen vermehrt Schußwaffen ausgegeben werden sollten. [71]

Nachdem deutsche Polizei mehrfach versucht hatte, ihren Einfluß im DP-Lager Neustadt geltend zu machen, die DPs sich aber kategorisch weigerten, deutsche Befehle auszuführen [72], gab der Lagerkommandant von Neustadt bekannt, daß am 1. Dezember 1947 ein deutscher Polizeiposten im Lager eingerichtet werden würde. [73] Die Vorsteher des jüdischen Komitees verfaßten daraufhin eine Erklärung, die den Beschluß der Lagerbewohner enthielt, die Polizei nicht in das Lager hereinzulassen. Der Kommandant nahm die Erklärung nicht zur Kenntnis.

Am 1. Dezember versammelte sich die Lagerbevölkerung beim Haupttor des Lagers. Aus den Fenstern hingen schwarze Tücher, und an Gebäudewänden klebten Plakate und Losungen als Zeichen des Protests. Dem Tor näherte sich dann ein Wagen mit Einrichtungsgegenständen für die Dienststelle der deutschen Polizisten. Nur einem Polizisten gelang es, das Lager zu betreten, die anderen wurden verjagt. In Anbetracht der bedrohlichen Situation bemühte sich der Lagerkommandant, die Lagerbewohner von der Richtigkeit der Maßnahme zu überzeugen, doch vor seinen Augen wurde das Auto aus dem Lager gedrängt und auch der letzte Polizeibeamte verjagt.

Der Kommandant lenkte ein: Deutsche Polizei werde nicht ins Lager kommen, und eine neue DP-Polizei solle organisiert werden. Ein paar Stunden später aber begannen über 70 Polizisten aus Lübeck, mit Gummiknüppeln und Pistolen bewaffnet, das verbarrikadierte Haupttor zu stürmen. Sie begannen zu schießen und verwundeten zwei Menschen. Die aufgebrachten DPs bewarfen die Polizisten mit Steinen und vertrieben sie so aus dem Lager. Die passive Haltung des Lagerkommandanten erregte die Einwohner derart, daß ein Hagel von Steinen auf das IRO-Haus niederprasselte, in dem er sich aufhielt.

Während der Kommandant eine britische Militäreinheit zu Hilfe rief, mobilisierten die DPs einen Feuerlöschzug, um den Weg zum Tor durch Wasser zu verstellen. Es wurde beschlossen, den Briten Eintritt zu gewähren, ihn der deutschen Polizei hingegen zu verweigern. Am Abend rollten 15 Panzerwagen ins Lager. Die Bevölkerung blieb ruhig.

Am nächsten Tag richteten die Vorsteher der verschiedenen nationalen Komitees vier Forderungen an den "Controller der PW&DP [= Prisoner of War and Displaced Person] Branch", Oberstleutnant Davis, und an Major Rockley. Es wurde verlangt, der deutschen Polizei den Zutritt ins Lager zu untersagen, den Lager-Kommandanten und seinen Vertreter abzusetzen, die das Lager umgebenden Zäune zu entfernen und die Lebensbedingungen der Lagerbewohner zu verbessern. Nach langer Unterredung erklärte Davis, daß er die von Berlin aus erfolgte Anordnung ausführen müsse, die Polizei aber im IRO-Haus außerhalb des Lagers untergebracht werde.

In der Zwischenzeit hatte der Vorsitzende des Belsener Zentralkomitees, Josef Rosensaft, in dieser Angelegenheit in London protestiert. Aus dem "Foreign Office" wurde ihm versichert, daß die zuständigen britischen Stellen dafür Sorge tragen würden, deutsche Polizei nicht in das DP-Lager Neustadt hereinzulassen. [74] Unter dieser Bedingung gaben die Bewohner ihren Widerstand auf. Oberstleutnant Davis sicherte außerdem zu, daß ihren sonstigen Forderungen entsprochen werde.

Der Zeitungsbericht des Wochnblatt endete mit dem Satz: "Die traurigen Ereignisse haben ein weiteres Mal gezeigt, daß wir den deutschen Boden so schnell wie möglich verlassen müssen." [75]

Antisemitismus

Mit der Schändung des jüdischen Friedhofs in Lübeck in der Nacht vom 3. auf den 4. April 1947 beschäftigte sich ein weiterer Artikel, der neben einer knappen Schilderung der Ereignisse auch Auskunft über einen weiteren antisemitischen Vorfall in Lübeck gab: Rund vier Wochen nach der Friedhofsschändung wurden die Juden, die in der Nähe der Lübecker Synagoge wohnten, in der Nacht durch das Geschrei antisemitischer Hetzparolen wie "Juda verrecke" und "Nieder mit den Juden" geweckt. [76]

Das Jüdische Gemeindeblatt

Nach Erteilung einer Lizenz durch die Briten erschien am 15. April 1946 die erste Ausgabe des Jüdischen Gemeindeblatt für die Nord-Rheinprovinz und Westfalen. Der Vorsitzende des Zusammenschlusses der jüdischen Gemeinden der britischen Zone, Dr. Philipp Auerbach, schrieb zum Geleit, daß die Zeitung ein erster Schritt in die Freiheit und ein weiterer Schritt für den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland sei. [77] Dies entsprach der britischen Politik, die in den Gemeinden organisierten sogenannten deutschen Juden - soweit möglich - zum Bleiben in Deutschland zu bewegen.

Über die Inhalte der neuen Zeitung äußerte sich in der ersten Ausgabe unter der Überschrift "Wozu ein Jüdisches Gemeindeblatt?" der Herausgeber Hans Frey. Er betonte, daß es die brennendste aller Fragen sei, jedem Mitglied zu einer Existenz zu verhelfen. Deshalb solle die Zeitung die Themen Rechtsfragen, Wiedergutmachung und Steuerangelegenheiten, aber auch Auswanderungsdingen behandeln. [78] Ab November 1946 übernahm der aus dem Londoner Exil zurückgekehrte Karl Marx die Herausgabe und Chefredaktion. Seine Persönlichkeit prägte das Erscheinungsbild der Zeitung, die von nun an den Titel Jüdisches Gemeindeblatt für die britische Zone trug.

Er formulierte folgende Ziele der Zeitung: "Wir haben es zu unserer Aufgabe gemacht, unserer Zeitung den Charakter einer wirklich jüdischen Zeitung zu geben. [...] Wir wollen jüdisch sein, wir wollen alle Juden zu Worte kommen lassen, ganz gleich welcher jüdisch politischen Richtung sie angehören [...] Besondere Aufmerksamkeit wollen wir den kulturellen Dingen widmen, der Literatur, der jüdischen Literatur und der 1933 verbrannten." [79]

Marx verstand sich als deutscher Demokrat jüdischen Glaubens und setzte sich als solcher für ein jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 ein. Er lehnte den Vorwurf einer Kollektivschuld der Deutschen frühzeitig ab. Gleichzeitig war er aber überzeugt von der Notwendigkeit eines jüdischen Staates in Palästina, dessen Aufbau er tatkräftig unterstützte. [80] Ein Verbot der Zeitung drohte, als er die britische Haltung in bezug auf Palästina in der Zeitung offen kritisierte. [81]

Ein weiterer Anlaß zu Spannungen dürfte gewesen sein, daß anläßlich des organisatorischen Zusammenschlusses der Interessenvertretungen der jüdischen DPs und der in den Gemeinden organisierten Juden auf dem zweiten Kongreß der befreiten Juden in der britischen Zone im Juli 1947 in Bad Harzburg die Kulturkommission einstimmig eine Resolution verabschiedete, in der die Zeitungen Undzer Schtime und das Jüdische Gemeindeblatt als offizielle Organe des Zentralkomitees bezeichnet wurden. [82] Im Gegensatz zu Undzer Schtime und Wochnblat war das Gemeindeblatt allerdings in räumlicher, personeller, finanzieller und inhaltlicher Hinsicht viel weniger eng mit dem Belsener Zentralkomitee verbunden. [83] Der derzeitige Forschungsstand erlaubt keine Antwort auf die Frage, wie die Zensur der Briten in bezug auf das Jüdische Gemeindeblatt aussah. Darüber hinaus fehlen - wie für die zwei jiddischen Zeitungen auch - Untersuchungen, die näheren Aufschluß über Leserschaft und Verbreitung des Gemeindeblattes geben könnten.

Ebenso wie viele der neugegründeten jüdischen Gemeinden im Nachkriegsdeutschland hatte das Jüdische Gemeindeblatt Bestand. Am 15. April 1949 änderte sich der Name des Gemeindeblatt, das seit September 1948 den Untertitel "Die Zeitung der Juden in Deutschland" trug, in Allgemeine. Die Wochenzeitung der Juden in Deutschland, die heute als Allgemeine Jüdische Wochenzeitung erscheint.

Die Berichterstattung über Schleswig-Holstein

Die Berichterstattung des Gemeindeblattes über die Situation der jüdischen Überlebenden war von geringerem Umfang als die der Zeitungen Undzer Schtime und Wochnblat. Auch die einzelnen Artikel waren z.T. wesentlich kürzer. Neben den neun Berichten, die sich explizit mit den jüdischen Gemeinschaften in Schleswig-Holstein befaßten, erschienen außerdem vier kurze Meldungen. Die "Wiedergutmachungsanordnung" des Landes Schleswig-Holstein vom 18. November 1946 wurde in einer Beilage des Blattes im Wortlaut abgedruckt.

Darüber hinaus befanden sich in anderen Teilen der Zeitung Informationen über Schleswig-Holstein. Von den neun Autoren der Artikel wurden sechs namentlich bzw. mit einem Kürzel angegeben: Zwei Berichte stammten von Norbert Wollheim aus Lübeck, einer von seiner Sekretärin Herta Hoffmann. Cupo ist die Abkürzung für Curt Posner, der damals in Hamburg lebte. [84] Die Initialen R.G. und Ch. R. konnten nicht aufgelöst werden.

Vier Artikel berichteten über Gedenk- und Trauerfeiern in Eckernförde [85], in Neustadt-Holstein [86] und in Lübeck: In der Hansestadt wurde am 11. April 1948 auf dem jüdischen Friedhof ein Gedenkstein errichtet, der an die jüdischen Opfer des Hitlerregimes erinnern sollte. Dazu hatten sich jüdische Menschen aus Lübeck, Hamburg, Neustadt, Hannover und Nordrhein-Westfalen, Vertreter der britischen Militärregierung und der Stadt Lübeck, der polnischen Militärmission, der Kirche und der Parteien und Gewerkschaften eingefunden.

Als erster Redner ergriff Norbert Wollheim das Wort: "Es ist die Pflicht zu gedenken, weil nur aus Erkennen Läuterung geboren wird. Wir können und wollen nicht schweigen zur Katastrophe unseres Volkes. Am Beispiel der jüdischen Gemeinde Lübecks wird die Größe dieser Katastrophe erkenntlich: 600 Mitglieder zählte sie 1933. Ein Teil von ihnen konnte auswandern. Bei der Befreiung waren es noch - 12 Mitglieder." [87]

Auch der Oberrabbiner der britischen Zone, Dr. Helfgott, richtete das Wort an die Trauergäste: "Die Welt hat sich an den Begriff von sechs Millionen ermordeter Juden gewöhnt. Für sie bedeutet er nur eine Zahl, die statistisch erfaßt worden ist. Nicht so für uns! Für uns heißt diese Zahl: keine Mutter, keinen Vater, keine Kinder. Für uns bedeutet sie ein Seufzen und Baden in Tränen, dort, wo niemand uns sieht und niemand uns hört." [88]

Im Unterschied zu der Berichterstattung von Undzer Schtime und Wochnblat fand sich im Gemeindeblatt nur ein Artikel, der Aktivitäten schleswig-holsteinischer Gemeinden zum Thema hatte. Darin beschrieb Herta Hoffmann das Programm eines Schabbat-Abends in der Lübecker Synagoge. Die Tatsache, daß in dem Artikel von "unserer Heimat Erez-Israel" die Rede war und daß der Abend mit dem Singen der "Hatikwa" beschlossen wurde, zeigt, daß zumindest die Veranstalter ihren Aufenthalt in Lübeck als Durchgangsstation ansahen. [89]

Diesen Gedanken äußerte in übergreifender Weise auch die bedeutende jüdische Persönlichkeit Rabbiner Dr. Leo Baeck in einem Vortrag in der Lübecker Synagoge, in der er im Rahmen einer Besuchsreise durch Deutschland Station machte. Er legte dar, daß es eine Zeit des Übergangs sei und die Welt, wie durch ein Erdbeben erschüttert, ihr Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden habe. Europa sei nicht mehr der Mittelpunkt. [90]

Drei Artikel hatten schließlich Vorfälle zum Thema, die das verständnislose bis offen feindselige Verhalten der nichtjüdischen Bevölkerung widerspiegelten: die negative Berichterstattung der Lübecker Nachrichten über den Zustand des von den Exodus-Flüchtlingen verlassenen Lagers Pöppendorf [91], die Schändung des jüdischen Friedhofs in Lübeck [92] und die Weigerung der Stadtverwaltung Eckernförde, die jüdische Gemeinschaft bei der Gestaltung eines Grabes zu unterstützen. [93]

Fazit

Die Zeitungen Undzer Schtime und Wochnblat geben Aufschluß über Organisationsstrukturen, Einrichtungen und einzelne Ereignisse im wesentlichen aus der Lebenswelt der jüdischen sogenannten DPs in Schleswig-Holstein, insbesondere im DP-Lager Neustadt. Es lassen sich daraus aber nur begrenzt Rückschlüsse auf die innere Verfassung und alltäglichen Probleme der Menschen ziehen, da die Artikel den Zustand immer auch bereits im Sinne der Programmatik der Zeitung reflektieren: Offensichtlich galten die Setzung positiver Bezugspunkte, die Betonung eigener Errungenschaften und der Wille zur Selbstbehauptung als der einzige Weg, der aus der schwierigen Situation herausführen konnte.

Der Informationsgehalt des Jüdischen Gemeindeblattes über die Situation der Juden in Schleswig-Holstein ist im Vergleich dazu wesentlich geringer und schlaglichtartiger. Inhalt und Umfang der Beiträge können jedoch als Ausdruck einer als unwiederbringlich angesehenen Zerstörung jüdischen Gemeindelebens gewertet werden. Die Berichterstattung aller drei Zeitungen war stark zionistisch geprägt, und Schleswig-Holstein bildete dementsprechend nur eine Station auf dem Weg nach Palästina.

Anmerkungen

1. Das Zitat, das als Titel des Aufsatzes gewählt wurde, entstammt der Zeitung Undzer Schtime, 12.7.1946.

2. Vgl. Dan Diner: Elemente der Subjektwerdung. Jüdische DPs in historischem Kontext. In: Fritz Bauer Institut (Hrsg.): Überlebt und unterwegs. Jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland. (= Jahrbuch 1997 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust). Frankfurt/Main 1997, S. 233.

3. Ebenda S. 240.

4. Vgl. PRO/FO 1030/300 Schreiben des Maj. Gen. R. H. Dewing, Chief of Staff, CCG (BE) an Under Secretary of State of War, 18.8.1945.

5. Vgl. Hagit Lavsky: Die Anfänge der Landesverbände der jüdischen Gemeinden in der britischen Zone. In: Herbert Obenaus (Hrsg.): Im Schatten des Holocaust. Jüdisches Leben in Niedersachsen nach 1945 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niederdersachsen und Bremen 38: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens nach 1945 Bd. 12). Hannover 1997, S. 213f.

6. Zitiert nach Wolfgang Jacobmeyer: Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951. (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 65). Göttingen 1985, S. 16.

7. Zur Geschichte der UNRRA vgl. George Woodbridge: UNRRA. The History of the United Relief and Rehabilitation Administration. 3 Bde. New York 1950. Zur Geschichte der IRO vgl. Louise W. Holborn: The International Refugee Organisation. A special Agency of the United Nations. Its History und Work 1946-1952. Oxford 1956. Zu den einzelnen Phasen vgl. Jacobmeyer a.a.O.

8. Vgl. Wolfgang Jacobmeyer: Jüdische Überlebende als "Displaced Persons". Untersuchungen zur Besatzungspolitik in den deutschen Westzonen und zur Zuwanderung osteuropäischer Juden 1945-1947. In: Geschichte und Gesellschaft Nr. 9 (1983), S. 444.

9. Vgl. Kurt R. Grossmann: The Jewish DP-Problem. Its Origin, Scope and Liquidation. New York 1951, S. 14f.

10. Vgl. dazu das Standardwerk zur "Brichah" von Yehuda Bauer: Flight and Rescue. Brichah. New York 1970.

11. Vgl. Malcolm J. Proudfoot: European Refugees 1939-1952. London 1957.

12. Vgl. Angelika Königseder, Juliane Wetzel: Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland. Frankfurt/Main 1994, S. 55.

13. Zahlenangaben nach Lavsky a.a.O., S. 204.

14. Vgl. Akte E 3090 Sozialministerium Schleswig-Holstein. Appendix "A" 22 Dec 45 to HQ/2900/Sec (Zon/PI(45)20). Anweisung an den Oberpräsidenten der Provinz Schleswig-Holstein. Hilfeleistungen für frühere Häftlinge der Konzentrationslager.

15. Vgl. Ursula Büttner: Not nach der Befreiung. Die Situation der deutschen Juden in der britischen Besatzungszone 1945-1948. Hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg. Hamburg 1986, S. 18f.

16. Vgl. PRO/FO 1049/891. Report by the Adviser on Jewish Affairs after a tour (Oct. 22-31, 1947) in the British Zone of Germany at the request of Lord Pakenham who required information on the representation of German Jews.

17. Vgl. dazu die Beiträge von Anke Quast und Hagit Lavsky in: Herbert Obenaus (Hrsg.): Im Schatten des Holocaust, a.a.O.

18. Vgl. Undzer Schtime (künftig US), 25.9.1945.

19. Vgl. PRO/FO 1052/281 Rundschreiben des Chief of PW&DP Division, MainHQ, CCG(BE), 19.11.1945.

20. Vgl. Jüdisches Gemeindeblatt (künftig JG), 25.6.1946.

21. Vgl. JG, 11.6.1947 und JG, 20.7.1947.

22. Bei dieser Frage sind weitere Nachforschungen notwendig. Die mir zugänglichen Quellen berichten von einer offiziellen Anerkennung Norbert Wollheims als Vertreter der jüdischen Gemeinden durch die britische Militärregierung im Jahr 1949.

23. Vgl. Büttner a.a.O., S. 36, und PRO/FO 1049/2106 Schreiben des Central Secretariat (ZECO), CCG Lübbecke an I.T.M. Pink, Esq., Political Division, Berlin 3.11.1947.

24. Vgl. Königseder, Wetzel a.a.O., S. 198.

25. Vgl. US, 12.7.1945. US, 12.7.1946. US, 12.7.1947 und die US Extra-Beilage zur Exodus-Affäre, 23.9.1947.

26. Vgl. Ber Kosowski: Bibliographie der jüdischen Ausgaben in der britischen Zone Deutschlands 1945-1950. Bergen-Belsen 1950, S. 7.

27. So lautet die Überschrift des Kapitels über die jüdische DP-Presse in der Dissertation von Jaqueline Dewell-Giere: "Wir sind unterwegs, aber nicht in der Wüste". Erziehung und Kultur in den jüdischen Displaced Persons-Lagern der amerikanischen Zone im Nachkriegsdeutschland 1945-1949, S. 246.

28. So wird z.B. in der Ausgabe US, 12.7.1947 im ersten Teil des Artikels in Wir-Form über einen Besuch in Neustadt berichtet, im zweiten Teil wiederum in Wir-Form über die Ereignisse vor Ort.

29. US, 29.11.1945. Alle Zitate wurden mir ins Deutsche übertragen. An dieser Stelle möchte ich Herrn Dr. Gilel Melamed danken, der mir half, die jiddischen Texte zu verstehen.

30. Zur Cap-Arcona-Katastrophe siehe Wilhem Lange: Cap Arcona. Das tragische Ende der KZ-Häftlingsflotte am 3. Mai 1945. Dokumentation. Eutin 1988, und Rudi Goguel: Cap Arcona. Report über den Untergang der Häftlingsflotte in der Lübecker Bucht am 3. Mai 1945. Frankfurt/Main 21982.

31. Vgl. US, 14.9.1947.

32. Vgl. US, 1.1.1946.

33. US, 25.1.1947.

34. Vgl. US, 29.11.1945.

35. Vgl. US, 25.1.1947.

36. Vgl. US, 1.1.1946.

37. Vgl. US, 25.1.1947.

38. Vgl. US, 12.7.1946.

39. Vgl. US, 1.1.1946.

40. Vgl. US, 14.9.1947.

41. Vgl. US, 25.1.1947.

42. Vgl. ebenda.

43. Vgl. ebenda.

44. Vgl. US, 14.9.1947.

45. Vgl. US, 12.7.1947.

46. Vgl. US, 14.9.1947.

47. Vgl. US, 30.10.1947.

48. Vgl. US, 1.1.1946.

49. Vgl. US, 25.1.1947.

50. Vgl. Wochnblat (künftig WB), 9.1.1948.

51. Vgl. WB, 13.2.1948, 23.4.1948, 11.6.1948.

52. Vgl. WB, 26.3.1948.

53. Vgl. US, 30.10.1947.

54. Vgl. ebenda.

55. Vgl. WB, 5.12.1947.

56. Vgl. US, 14.9.1947.

57. Vgl. US, 1.1.1946.

58. US, 1.1.1946.

59. Vgl. US, 12.7.1947.

60. US, 12.7.1947.

61. Vgl. US, 14.9.1947.

62. Die Beschreibung der Ereignisse basiert auf dem Artikel von Boris Kusne in US, 25.1.1947.

63. Aus dem Zeitungsartikel geht der Grund für die Durchsuchung und die Anordnung der Verlegung der DPs nicht hervor.

64. US, 14.9.1947.

65. Vgl. US, 15.4.1947.

66. Zur Exodus-Affäre vgl. Horst Siebecke, Die Schicksalsfahrt der "Exodus 47". Eine historische Dokumentation. Frankfurt/Main 1987, und Aviva Chalamisch: Exodus. Hasipur Ha'amiti. Tel Aviv 1990.

67. US, 23.9.1947.

68. Ebenda.

69. Ebenda.

70. WB, 30.1.1948.

71. Vgl. Hannes Harding: Displaced Persons (DPs) in Schleswig-Holstein 1943-1953. Magisterarbeit an der Universität Kiel. Kiel 1993, S. 83f.

72. Vgl. WB, 5.12.1947.

73. Sofern nicht anders angegeben, beruht die folgende Schilderung der Ereignisse auf einem Bericht der Zeitung Wochnblat, 19.12.1947.

74. WB, 5.12.1947.

75. WB, 19.12.1947.

76. US, 15.5.1947.

77. JG, 15.4.1946.

78. Ebenda.

79. Sondernummer JG, 15.11.1946.

80. Diese Charakterisierung stützt sich auf die Beschreibung Karl Marx' von Hans Lamm: Ein deutscher Jude. In: Hans Lamm und Hermann Lewy (Hrsg.): Brücken schlagen. Aufsätze und Reden aus den Jahren 1946-1962 von Karl Marx. Düsseldorf 1962, S. 5-8.

81. Vgl. Marcel W. Gärtner, Hans Lamm, E.G. Löwenthal (Hrsg.): Vom Schicksal geprägt. Freundesgabe zum 60. Geburtstag von Karl Marx, 9. Mai 1957. Düsseldorf 1957.

82. Die Resolutionen sind abgedruckt in US, 20.8.1947.

83. Im Gegensatz zu den Belsener Zeitungsredakteuren war Karl Marx nie im Zentralkomitee vertreten. Während in Undzer Schtime und Wochnblat keine Anzeigen zu finden waren, gab es sie im Gemeindeblatt als zusätzliche Finanzquelle.

84. Auskunft von Ilse Salomon, Kiel.

85. Vgl. JG, 20.7.1947.

86. Vgl. JG, 13.8.1947 und 12.5.1948.

87. JG, 28.4.1948.

88. Ebenda.

89. In einem Artikel des JG, 17.9.1948 wurde berichtet, daß sich eine Gruppe von jüdischen Menschen kurz vor der Auswanderung befand, unter ihnen auch Herta Hoffmann.

90. Vgl. JG, 8.10.1948.

91. Vgl. JG, 31.11.1947.

92. Vgl. JG, 14.5.1947.

93. Vgl. JG, 22.4.1949.

Im Original enthält dieser Beitrag fünf Abbildungen.


Die Autorin: Sigrun Jochim, geboren 1968 in Itzehoe, arbeitet zur Zeit an ihrer Dissertation über Juden in Schleswig-Holstein nach 1945.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 33/34

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