Wir berichten von einem Projekt lokaler Geschichtsarbeit, in deren Koordinationsgruppe Erich Koch von Beginn an mitgearbeitet hat und das durch die Person und den Fachmann Erich Koch wesentlich mitgeprägt wurde. Ihm widmen wir diesen Beitrag.
Der erste Aufruf ging von der Arbeitsgemeinschaft für politische Bildung im DGB "Arbeit und Leben" aus, dessen Sprecher Hermann Spieker in einem Presseartikel vom Juni 1988 formulierte: "Spuren-Ausstellung im Museum muß seine Fortsetzung finden [...] Wir finden es richtig, daß für Schleswig eine Art Geschichtswerkstatt ins Leben gerufen wird [...] Es wäre bedauerlich, wenn wir nach dem "Ende der Ausstellung 'Spuren' im Städtischen Museum nun auch einen Schlußstrich unter dieses Kapitel zögen". Der redaktionelle Text fährt fort: "Insbesondere die Bereiche Euthanasie und Deportation seien zu wenig erhellt".
Zum 14. Juni 1988 wurde die erste Einladung zu einem "Gesprächs- und Arbeitsabend im Rahmen der Geschichtswerkstatt" im Gewerkschaftshaus in der Schubystraße versandt. Er fand seine Fortsetzung im Herbst 1988 in der Volkshochschule. In einem von dem damaligen Museumsmitarbeiter Reimer Möller initiierten Aufruf von Ende 1988 in den Beiträgen zur Schleswiger Stadtgeschichte heißt es dazu: "Die Schleswiger Geschichtswerkstatt ist ein Zusammenschluß von Laien- und Fachhistorikern, die an der Stadtgeschichte interessiert sind, darüber selbständige Informationen sammeln, Nachforschungen anstellen und ihre Ergebnisse der Öffentlichkeit mitteilen".
Diese Ansätze blieben ohne nach außen erkennbare Ergebnisse, waren aber wichtig und dienten dazu, erstmalig Personen zusammenzuführen und Vorgehensweisen wie Arbeitsziele zu bündeln. Der Personenkreis umfaßte nie mehr als eine Handvoll zumeist zeitkritisch orientierter, damals jüngerer Leute, die ihr Vorhaben im Sinne einer Basisbewegung mit dem Ziel der Bewußtseinschärfung der Öffentlichkeit für zeitgeschichtliche Problemlagen in der Stadt verstanden.
Als das am meisten bedrängende Thema standen bald die noch weitgehend ungeklärten Vorgänge der Jahre 1933 bis 1945 in der damaligen Landesheilanstalt fest. Aus dem Kreis selbst, dem ganz überwiegend historisch nicht ausgebildete Geschichtsinteressierte angehörten, konnte man zu deren Aufhellung indes allenfalls mit den Methoden der Laienforschung beitragen.
Es stellte sich jedoch bald heraus, daß man dem Thema auf diesem Wege allein jedenfalls nicht beikommen konnte. Auf Initiative von Fachhistorikern, die der Geschichtswerkstatt verbunden waren, bildete sich deshalb bald eine Arbeitsgruppe aus Historikern und Ärzten mit dem Ziel, die NS-Geschichte der Heilanstalten Stadtfeld und Hesterberg aufzuarbeiten.
Im April 1990 fand im Landeskrankenhaus ein Gespräch zwischen den Zeithistorikern Klaus Bästlein und Reimer Möller sowie Frau Dr. Dörte Stolle als Leiterin der Klinik "Hesterberg", dem Verwaltungsleiter, Herrn Hiller, und der Ärztin Frau Seyler-Rinderspacher statt, bei dem in einer fünfstündigen Begehung die Aktenbestände gesichtet wurden: Nach dieser Aufnahme fehlt die Verwaltungsregistratur vor 1945 nahezu gänzlich, das Patientenaktenarchiv ist dagegen nahezu vollständig erhalten.
Diese Arbeitsgruppe blieb indes ein eher loser Zusammenschluß, und zu den Fragen der Zugänglichkeit von Akten im Landesarchiv entsponn sich ein, wenn notwendiger, so doch die konkrete Arbeit auch lähmender Streit in den Fußnoten und Leserbriefen der Fachliteratur. Klaus Bästleins Arbeiten zur Kindereuthanasie wurden vom verantwortlichen Arzt, Dr. Burckhardt, mit unglaubhaften Argumenten bis vor Gerichtsinstanzen widersprochen, und Reimer Möller verließ bald Schleswig mit einem Ruf auf die Stellung als Museumsdirektor in Soest.
Daß das Thema trotzdem im Bewußtsein blieb, dokumentiert eine Veranstaltungsreihe "Fünfzig Jahre nach den ersten Deportationen Behinderter und Kranker aus Schleswig", die vom 6. bis 8. Mai 1991 in der Volkshochschule stattfand und in der u.a. Klaus Bästlein über die Euthanasievorgänge in den damaligen Schleswiger Anstalten sprach und der Zeitzeuge Fritz Niemand über seinen Aufenthalt in der Heilanstalt "Stadtfeld" 1935-1940 berichtete. Im Stadtarchiv, dem städtischen Geschichtszentrum, bildete sich darauf ein wiederum "Geschichtswerkstatt" genannter Kreis von nichtprofessionellen Zeithistorikern und anderen an historischer Kulturarbeit Interessierten, der diesem Thema weiter nachgehen wollte.
Das Stadtarchiv, gut eingeführt als Forum historischer Projektarbeit sowohl auf der Ebene der Einzelforscher wie für Gruppengespräche, erwies sich als der gegebene Kristallisationspunkt für ein solches Vorhaben. Es wurden u.a. die Archivüberlieferung, die Lokalpresse und Sterbebücher geprüft, ohne daß von dieser Seite eindeutige Ergebnisse beizubringen waren. Ziel dieser Arbeitsphase war ein sogenannter Reader mit Dokumenten und Berichten zu den Vorgängen im Zusammenhang Euthanasie.
Diese Arbeit führte zu einem Gespräch der Geschichtswerkstatt mit dem Leiter der Fachklinik Stadtfeld, Dr. Michael Oschinsky, am 27. Januar 1992. Dabei wurde Einigkeit hinsichtlich einer Vorgehensweise auf zwei Ebenen erzielt: Die Aufarbeitung des Archiv- und Aktenmaterials kann nur von fachhistorischer Seite geleistet werden, entweder im Rahmen einer Hochschularbeit oder einer öffentlich geförderten Projektarbeit, als deren Träger das Sozialministerium gewonnen werden sollte.
Zweitens richteten sich Pläne auf die Einrichtung einer "Gedenkstätte zur Psychiatrie der NS-Zeit" in Schleswig, die sich gleichzeitig als Mahn-, Erinnerungs- und Arbeitsstätte verstand. Für den Sommer 1992 wurde von Seiten der Fachklinik die Einrichtung einer Organisationsgruppe zu diesen Arbeitsvorhaben in Aussicht genommen.
Vor diesem Hintergrund trat die Geschichtswerkstatt, zu deren Mitgliedern nun auch Erich Koch gehörte, mit Schreiben vom 3. April 1992 an die Leitung des gerade installierten Instituts für Schleswig-Holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte (IZRG) mit der Anregung heran, die "Aufarbeitung des Archivmaterials zum Thema 'Euthanasie' in Schleswig" in seine Projektvorhaben aufzunehmen. Mit Dr. Detlef Korte, Wissenschaftlichem Mitarbeiter des IZRG, stand unserer Sache ein engagierter Fürsprecher und Berater zur Seite. In Kooperation zwischen Fachklinik Hesterberg, Landesarchiv und IZRG konnte dieses Projekt nach langer Vorbereitung mit dem Schwerpunkt der Klinikgeschichte 1939-1945 auf dem "Hesterberg" schließlich 1995 aufgenommen werden. Dieses Projekt mündet in einer Dissertation.
Im Frühjahr 1993 wurde im Klinikgelände "Hesterberg" als Mahnmal zur Erinnerung an die hundertfache Kindertötung ein Gedenkstein aufgestellt. Aus Anlaß des 175jährigen Bestehens der Fachklinik "Stadtfeld" erschien 1995 eine von dem Klinikhistoriker Dr. Harald Jenner erarbeitete Krankenhausgeschichte, die einen Schwerpunkt auf die Zeit von 1933-1945 legte. An diesen Vorgängen war die Geschichtswerkstatt nicht mehr beteiligt. Sie hatte ihre Aufgaben als Anreger und Motor vorerst erfüllt.
Seit Mitte November 1992 war in einer Reihe von vorbereitenden Gesprächen zwischen der Geschichtswerkstatt im Stadtarchiv und der Seniorenreferentin der VHS der organisatorische und thematische Rahmen dafür abgesteckt worden. Der richtungsweisende neue Ansatz bestand in einer bewußt genutzten Kombination historischer Kulturarbeit und sozialer Bildungsarbeit, in diesem Fall mit Senioren, bei der die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie als Lebens-Geschichte in einen öffentlichen Zusammenhang gestellt wird.
Dabei wird methodisch ein ebenso einfacher wie erfolgreicher Weg beschritten: Seniorenarbeit verzichtet darauf, etwaige Defizite der Älteren zu kompensieren, sondern macht sich deren unbestreitbaren Informationsvorsprung zunutze: ihre Erinnerung in die zeitliche Tiefe, und trifft sich dabei mit dem in der Geschichtswerkstattsarbeit gut eingeführten Verfahren der Zeitzeugenbefragung.
Durch ein Flugblatt und Presseberichte wurde im Januar 1993 zur ersten Sitzung am 5. Februar aufgerufen. Als Veranstalter signierten die Volkshochschule und die Geschichtswerkstatt, die ihre Arbeit fortan als Koordinationsgruppe verstand, in der die Aktivitäten des Gesprächskreises gelenkt werden. Als Tagungsort konnte ein Raum in dem der Stadt Schleswig gehörenden "Plessenhof" gewonnen werden, einem zentral gelegenen Adelspalais des späten 18. Jahrhunderts, in dem sich das Stadtarchiv befand und die nötigen Räumlichkeiten vorhanden waren, aber insbesondere auch Möglichkeiten zur Küchenbenutzung bestanden. Kaffee und Gebäck waren von Beginn an unverzichtbare Ingredienzien jeder Gesprächsrunde.
Der Sitzungsturnus wurde auf monatliche Treffen am ersten Freitagnachmittag festgelegt. Die Veranstaltung war als regulärer Kurs in das Programm der Volkshochschule eingebunden. Unter dem Generalthema "Leben und Arbeiten in der Nachkriegszeit" sollte berichtet werden über Wohnung, Arbeit, Freizeit und Privatleben. Die Teilnahme war prinzipiell für alle offen, und die speziell angesprochenen Gruppen Einheimische, Flüchtlinge und Mitglieder der dänischen Minderheit standen stellvertretend für einen Querschnitt der Gesamtbevölkerung. Der dänische Kulturverein (SSF) und die AG "Arbeit und Leben" des DGB haben das Projekt von Beginn an stark unterstützt.
Auf dem ersten Treffen am 5. Februar 1993, mit 20 Teilnehmern gut besucht, wurden Themen, Ziele und Arbeitsformen vorgestellt. Die Gesprächsleitung übernahm Hendrike van Bergen. Die dort und in den folgenden Sitzungen formulierten Eckpunkte mußten in den nächsten Jahren nur unwesentlich verändert werden. Als Thema lag die Nachkriegszeit in Zeitzeugenberichten mit dem Schwerpunkt Alltagsgeschichte fest, als günstige Arbeitsform stellten sich für die zweistündige Sitzung in einem ersten Block schriftlich formulierte oder auch mehr aus dem Stegreif vorgetragene Berichte zu festgelegten oder selbstgewählten Themen heraus, denen nach einer Pause eine Diskussion und ergänzende Beiträge aus dem Plenum folgten.
Gelegenheit zum Vortrag erhielt grundsätzlich jeder. Die allermeisten haben das wahrgenommen, einige mehrfach. Die Beiträge wurden jeweils in der vorhergehenden Sitzung verabredet und vielfach durch zeitgeschichtliches Dokumentationsmaterial belegt. Neben den Berichten und Befragungen im Plenum wurde eine ganze Reihe von Einzelinterviews geführt. Von besonderer Bedeutung war die Aufnahme des gesamten Verlaufs aller Sitzungen und Interviews auf Videofilm und Tonband. Die Geräte stellte die VHS zur Verfügung. Das Abschreiben und insbesondere die gezielte Nutzung dieser Bänder erwies sich später als schwierig.
Der Plan, aus den Aufnahmen der Gruppensitzungen einen Videofilm zu gestalten, konnte noch nicht realisiert werden. Arbeitsziele bildeten einmal die Quellendokumentation durch schriftliche Aufzeichnungen, privates Dokumentationsmaterial und Berichte auf Ton- und Bildträgern, zum anderen die Vorstellung der Ergebnisse an die Öffentlichkeit durch eine Ausstellung - wie es lange geplant war - und durch eine Buchpublikation - wie es dann realisiert wurde.
Ein Kennzeichen dieser Arbeit war das wachsende Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Gruppe, das sich durch neu gestiftete Freundschaften unter Einzelmitgliedern, aber insbesondere auch durch wachsende Toleranz und Respekt innerhalb der durch unterschiedliche und teilweise gegensätzliche Sozialisationen und Kollektiverlebnisse geprägten Untergruppen kundtat. Immerhin nahmen an den Sitzungen durchschnittlich zwischen 30 und 50 Personen unterschiedlichster sozialer Zugehörigkeit teil.
Zu solchen Kollektiven gehörten, in vereinfachter Zuweisung, die Flüchtlinge auf der einen Seite und die Einheimischen, in denen mehrere Erfahrungshorizonte vertreten waren: die dänisch Gesonnenen, aus altem Arbeiter- und Gewerkschaftsmilieu Stammende, organisatorisch und politisch Neutrale und, bei Männern wie bei Frauen, Teilnehmer mit einer Haltung, die erkennbar für Verständnis gegenüber den Zuständen der NS-Zeit warben. Diese ganz unterschiedlich orientierten sozialen und politischen Karrieren äußerten sich zuweilen ausgesprochen konfliktträchtig. Je besser man sich kennenlernte, das ist der Gruppe hoch anzurechnen, wichen in einem Prozeß gegenseitigen Respektierens Reserve und Konfrontation Verständnis und Anerkennung des jeweils anderen.
Da der Akt der Erinnerung schmerzlich sein kann, setzte das öffentliche Sprechen in der Gruppe über persönliche Erlebnisse oft tiefliegende und halbverschüttete Emotionen frei; diese gleichsam ohne Sanktionen zeigen zu können, begründeten Respekt und Toleranz untereinander. Es wurde dabei kein Thema tabuisiert, Grenzmarken gruppenöffentlicher Stellungnahmen bildeten allerdings Verharmlosung oder Schönfärberei von NS-Verbrechen.
Die Gruppenintegration wurde zweifellos auch durch gemeinsame Exkursionen, etwa zu den KZ-Außenlagern Schwesing und Ladelund oder dem Jüdischen Museum in Rendsburg, und kleine Festessen gefördert. Im Laufe der Jahre hat sich die Gruppe nicht nur stabilisiert, auch in ihrem Teilnehmerstamm, sondern ein ausgesprochen produktives Eigenbewußtsein entwickelt.
Unter diesen Vorzeichen wurde bis zum Juni 1994 in insgesamt 16 Treffen ein Vielzahl von Themen der Schleswiger Nachkriegsgeschichte besprochen. Als Ergebnis erschien im Winter 1994 unter dem Titel ...Dies hat der Krieg angerichtet eine 160seitige Broschüre Schleswig in der Nachkriegszeit - Zeitzeugenberichte 1, in der nach sieben Themenbereichen geordnet in 33 Beiträgen ein Extrakt der eineinhalbjährigen Sitzungsperiode vorgelegt wurde. Zur Finanzierung der Druckkosten konnte neben örtlichen Sponsoren auch das Kultusministerium gewonnen werden.
Über die Konzeption dieses Bandes gab es in der Koordinationsgruppe abweichende Vorstellungen, in denen der erwünschte Zuwachs an historischer Erkenntnis für die Stadtgeschichte im traditionellen Sinne höher bewertet wurde als der Zeugniswert alltagsgeschichtliche Berichte aus dem Kreis des "Fußvolks der Geschichte". Möglichkeiten und Grenzen der "Geschichtsschreibung von unten" wurden in der Koordinationsgruppe gelegentlich auch kontrovers diskutiert, die Entscheidung konnte schließlich nicht anders als zugunsten des momentan Machbaren ausfallen.
Die Gewinne dieser Arbeit für eine Geschichte des Privaten Lebens im Nachkriegs-Schleswig sind beträchtlich, müssen im Detail indes von anderer Seite bewertet werden. Daß Gesprächskreismitglieder in vielen Fällen mit ihren Erlebnisberichten den zeitgeschichtlichen Unterricht in den Schulen vertieft haben und andererseits Schüler auf der Suche nach authentischen Zeugnissen oftmals die Gruppensitzungen besuchten und dabei auch einzelne Teilnehmer interviewt haben, kann im Sinne der Ausgangsprämisse, den Erinnerungsfundus von Senioren öffentlich zu nutzen, als besonderer Gewinn gebucht werden.
Diese Arbeiten trugen dem Gesprächskreis im Juni 1995 den als "Anerkennung und Förderung für kulturell schöpferische und kulturfördernde Leistungen" vergebenen Kulturpreis der Stadt Schleswig ein. In der Laudatio hieß es: "Dem Gesprächskreis Erzählte Geschichte gelingt über persönliche, weltanschauliche und Altersgrenzen hinweg die Aufarbeitung der persönlichen und städtischen Geschichte". Natürlich bildete diese öffentliche Anerkennung eine starken Antrieb zur Weiterführung der Arbeit.
Diese Veranstaltung wirkte in die Zukunft, nicht nur durch die Mahnung des Klinikleiters Dr. M. Oschinsky: "Wir dürfen nicht glauben, daß die radikale Distanzierung von den Ereignissen genügt. Vergessen und Verdrängen stellt sich den Menschenvernichtern an die Seite", sondern insbesondere auch durch die anschließende Gründung eines Arbeitskreises "Psychiatrie und Euthanasie im Nationalsozialismus", in dem sich unter der Leitung von Dr. Rothenberger Mitarbeiter aus Klinik, Geschichtswerkstatt und Gesprächskreis bis auf den heutigen Tag auf unterschiedlichen Ebenen um die Aufhellung der Euthanasievorgänge in Schleswig bemühen.
Noch deutlicher als im ersten Kurs erwies sich die von der Koordinationsgruppe aufgestellte Themengliederung in der Praxis als wenig förderlich. Die wichtigste Erfahrung war, wie mühsam Erinnerungsarbeit sein kann. Manche Münder, Köpfe und Herzen haben sich seit "damals" - die heutigen Senioren waren Kinder und Jugendliche - überhaupt das erste Mal geöffnet. Tief saß eine Befangenheit, vielleicht sogar eine Art Traumatisierung, ein Gefühl, ohne Schuld schuldig geworden zu sein, das viele Aussagen durchzog und, meist nur halb bewußt, auf "Verständnis" oder gar "Entschuldigung" drängte.
Als Ganzes gesehen ergeben die gesammelten Texte, durch Erinnerungslücken, innere Kontrollinstanzen und biographische Zwänge vielfach gebrochen, ein immer scherbenhaftes und verschlüsseltes, aber letztlich doch entzifferbares Zeichensystem gesellschaftlicher Zustände der NS-Zeit in Schleswig, ein codiertes Historiogramm mentaler Verhaltensmuster von Personen und Gruppen. Als Ergebnis dieser zweiten Sitzungsperiode erscheint im Herbst 1998 der Dokumentationsband Zeitzeugenberichte 2 unter dem Titel Wir wurden für den Krieg gebraucht - Schleswig in der Zeit des Nationalsozialismus.
Mittlerweile bildet der Gesprächskreis einen integrierten Teil des Kultur- und Soziallebens in der Stadt. Zum öffentlichen Interesse an den Ergebnissen seiner Arbeit seien nur zwei Beispiele angeführt: Im Winter 1997/1998 veröffentlichte die Schleswiger Nachrichten in loser Folge eine längere Artikelserie mit Beiträgen von Teilnehmern des Gesprächskreises, und die Seniorentage der Stadt Schleswig im Mai 1998 standen unter dem Motto "Erzählte Nachkriegsgeschichte" und wurden von Teilnehmern des Gesprächskreises mitgestaltet.
Ab Herbst 1998 versammelt sich der Gesprächskreis Erzählte Geschichte zu einer dritten Runde, die dem Thema der "Wirtschaftswunderjahre" gelten wird. Eine abschließende Wertung unseres Ansatzes von Theorie und Praxis historischer Bildungsarbeit ist an dieser Stelle weder angezeigt noch notwendig. Zielrichtung wie Ergebnisse dürften landesweit ihresgleichen suchen. In seiner über Jahre hin kontinuierlichen Arbeit nach dem Konzept - wie sich erwies - ertragreicher Symbiose von historischer Kulturarbeit und sozialer Bildungsarbeit mit Senioren hat der Schleswiger Gesprächskreis Erzählte Geschichte sowohl die Stadtgeschichte als auch die Teilnehmer bereichert.
Ders., Die "Kinderfachabteilung" Schleswig 1941 bis 1945, in: Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 20, 1991, S. 16 - 45.
Theo Christiansen, Schleswig 1836-1945. Eine Stadt und ihre Bürger. 2. Aufl., Schleswig 1991.
Ders., Schleswig und die Schleswiger 1945-1962, Schleswig 1987.
Gesprächskreis Erzählte Geschichte (Hrg.), "Dies hat der Krieg angerichtet...". Schleswig in der Nachkriegszeit. Zeitzeugenberichte 1, Schleswig 1994.
Ders., "Wir wurden für den Krieg gebraucht...". Schleswig in der Zeit des Nationalsozialismus. Zeitzeugenberichte 2, Schleswig 1998.
Harald Jenner, Die Geschichte einer psychiatrischen Klinik, Schleswig 1995.
Schleswig 1920-1945. Spuren. Von der Demokratie zur Diktatur, bearbeitet von Heike Heeren und Holger Rüdel, Veröffentlichungen des Städtischen Museums Schleswig 1, Schleswig 1987.
Schleswig 1945-1968, bearbeitet von Reimer Möller und Holger Rüdel, Veröffentlichungen des Städtischen Museums Schleswig 2, Schleswig 1989.
Hendrike van Bergen, geboren 1954; 1. Staatsexamen in Deutsch und Geschichte, arbeitet heute als Sozialpädagogin. 1992/93 Mitarbeit an der Entwicklung des Seniorenprogramms an der Volkshochschule Schleswig, seit 1993 in der Leitungsgruppe des Gesprächskreises Erzählte Geschichte in Schleswig.
Alfred Ebeling (Jahrgang 1952), Schmiedemeister und Maschinenbautechniker, arbeitet vor allem zu den Bereichen Antifaschismus, Antimilitarismus, Arbeiterbewegung, Sozialpolitik mit Veröffentlichungen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften. 1994-1998 Mitglied der Schleswiger Ratsversammlung, seit 1993 in der Leitungsgruppe des Gesprächskreises Erzählte Geschichte in Schleswig.
Christian Radtke M.A. (Jahrgang 1941), Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Archäologischen Landesmuseum. Publikationen zur mittelalterlichen Stadtgeschichte, 1976-1996 ehrenamtliche Leitung des Stadtarchivs Schleswig, seit 1993 in der Leitungsgruppe des Gesprächskreises Erzählte Geschichte in Schleswig.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 33/34