Im Jahre 2004 soll anläßlich des hundertjährigen Jubiläums der Auguste-Viktoria-Schule (AVS) in Itzehoe eine Festschrift erscheinen. Möglicherweise wird einer der darin enthaltenen Beiträge ein bereits 1999 von SchülerInnen verfaßter Aufsatz sein. Ob sich dieses Fernziel erreichen läßt, liegt in den Händen einiger AVS-SchülerInnen des jetzigen 13. Jahrgangs, die sich zu Beginn ihres letzten Schuljahres im Projektkurs "Die AVS in der NS-Zeit" zusammengefunden haben.
Der Projektunterricht wurde im Zug einer Oberstufenreform vor zwei Jahren als reguläres Schulfach eingeführt. Das Besondere an seiner Konzeption ist das selbstbestimmte, eigenständige und von der Lehrkraft unabhängige Arbeiten. So wird das Ergebnis bzw. der Erfolg des jeweiligen Projektkurses bestimmt vom Interesse der Schüler am Thema und ihrem daraus erwachsenden persönlichen Einsatz.
Das Angebot, im Rahmen eines solchen Projektkurses die Vergangenheit der eigenen Schule zu erforschen, weckte die Neugier von insgesamt 19 SchülerInnen. Die den Kurs leitende Geschichtslehrerin Gisela Schulz war von einer wichtigen Beobachtung zum Angebot des Themas motiviert – die in allen Medien und Fächern stattfindende Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, so ihr Gedanke, könnte die Schülerschaft thematisch übersättigen. Um einer etwaigen Abstumpfung der SchülerInnen vorzubeugen bzw. entgegenzuwirken, beschloß sie, das Thema im wahrsten Sinne des Wortes in die Schule zu holen. Der unmittelbare Vergleich von Schulalltag damals und heute bringt dem Kurs den Stoff auf einer gänzlich anderen Ebene nah, stellt ihn greifbarer dar, als jedes Schulbuch es vermöchte.
Inhaltlich stand für die Arbeit im Kurs "Die AVS in der NS-Zeit" nur fest, daß sich die TeilnehmerInnen mit der schulischen Erziehung der Jugend während der NS-Zeit auseinandersetzen würden. Denkbare Vorgehensweisen dafür schienen der Lehrkraft Auswertung originaler Dokumente, Recherche in Schul- und Stadtarchiv, Hinzuziehung von Sekundärliteratur sowie die Befragung ehemaliger Schülerinnen als Zeitzeugen zu sein; bis 1971 war die Schule ein reines Mädchengymnasium.
Um die potentielle Eigendynamik des Projektes nicht zu behindern, galt es, die inhaltliche Richtlinie relativ weit zu halten. Tatsächlich überlegten die SchülerInnen nach einigen Wochen der Ma-
terialsichtung, das Kursthema zu ändern und den gefundenen Dokumenten und Unterlagen entsprechend anders zu formulieren.
Letzten Endes blieb man beim Wortlaut des Themas "Die AVS in der NS-Zeit". Auch setzte sich der Kurs das eigene Ziel, die Arbeit am Schuljahresende in Form einer Ausstellung zu präsentieren. Je nach Neigung durchforsten seitdem die SchülerInnen das Schularchiv oder führen Zeitzeugengespräche mit Ehemaligen. Der Großteil des Kurses wälzt die in den Tiefen des Schulkellers lagernden Akten der 30er Jahre. Zwei Schüler haben es sich zur Aufgabe gemacht, Ordnung in das staubige Durcheinander zu bringen; bei Bedarf sollen spätere Jahrgänge ein systematisch einsehbares Archiv vorfinden. Andere Kleinstgruppen profitieren von dieser Katalogisierung der An-, Ab- und Ummeldungen, der Briefwechsel, der Erlässe, Zeugnisse und Reifeprüfungsunterlagen.
Aufgrund der begrenzten Zeit und Möglichkeiten erhebt die gemeinsame Bearbeitung des Themas keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Im Bewußtsein, nicht alle Facetten des Schulalltags gleichermaßen beleuchten zu können, beschäftigen sich die SchülerInnen mit unterschiedlichen, sie persönlich interessierenden Aspekten des Themas. Während ein Team Material über den Sportunterricht – die Leibeserziehung – und die über das Schuljahr verteilten Sportveranstaltungen sammelt, kümmert sich eine weitere Gruppe um damalige Festivitäten und Feierlichkeiten. Außerdem widmet man sich dem detaillierten Wochen- und Tagesablauf und wirft einen kritischen Blick auf die Lehrpläne.
Einige Schüler befassen sich mit dem Komplex Reifeprüfungen und den handschriftlichen Lebensläufen als Teil der Bewerbung zum Abitur, die – weil noch in deutscher Handschrift abgefaßt – für jugendliche LeserInnen gewöhnungsbedürftig sind. Des weiteren recherchiert eine Abordnung des Kurses im Stadtarchiv; allerdings sind letztere Ergebnisse ob eines derzeit dort durchgeführten Umbaus bisher kaum ausgereift.
Die Zeitzeugenbefragung liegt in den Händen von fünf Schülerinnen. Per Zeitungsaufruf suchte man nach ehemaligen Schülerinnen der AVS, appellierte jedoch auch an Schüler, die damals die Kaiser-Karl-Schule (Gymnasium für Jungen) besuchten. Natürlich fanden sich auch in den Reihen der eigenen Großeltern und in deren Bekanntenkreis hilfsbereite Gesprächspartner. Im Rahmen ihrer bisherigen Arbeit machten die Mitglieder der "Zeitzeugengruppe" die Erfahrung, daß die Angesprochenen dem Projekt zum Teil auch skeptisch gegenüberstehen, werden doch offenbar Schuldzuweisungen und Anklagen der kollektiven Mitschuld befürchtet. Um diese Ängste aus dem Weg zu räumen, erhält jede gesprächsbereite Person zur Vorbereitung auf das Interview einen von der Gruppe entworfenen Fragenkatalog. Dieser bietet zusätzlich die Möglichkeit, wenigstens einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede der individuellen Erinnerungen konkret abzufragen und miteinander zu vergleichen.
Die zugrundegelegten Fragen beziehen sich hauptsächlich auf den schulischen Bereich; außerdem interessiert die Verfasserinnen des Katalogs, inwiefern das familiäre Umfeld und die Freundeskreise dem nationalsozialistischen Einfluß unterlagen. Oft erleichtert
die Beantwortung des Fragenkatalogs den Einstieg ins eigentliche Gespräch mit den Zeitzeugen. Einmal aus der Reserve gelockt, entwickeln sich höchst spannende Interviews, von denen keines den anderen ähnelt. Nahezu alle werden aufgezeichnet.
Die Gespräche finden zu ungefähr gleichen Teilen im Schulgebäude oder am privaten (bisher stets mit Saft und Keksen gedeckten) Wohnzimmertisch des jeweiligen Zeitzeugen statt. Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich die Befragten ihre Schul- und Jugendzeit schildern. Die Entwicklung einer kritischen Distanz hat sich offensichtlich nur teilweise vollzogen. Zum jetzigen Zeitpunkt, an dem nur eine Zwischenbilanz möglich ist, steht lediglich fest, daß die Hitlerjugend bzw. der BDM allen bislang Befragten Spaß gebracht hat – wenn auch aus verschiedenen Gründen. Und noch etwas ist wichtig: Noch nie ist den Schülerinnen so deutlich geworden, daß niemand aus der Nachkriegsgeneration selbstsicher behaupten sollte, er oder sie hätte "nicht mitgemacht". An den Beispielen der Zeitzeugen und ihren Erzählungen läßt sich die naive Rolle eines winzigen Zahnrads in der großen Maschine NS-Staat leicht nachvollziehen.
Einige Zeitzeugen überlassen dem Kurs leihweise persönliche Erinnerungsstücke, Fotos, Urkunden und viele andere brauchbare Materialien. So entstand als Nebenprodukt der Zeitzeugenbefragung die Untersuchung von Schulbüchern aus der NS-Zeit. Vor allem Lesebücher des Deutschunterrichts sind durchzogen von nationalsozialistischem Gedankengut. Zur effektiven Teamarbeit gehört natürlich auch ein regelmäßig stattfindender Austausch von Ergebnissen der einzelnen Gruppen und Untergruppen des Projektkurses. Oftmals ergänzen sich Spuren, finden sich Übereinstimmungen zwischen recherchiertem Archivmaterial und Erzähltem. Allerdings tritt auch Widersprüchliches zutage. Sicher ist, daß man alle Auswertungen sehr sorgfältig vornehmen muß; gerade die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit ist immer noch ein heikles Thema.
Bis zur geplanten Ausstellung im Mai oder Juni diesen Jahres gilt es, noch eine Menge Arbeit zu bewältigen, zumal im Frühjahr für die Schüler des Kurses die Abiturprüfungen ins Haus stehen. Ob für das zu Beginn angesprochene Fernziel "Festschrift 2004" ein Beitrag abfällt, wird sich zeigen.
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 35 (April 1999) S. 67-69.
Die Autorin: Judith Dohnke (geb. 1979), Abiturientin an der Auguste-Viktoria-Schule Itzehoe und Teilnehmerin des Projektkurses zur Geschichte dieser Schule in der NS-Zeit.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 35