Was geschieht mit dem Stück Kupferrohr, daß die KlempnerIn abgesägt hat und in die Restkiste entsorgt? Es darf darauf hoffen, wieder eingeschmolzen zu werden, um gegebenenfalls erneut als Kupferrohr anderen HandwerkerInnen zu begegnen. Was geschieht mit all den herausgenommenen Kapiteln aus Dissertationen, den Hunderten von Quellen die "dann doch nicht ausgewertet" werden oder mit den zwar sehr interessanten, aber gar nicht zur Argumentationsführung des Projektes passenden Arbeitsschritten? Sie verschwinden in der Versenkung, mit etwas Glück wird noch eine Fußnote daraus.
Dem wunderbaren Thema der Fußnote hat die Zeitschrift WerkstattGeschichte bereits eine Rubrik gewidmet.
Zufällig erschlossenen Quellen, Quellen mit besonderem Wert für andere oder für eine ganze Forschungsdiskussion sowie die Erfahrungen der Quellenerschließung bleiben anderen zu oft vorenthalten. Zudem sind HistorikerInnen Eichhörnchen, denen das Teilen und Verteilen nicht immer leicht fällt. Sie sammeln Quellen, die man ja irgendwie, irgendwann noch einmal verwerten und publizieren könnte. Nicht allzu gern gibt man etwas aus der Hand, damit andere einen Nutzen davon haben. Was wundert es, ist doch der Qualifizierungsdruck enorm.
Die meisten Forschenden graben sich in Archiven und Bibliotheken durch teilweise beachtliche Quellenbestände, die in der Regel auf zwei Haufen geschichtet werden: den kleinen mit dem Titel "Quellen für mein Projekt" und den großen "alles, was ich nicht gebrauchen kann". Aber letzterer Haufen kann für andere im Lande sehr wohl von Bedeutung sein und ein Austausch über Quellenbestände wäre wünschenswert.
In der festen Überzeugung, daß "Geschichtsforschung" der gesamte Prozeß des Recherchierens und nicht nur das fertige Produkt ist, also genauso die Stofflichkeit einer Quelle [1] beinhaltet wie das gute oder schlechte Essen in einer Archivkantine – von der Beratung in Archiven mal ganz zu schweigen – soll auch den "Nebenprodukten", verstreuten Gedanken, entlegenen Fundstellen, Erfahrungen im Forschungsprozeß und dem großen Stapel "alles, was einzelne nicht gebrauchen können" eine stärkere Beachtung geschenkt werden. Eine kritische und kreative Geschichtswissenschaft kann von einem Austausch nur profitieren, sowohl von dem zwischen FachkollegInnen als auch zwischen den Disziplinen.
Die folgenden Gedanken und Beispiele sollen anregen, künftig in der Rubrik "Berichte" der Informationen solche Funde vorzustellen, wie es an einer eigenen "Fundsache" aus dem Archiv der sozialen Demokratie in der Friedrich-Ebert-Stiftung (AdsD/FES in Bonn) demonstriert werden soll.
KeineR der AutorInnen hat explizit auf eine Täter/Opfer-Dichotomie bestanden, und dies soll weder den AutorInnen noch den Informationen unterstellt werden. Auch fordert der Akens nicht dazu auf, andere Artikel zu schreiben, wenn doch dies die aktuellen Forschungsbereiche sind. Dennoch – und das ist keine spezifische Bedingung des Akens – muß festgestellt werden, daß die Erforschung und Darstellung weiter Gesellschaftsbereiche im Nationalsozialismus nicht erfolgt ist. Dies gilt leider im besonderen Maße für einige Widerstandsforschung, hier begegnet uns häufiger stark entkontextualisierte Darstellungsweise. Zweifelsohne ist dies dem Umstand geschuldet, daß es zunächst einmal darum ging (oder auch
weiterhin geht), einzelne Detailfakten herauszuarbeiten und zu dokumentieren. Das dieser Haltung zu Grunde liegende "Antifaschismus-Paradigma" hat möglicherweise mehr verschüttet als geklärt [2], sein anhaltender wissenschaftlicher Ertrag bleibt auf Dokumentation und Erinnerung beschränkt.
Das der Nutzung der nachfolgend beschriebenen Quelle zu Grunde liegende Interesse war die Suche nach dem Wirken eines vormaligen KPD-Angehörigen aus der dänischen Emigration nach der Niederlage des NS in Kiel. In dieser Quelle fand sich leider kein Hinweis auf die Person, lediglich in den Protokollen des "Vorbereitenden Ausschusses" im Stadtarchiv Kiel fanden sich zwei sehr gewichtige Hinweise.
Die archivalische Überlieferung des DGB liegt heute im AdsD in Bonn, und auch das IG-Metall-Archiv (ehem. Frankfurt a.M.) dürfte mittlerweile den Weg dorthin gefunden haben. Ältere Publikationen erwähnen immer noch das DGB-Archiv Düsseldorf, das ist aber schon länger nicht mehr aktuell. Für den Schleswig-Holstein betreffenden Teil ist das Findbuch "DGB-Nordmark" (einschließlich Hamburg und dem Unterlauf der Elbe) ausschlaggebend. Der vorhandene Quellenbestand ist recht gut verzeichnet, Verzeichnung und Akteninhalt stimmen zudem auch überein, was nicht immer selbstverständlich ist. Alles zusammen sind dies nicht unwesentliche Kriterien für eine wissenschaftliche Nutzung.
In den Akten Nr. 52 und 76 (vielleicht auch noch in weiteren Akten des Bestandes DGB-Nordmark) sind 19 ausgefüllt Fragebögen folgender Schleswig-Holsteiner Gliederungen auf Orts- und Kreisebene abgeheftet. Sie betreffen: Ortsauschuß Kiel und Lübeck, Kreisausschuß Neumünster, Schleswig, Rendsburg, Oldenburg i.H., Plön, Pinneberg, Norderdithmarschen, Nebenstelle des Kreisausschusses Schleswig in Friedrichsstadt/Eider, Nebenstelle Kappeln/Schlei, Barmstedt/Krs. Pinneberg, Nebenstelle Elmshorn, Burg a.F., Neustadt i.H., Schönwalde, Krs. Oldenburg i.H., Heiligenhafen, Lunden.
In der Regel werden die Fragen nur knapp beantwortet. In einem Fall kritisiert der Kreisausschuß auch die Knappheit der Angaben einer Nebenstelle, und nur Kiel fügt eine eigene Abhandlung
bei. Aber: Neben dem organisationsgeschichtlichen Quellenwert, der sich aus der Beantwortung der Fragen ableitet, soll insbesondere eine Frage in den Mittelpunkt dieser Betrachtung gerückt werden. Abgesehen von den Angaben zu Ort, derzeitiger Bezeichnung der Organisationsgliederung und Umfang des lokalen Zuständigkeitsbereichs lautet sie:
"10. Welche Funktionäre haben sich führend am Aufbau betätigt?" [4]
Hierzu werden von den Ausfüllenden zwischen fünf und 20 Personen genannt. Insgesamt werden – teils mit Arbeitsstelle und Angabe zum Geschlecht, teils nur als Nachname, aber auch mit kompletten Geburts- und Meldeangaben – 183 Personen namentlich erwähnt. Und das prädestiniert die Quelle zur weiteren Untersuchung.
Jüngst in die Diskussion gebrachte Begriffe zum Verhalten von Arbeiterschaft im Nationalsozialismus und in anderen totalitären Systemen wie "Indifferenz" (Sebastian Sims/Berlin) und der bekanntere Ansatz des "Eigen-Sinns" (Alf Lüdtke/Göttingen) scheinen es wert, diskutiert und am lokalen Beispiel überprüft zu werden. Beide haben letztlich die Selbstdeutung der Subjekte im Fokus und nicht mehr die Interpretation in der "Draufsicht". Als Beispiel mag hier wohl das Mißverständnis erwähnt werden, daß Streiks im Nationalsozialismus einen systemoppositionellen Charakter gehabt hätten, was nur im Einzelfall zutreffend gewesen sein mag. Der organisierte Faschismus begriff dies sehr wohl und handelte hier doch recht differenziert: Indem sehr wohl auseinandergehalten werden konnte, was ein Arbeitskonflikt sei, den es auch im NS geben konnte – auch wenn es ihn nicht geben sollte – oder wo das ideologische Konstrukt des NS angegriffen wurde.
Also: Zunächst könnte die Frage, wie die Gewerkschaftsneugründung nach 1945 in Schleswig-Holstein ablief, anders beantwortet werden als nur in einer organisationsgeschichtlichen "Draufsicht", wie dies Friedrich Stamp mit seiner 1997 veröffentlichten Dissertation Arbeiter in Bewegung leistet. Die Fragen, wer aber beteiligt war und welche sozialen- und politischen Biographien in der Weimarer Zeit und im NS dem zugrunde liegen, könnte dann aus den verschiedenen Perspektiven, so auch der Selbstdeutung der Subjekte, betrachtet werden.
Aus den Entschädigungsakten, zu denen bereits eine Reihe von Erfahrungen vorliegen, aus den Entnazifizierungsakten – auch hier haben einzelne Personen schon einen Überblick gesammelt – und (mit politisch geringerer Bedeutung) den Lastenausgleichsverfahren im Bundesarchiv-Bayreuth (hier liegt Neuland!) ließe sich möglicherweise eine Kollektivbiographie erstellen, die außerordentlich befruchtend für die wissen-
schaftliche Diskussion sein könnte.
Kollektivbiographien bedürfen in der Regel einer größeren wissenschafts-technischen Organisation, aber 183 GewerkschaftsneugründerInnen oder auch das verschüttete Projekt von Detlef Korte zu den 78 Kreisleitern können – legt man nicht in der Fragestellung das Ergebnis bereits fest – keineswegs zu den wissenschaftlich unlösbaren Projekten zählen. Und auch wenn von 183 Personen nur ein Teil der Biographien zu klären wäre: die Methode wäre erprobt und könnte in Dissertations- oder anderen Forschungsprojekten auf eine größere Grundgesamtheit angewendet werden.
1. Vgl. Axel Dossmann, Einladung zur Fußnote, in: WerkstattGeschichte, Nr. 14, S. 106f.; WerkstattGeschichte, Nr. 5, Themenheft: Archive, darin: Arlette Farge, Vom Geschmack des Archivs, S. 13 -17.
2. Vgl. Stephan Braese, Fünfzig Jahre "danach". Zum Antifaschismus-Paradigma in der deutschen Exilforschung, in: Rückblick und Perspektiven. München 1996, S.133 - 149 (= Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Band 14).
3. Vgl. Friedrich Stamp, Arbeiter in Bewegung. Die Geschichte der Metallgewerkschaften in Schleswig-Hostein, Malente 1997. Stamp berührt diesen Quellenbestand im AdsD zwar, zieht für seine Beschreibung der Gewerkschaftsentwicklung auch einige Informationen aus dieser Quelle, ist aber weit davon entfernt, den eigentlichen Wert der Quelle – zumindest in diesem Buch – zu erkennen. Ihm – wie auch eingeschränkt Detlev Siegfried – muß eine gewisse Betriebsblindheit hinsichtlich der Neugründungsbemühungen von Organisationen in Elmshorn, Lübeck und insbesondere Kiel bescheinigt werden. Gremien wie der Kieler "Vorbereitende Ausschuß" und die stadtweite "Betriebsrätevollversammlung" als höchste politsche Organe auf deutscher Seite in den ersten Nachkriegsmonaten stellen ausgesprochen syndikalistische Organisationsformen dar. Das scheint keiner erkannt zu haben.
4. Die Fragen lauteten:
"1. Wann fanden die ersten Zusammenkünfte von Funktionäre statt?
2. Wann fanden die ersten genehmigten Versammlungen des Ortskartells statt?
3. Wann wurde das Ortskartell offiziell, also mit Zustimmung der Militärregierung gegründet?
4. Wurde ein Ortskartell, eine Einheitsgewerkschaft oder eine Allg. Gewerkschaft gegründet?
5. Welche Ortsverwaltungen der Gewerkschaften oder Betriebsgewerkschaften gehörten dem Kartell bei Gründung an?
6. Wann konnten die örtlichen Gewerkschaften ihre ersten Versammlungen abhalten?
7. Wann wurde ein Gewerkschaftsbüro eröffnet? Wer stellte Räume zur Verfügung? Wie wurden Büroeinrichtungen und Büromaterialien beschafft?
8. Wie erfolgte die Kassierung?
9. Sind in der Zwischenzeit eigene Büroräume bezogen?
[...]
11. Wann wurden Sekretäre eingestellt?
12. Wann hat das Orts-Kreiskartell die Verbindung mit zuständigen Bezirken aufgenommen?
13. Wie war die Zusammenarbeit mit a) Militärregierung, b) Örtlichen Behörden?"
und unter Ziffer 14. war Platz gelassen für "Besondere Ereignisse" (Verbote, Inhaftierungen, Ablehnungen von Funktionären).
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 35 (April 1999) S. 69-73.
Der Autor: Thomas Pusch, Jg. 1963, 1992 Magisterexamen in Göttingen (Thema: Methodische und theoretische Aspekte der zeithistorischen Lokal- und Regionalgeschichte, 1993 – 1995 Mitarbeiter der Geschichtswerkstatt Göttingen e.V., 1996 bis März 1999 wissenschaftlicher Angestellter des IZRG. Arbeitet z.Zt. an seiner Promotion Die Erfahrungen des politischen Exils, darüber hinaus umfangreiche Recherchen zur Zerschlagung der KPD im Bezirk "Wasserkante", speziell in Kiel. Weitere Interessen- und Arbeitsschwerpunkt: Migrationsgeschichte/Staatsangehörigkeitsrecht, Umweltgeschichte/Historische Umweltforschung. Lebt in Hamburg-Neuengamme.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 35