Die RedakteurInnen aus den Gedenkstätten Neuengamme, Bergen-Belsen, den Universitäten Hannover und Hamburg und dem Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager dieses dritten Bandes der Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland legen mit dem Themenband "Die frühen Nachkriegsprozesse" eine weitere, durchaus aktuelle Zusammenstellung neuerer Forschungen vor. Neben diesem thematischen Schwerpunkt wird die Funktion eines Forums der Gedenkstätten allein dadurch unterstrichen, daß 100 von 233 Seiten den Rubriken vorbehalten sind. Ein Teil der Werkstattberichte deckt Aktivitäten von Geschichtsinitiativen verschiedener Namensgebung und institutioneller Anbindung ab. Es ist nicht allein ein Problem der Redaktion der Beiträge, daß der Eindruck entsteht, Schleswig-Holstein hätte mit den Beiträgen nichts zu tun.
Die Themenstellung dieser Reihe stellt einen norddeutschen Zusammenhang von NS-Forschung oder ForscherInnen vor, bei dem zu fragen wäre, warum dieser nur auf der Ebene der Gedenkstätten vorhanden ist. Die vier "armen" norddeutschen Bundesländer weisen eine so intensive Vernetzung, Wechselwirkung oder Abhängigkeit zueinander auf, daß sich für kaum eine andere Region ein Forschungsverbund mehr anbieten würde.
Die "frühen" Nachkriegsprozesse – abgegrenzt zu den "späteren" Verfahren zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (NSG) – zeichnen sich durch zwei Bedingungen aus: Zum einen spielten hier die juristischen Prämissen der britischen Militärregierung eine ausschlaggebende Rolle bzw. die Prozesse fanden hier ihre Regie, und zum anderen fanden sie unter dem unmittelbaren Eindruck der Tat statt. Treffend wird von der Redaktion bemerkt, daß bei den Initiatoren der Gerichtsverfahren im Vordergrund stand, neben der Intention der juristischen Aufarbeitung und Sühne von Straftaten die Funktion einer gesellschaftliche Aufklärung über den NS zu erreichen. Den Prozessen kam die Funktion eines moralischen Lehrstücks zu.
Der gute Überblick über die Artikel des Bandes aus dem Editorial von Regina Mühlhäuser kann an dieser Stelle übernommen werden: Sie weist darauf hin, daß viele bekannte Kriegsverbrecher gar nicht erst vor Gericht gestanden haben und die Urteile extrem mild ausfielen. Die meisten Verurteilten sind später rehabilitiert worden, während sich in großen Teilen der Öffentlichkeit eine weitgehende Ablehnung gegenüber den Prozessen aufbaute. Diese Entwicklung der Nachkriegsprozesse wird in mehreren Fallstudien thematisiert: Hermann Kaienburg untersucht die britischen Militärgerichtsprozesse zu den Verbrechen im KZ Neuengamme. Alexandra-Eileen Wenck weist in ihrem Aufsatz "Verbrechen als 'Pflichterfüllung'?" nach, daß auch die Hauptverantwortlichen des KZ Bergen-Belsen in der Regel nicht vor Gericht gestanden haben: Während der britischen "Belsen-Prozesse" waren es nicht die eigentlichen Täter des Konzentrationslagers,
die angeklagt wurden, und die wenigen bundesdeutschen Verfahren endeten mit Freisprüchen und geringen Haftstrafen.
Auch in dem Beitrag "Die Wachleute des KZ Fuhlsbüttel" geht es um Prozesse, die unter britischer Militärhoheit durchgeführt worden sind: Durch die Vorstellung der Biographien einzelner Mitglieder des Wachpersonals erläutert Herbert Diercks, daß sich viele Angehörige der Wachmannschaften vor Gericht verantworten mußten, während ihre Vorgesetzten niemals unter juristischer Anklage standen.
Der Beitrag von Gregor Espelage über das Arbeitserziehungslager Liebenau/Weser fällt etwas aus dem Rahmen der Aufsätze heraus. Hier wird schwerpunktmäßig die Verflechtung von staatlichen und privat-industriellen Interessen nachgezeichnet und auf die Bedingungen eines Ausbleibens der Anklageerhebung hingewiesen.
Die von Nürnberg ausgehende bzw. im Zuge der Nürnberger Anklagen und ihrer Nachfolgeprozesse bisher singulär betriebene juristische, moralische und völkerrechtliche Aufarbeitung des NS war – oft kritisierter – Maßstab für alle weiteren Bestrebungen, die Fälle von staatlicher Massengewalt zu ahnden. Bisher vergeblich. Die Diskussion zwischen den 50. Jahrestagen der Prozesse und den völkerrechtlichen Bemühungen, die Gewaltverbrechen im ehemaligen Jugoslawien oder auch in Ruanda zu ahnden, stellt Norman Paech vor.
Sehr positiv kann vermerkt werden, daß sich drei Beiträge zu den thematischen Quellen äußern (Rubrik "Bestandsübersichten und Methodik", S. 110-148). Rainer Schulze wendet sich der Quellenüberlieferung in britischen Archiven zu (S. 110-119), Rolf Keller stellt ebenfalls Quellen aus britischer Herkunft im Zentralnachweis der Landeszentrale für politische Bildung in Hannover vor, Arnold Jürgens und Thomas Rahe gehen methodischen Problemen einer statistischen Datenauswertung von Quellen zum KZ Bergen-Belsen nach. Derartige Rubriken könnten durchaus auch Bestandteil der Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte sein, da sie sowohl den professionellen HistorikerInnen als auch den Laien bzw. nebenberuflichen HistorikerInnen viele Mühen ersparen.
Besondere Aufmerksamkeit fanden die Beiträge beim Rezensenten immer dann, wenn in ihnen konkrete Arbeitsbedingungen zu erkennen waren, etwa beim Erfahrungsbericht von Marva Karrer über ein Interview-Projekt mit ehemaligen Häftlingen aus Bergen-Belsen sowie bei weiteren Werkstattberichten.
Aber: Beim Lesen der Einzelbeiträge verschwindet nicht das Gefühl, daß keine wirklich neuen Erkenntnisse und Sichtweisen gewonnen werden. Es bestätigt sich, was man vermutet hatte: Viele Täter standen nie vor Gericht, und wenn, dann... Das schmälert nicht den Wert der Einzelbeiträge, sondern verweist vor allem darauf, daß wirklich weiterbringende Forschungen hier noch ausstehen.
Wahrscheinlich erst mit dem Auschwitz-Prozeß und dem Wirken des legendären Fritz Bauer begannen die NSG-Prozesse wieder eine ähnliche, aufklärerische Wendung zu nehmen, wie sie in den britischen Prozessen angelegt war (das Fritz-Bauer-Institut/ Frankfurt am Main führte hierzu ein eigenes Erinnerungsprojekt zur Rezeption durch). Alles, was zwischen diesen Eckpunkten – dem Beginn der NSG-
Verfahren in allein deutscher Regie in Norddeutschland 1951 und den Auschwitzprozessen 1963/65 – liegt, ist wissenschaftlich kaum bearbeitet, sieht man von vereinzelten juristisch und moralisch inspirierten Abhandlungen ab.
Welche Wechselwirkung bestand zwischen den NSG-Verfahren in bundesdeutscher Regie und der Einbettung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Nachkriegsgesellschaft? Wie wirkten diese bei der Durchsetzung eines gesellschaftlichen Konsenses im Umgang mit dem NS? Eine gesellschaftliche Funktionsanalyse der juristischen Aufarbeitung oder Bearbeitung des NS deuten auch die hier versammelten Beiträge erst an. Welche – möglicherweise norddeutschen – Aktivitäten könnte es in zukünftigen Forschungsschritten geben? Der Band eröffnet hier keine Diskussion, sondern stellt lediglich eine Bilanz vor. Spätestens hier fällt auf, daß sich kein Beitrag mit der Vorstellung von Quellenbeständen in den norddeutschen Archiven befaßt oder sich methodische Gedanken über deren zukünfte Bearbeitung macht.
Neben dem thematischen Hauptteil und der Bestandsübersicht folgen noch die auch in früheren Jahrbüchern zu findenden Rubriken ("Dokumentation", "Meldungen", "Verfolgten-Verbände und Gedenkstätten-Initiativen", "Didaktik der Erinnerungsarbeit", "Projekte, Forschungen und Archive", "Tagungsberichte", "Filme"), ein Besprechungs- und Annotationsteil sowie Hinweise auf die neuere Literatur. Die fortlaufende Bibliographie bleibt jedoch merkwürdig selektiv und unspezifisch.
Thomas Pusch
KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrg.): Die frühen Nachkriegsprozesse. Bremen: Edition Temmen 1997. 233 S. (= Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland; Heft 3)
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 35 (April 1999) S. 74-76.
Der Rezensent: Thomas Pusch, Jg. 1963, 1992 Magisterexamen in Göttingen (Thema: Methodische und theoretische Aspekte der zeithistorischen Lokal- und Regionalgeschichte, 1993 – 1995 Mitarbeiter der Geschichtswerkstatt Göttingen e.V., 1996 bis März 1999 wissenschaftlicher Angestellter des IZRG. Arbeitet z.Zt. an seiner Promotion Die Erfahrungen des politischen Exils, darüber hinaus umfangreiche Recherchen zur Zerschlagung der KPD im Bezirk "Wasserkante", speziell in Kiel. Weitere Interessen- und Arbeitsschwerpunkt: Migrationsgeschichte/Staatsangehörigkeitsrecht, Umweltgeschichte/Historische Umweltforschung. Lebt in Hamburg-Neuengamme.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 35