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Himmlers Polizei und Heydrichs Elite

Der NS-Staat und die von ihm ausgeübte Terror- und Vernichtungspolitik hat eine Vielzahl von Forschungsfragen ausgelöst. Daß sich die Fragestellungen im Verlauf der Jahrzehnte veränderten, liegt in der Natur der Sache und gibt gleichzeitig viele Auskünfte über die jeweilige Zeit. Daß sich in Deutschland erst spät der Forschungsschwerpunkt auf die Dimension der NS-Vernichtungspolitik richtete, sagt beispielsweise bereits viel über die deutsche Vergangenheitsbewältigung aus. Es war offensichtlich ein gehöriger Abstand zum NS-Staat nötig, um sich der Dimension der Verbrechen stellen zu können. Und es war ein nächster Schritt der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, sich mit dem Ausmaß der Beteiligung der Angehörigen der verschiedenen NS-Herrschaftsorganisationen am Holocaust zu beschäftigen. Das betrifft insbesondere die Institutionen, in denen NS-Täter den demokratischen Neuaufbau nach 1945 organisierten, wie beispielsweise Justiz und Polizei.

Daher ist es zwar zu bedauern, daß erst jetzt die Polizei in den Blickwinkel


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der Forschung gelangt, liegt aber in der Natur der Sache. So sind in jüngerer Zeit verschiedene Untersuchungen zur Polizei im NS-Staat vorgelegt worden. Bei Schöningh erscheinen seit ein paar Jahren in der Sammlung zur Geschichte und Gegenwart verschiedene Studien, die die Protagonisten des Holocaust im SS- und Polizeiapparat eingehender darstellen. Die beiden hier vorzustellenden Bücher beschäftigen sich einerseits mit der Polizei im NS-Staat insgesamt, und andererseits mit dem Führerkorps der Sipo und des SD, also den Offizieren von Gestapo, Kripo und dem Sicherheitsdienst der SS.

Die Darstellung von Friedrich Wilhelm Die Polizei im NS-Staat gibt einen Gesamtüberblick über die Polizei von 1933-1945. Der Untertitel "Die Geschichte ihrer Organisation im Überblick" ist hier Programm. Es handelt sich nicht um eine Vertiefung. Das Buch hat vom Aufbau her Handbuchcharakter und – um es gleich zu sagen – einen eingeschränkten Blickwinkel.

Bei Wilhelm erfährt man, wann sich welche organisatorischen Veränderungen bei der Polizei vollzogen, wie sich die Zuständigkeiten wandelten. Das Buch enthält eine Vielzahl von Übersichten und Kurzbiographien von höheren Polizeiführern.

Wer nach den Hintergründen der organisatorischen Entwicklung der Polizei im NS-Staat fragt, wird hier kaum fündig. Die Konsequenzen der polizeilichen Arbeit im Nationalsozialismus werden hier ebenfalls kaum thematisiert. Doch ohne die Aufgabenveränderung der Polizei im NS-Staat weitreichender zu thematisieren, fehlt schlicht eine wesentliche Erklärung der organisatorischen Veränderungen. Zwar werden beispielsweise in einem Kapitel die am Holocaust direkt beteiligten Polizeieinheiten von Wilhelm aufgeführt. Ein derartiger Fokus tendiert allerdings dazu, die "normale" Polizeiarbeit im "Osteinsatz" zu verharmlosen – immerhin war der sogenannte "Bandeneinsatz", in dem sich die Ordnungspolizeieinheiten im Regelfall befanden, in seiner Konsequenz nichts anderes als Massenmord.

Die Quellen, mit denen Wilhelm arbeitet, sind im wesentlichen die Organisationsbefehle und Anordnungen aus dem NS-Polizeiapparat. Damit ergibt sich die Schwierigkeit, daß eine Begrifflichkeit – gerade in Zitaten – benutzt wird, deren Sinn die Verschleierung von Verbrechen bzw. die Abqualifizierung von NS-Opfern ist. Leider baut Wilhelm hier nicht die nötige Distanz zum NS-Vokabular auf. Ein Beispiel: Auf Seite 81 wird die Neuordnung der Kriminalpolizei

Dennoch gibt das Buch von Wilhelm insgesamt einen guten Überblick über die Polizeientwicklung im NS-Staat, wie sie bisher noch nicht vorlag. Die letzte Veröffentlichung zum Thema stammt von Hans Buchheim, ist 1964 erschienen und inzwischen doch etwas überholt.

Einige der Fragen, die bei Wilhelm unbearbeitet bleiben, werden von Jens


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Banach beantwortet. Er hat in einem enormen Arbeitsaufwand die Herkunft und Sozialisation des gesamten Führerkorps der Sicherheitspolizei (Sipo) und des SD (Sicherheitsdienst) der SS zusammengetragen. Hieraus entwickelt er eine Kollektivbiographie der Sipo- und SD-Führer. Damit schließt er eine Forschungslücke in einem Bereich, in dem bisher viel spekuliert wurde.

Wer waren die Organisatoren des Holocaust? Wir kennen einzelne Namen und ihre Lebensläufe. In ihrer Gesamtheit sind sie uns bisher unbekannt. Wie war eine so große Anzahl von Männern – um die geht es hier ausschließlich – imstande, derart technokratisch den Massenmord zu organisieren und durchzuführen?

Banach tastet sich in zwei Teilen, "Formierende Kräfte I und II", an die Denkstrukturen der Führerschaft von Sipo und SD heran. Im ersten Teil untersucht er Herkunft und Sozialisation. Er sucht hier Häufungen in der Altersstruktur und der sozialen Herkunft. Wo waren die gemeinsamen Prägungen in der Kindheit, in welchem Alter wurde der Erste Weltkrieg erlebt, und welche sozialen Deklassierungen schuf die Weimarer Zeit? Das Gros der Sipo- und SD-Führer war nach 1900 geboren, also zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in den Dreißigern und hatte entsprechend am Ersten Weltkrieg nicht teilgenommen, also die legendäre "Frontprägung" nicht erhalten. Damit unterschieden sie sich deutlich von den SA-Führern oder anderen NSDAP-Funktionären.

Ihre Jugend erlebten sie in der Weimarer Republik, die Masse hatte studiert (in der Mehrzahl Jura) und bekam aufgrund der Wirtschaftskrise zu Ende der Weimarer Republik meist erst im NS-Staat eine gesicherte berufliche Perspektive. Die Mehrzahl entstammte der aufstrebenden Mittelschicht des Kaiserreichs, erlebte Weimar demnach als eine Zeit der sozialen Deklassierung.

Im zweiten Teil der "formierenden Kräfte" stellt Banach die Ideologie und Elitebildung dar. Hier zeigt er auf, wie diese "zu spät Gekommenen" das fehlende Kriegserlebnis durch eine Übersteigerung des Wertesystems der Frontgeneration des Ersten Weltkriegs kompensierte:

"Der Kampf erforderte >Härte<, Härte sich und anderen gegenüber. Härte bedeutete zum einen die soldatische Komponente, antrainiert während einer militärischen Ausbildung, u.U. gnadenlos bis zur Zerstörung von persönlicher Eigenständigkeit und zum anderen die weltanschauliche Komponente. Auch diese war inhuman und gnadenlos, entsprang sie doch der nationalsozialistischen Weltanschauung; sie forderte Gefühllosigkeit, Unbarmherzigkeit und Unmenschlichkeit gegenüber allen Gegnern. Mit der unbedingten Härte hob man sich gegenüber denjenigen ab, die diese Einstellung nicht aufbrachten." (S. 93).

Dieser Gefühlshaushalt der Sipo- und SD-Führerschaft wurde in dem Elitedenken der Ordensgemeinschaft gebündelt, einer Ordensgemeinschaft, die sich als gesonderte Elite innerhalb des SS-Ordens sah.

Es gibt allerdings – Banach führt umfangreiche Vergleiche durch – erhebliche Unterschiede innerhalb des Führerkorps, die weitgehend in der institutionellen Entwicklung von Sipo und SD liegen. So mußte Reinhard Heydrich bei den staatlichen Polizeizweigen, also der Gestapo und Kripo, einerseits Rücksichten auf die fachliche Qualifikation


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der leitenden Beamten nehmen, die sich nicht ohne weiteres aufbauen ließ. Andererseits gab es auch die Personalknappheit und das Vorhandensein alter leitender Beamter, die eine Formung des Führerkorps in diesen Polizeizweigen nicht zuließen, wie es beim SD der Fall war. Das führte zu Abstufungen: Während die SD-Führer am weitgehendsten dem Idealtypus von Heydrichs Vorstellungen entsprachen, waren die Kripo-Offiziere mehrheitlich erheblich älter und anders sozialisiert. Der Verschmelzungsprozeß von Kripo, Gestapo und SD war erst Ende der dreißiger Jahre in der Ausbildung begonnen worden und wurde durch die Personalknappheit im Krieg zusätzlich gebremst, so daß er zu Kriegsende noch weit vom Ziel entfernt war.

Banach skizziert das Ziel des künftigen Staatsschutzkorps des NS-Staates anhand der Entwicklung der Inspekteure von Sicherheitspolizei und SD sowie anhand der Personalpolitik und die Entwicklung der Ausbildungsrichtlinien und künftigen Laufbahnplanungen. Auf diese Weise ist nicht nur zu erfahren, woher die Sipo- und SD-Führer kamen, sondern auch, wohin die Entwicklung des Führerkorps zielte.

Leider bleiben doch ein paar Schönheitsfehler zu vermelden. So führt die statistische Auswertung der Gesamtuntersuchungsgruppe zu einem Mangel an Anschaulichkeit, der leider durch die umfangreichen tabellarischen Aufstellungen verstärkt wird. Das ändert aber nichts daran, daß Heydrichs Elite ein wichtiges Grundlagenwerk ist für alle, die sich mit den Tätern des NS-Staates beschäftigen.

Stephan Linck

Friedrich Wilhelm: Die Polizei im NS-Staat. Die Geschichte ihrer Organisation im Überblick. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 1997.

Jens Banach: Heydrichs Elite. Das Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936-1945. Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh 1998.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 35 (April 1999) S. 78-81.


Der Rezensent: Stephan Linck (Jahrgang 1964) ist Historiker und hat über die Entwicklung der Polizei von 1933 bis 1949 am Beispiel der Flensburger Polizei promoviert.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 35

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