Der Heyde/Sawade-Skandal hat Schleswig-Holstein drei Jahre lang erschüttert. Fassungslos stand die Öffentlichkeit 1959 vor der Tatsache, daß der mit Haftbefehl gesuchte und im Fahndungshandbuch ausgeschriebene NS-Massenmörder Prof. Dr. Werner Heyde – oberflächlich getarnt unter dem falschen Namen Dr. Fritz Sawade – in Flensburg eine neue Karriere hatte aufbauen können. Mit Erschütterung nahm man die breite Solidarität zur Kenntnis, auf die er sich hatte stützen können. Denn seine tatsächliche Identität und seine Verstrickung waren in seinem persönlichen und beruflichen Umfeld ein weithin of-
fenes Geheimnis.
Was wurde ihm vorgeworfen? Prof. Dr. Werner Heyde, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, hatte den unter dem Deckmantel der Euthanasie verübten nationalsozialistischen Massenmord an Behinderten an maßgeblicher Stelle mitorganisiert. Von Mai 1940 bis Dezember 1941 war er Leiter einer Tarnbehörde der "Kanzlei des Führers", der "Zentraldienststelle T 4" und ihrer (Medizinischen) Abteilung I, gewesen. Als einer der "Obergutachter" hatte er selbst über Leben und Tod entschieden. Insgesamt wurde ihm Mitschuld an der Ermordung von mehr als 100.000 Menschen zur Last gelegt.
Um die Angehörigen der Opfer und die Öffentlichkeit zu täuschen, gab es in Heydes Dienststelle eine "Absteckabteilung", die die Herkunftsorte der Totgeweihten kartierte und durch gezielte Planung der Sterbetage sicherstellte, daß es nicht zu auffälliger örtlicher und zeitlicher Häufung von Todesfällen kommen konnte. Die "Trostbriefabteilung" verschickte die Todesmitteilungen an die Angehörigen mit fiktiver Unterschrift und falschen Angaben zur Todesursache, die auf die Krankengeschichte und die Konstitution des Mordopfers abgestimmt war. Der verbrecherische Zynismus, mit dem Heydes Verwaltung die "Aktion T 4" durchgeführt hat, ist bemerkenswert.
SS-Standartenführer Prof. Heyde wurde 1945 kurz vor Kriegsende mit seiner Würzburger SS-Lazarettabteilung nach Grästen/Dänemark verlegt und geriet dort in britische Gefangenschaft. Bis 1947 wurde er in den Civil Internment Camps Neumünster-Gadeland und Eselsheide bei Paderborn festgehalten. Seine Lage spitzte sich dramatisch zu, als das Landgericht Frankfurt/M. am 29. Oktober 1946 einen Haftbefehl wegen Mordes gegen ihn erließ.
1947 sollte Heyde im Nürnberger Ärzteprozeß als Zeuge aussagen. Auf dem Transport nutzte er die Unachtsamkeit des Wachpersonals und floh. In Kiel verschaffte er sich auf dem Schwarzmarkt falsche Papiere auf den Namen Dr. Fritz Sawade, arbeitete ein Jahr als Gärtner und fand dann Unterkommen in Flensburg. Mit Unterstützung von Fachkollegen gelang es ihm dort, sich eine Existenz als nervenärztlicher Sachverständiger bzw. Gutachter für Landesversicherungsanstalt, Versorgungsamt und Arbeitsamt Flensburg, Berufsgenossenschaften, Sozialgericht Schleswig, Landessozialgericht und viele andere Institutionen aufzubauen. Ungeheuerlicherweise hatte er, der ehemalige SS-Arzt, auch Überlebende von KZ-Haft zu begutachten und mitzuentscheiden, ob ihnen Entschädigung für erlittene Verfolgungsschäden zustehe.
Seine Gutachtertätigkeit war so einträglich, daß er ein Haus erwerben und Kraftfahrzeuge halten konnte, zuletzt einen "Borgward Isabella TS" aus der gehobenen Preisklasse. "Dr. Sawade" wirkte neun Jahre lang, bis ein Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Kiel seine Entlarvung veranlaßte. Aufgefordert, seine Approbationsurkunde dem Amtsarzt in Flensburg vorzulegen, verließ Heyde/Sawade die Stadt. Schließlich stellte er sich den Behörden, wurde in Untersuchungshaft genommen und beging Selbstmord, bevor sein Strafverfahren eröffnet werden konnte.
Klaus-Detlev Godau-Schüttke hat die Geschichte des Skandals nachgezeichnet und die politischen Bedingungen in
Schleswig-Holstein analysiert, die ihn möglich gemacht haben. 1950 war das politische Klima einer kritischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nicht günstig. Die Landtagswahl dieses Jahres hatte einen Rechtsrutsch ergeben und dem reaktionären "Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten" Regierungsbeteiligung eingebracht. "Entrechtet" war das euphemistische Etikett im Parteinamen für ehemalige Nationalsozialisten, die das bürokratische Verfahren der "Entnazifizierung" durchlaufen hatten. Vorsitzender dieser Partei war der ehemalige SS-Hauptsturmführer Waldemar Kraft. In der Presse wurde die neugebildete Landesregierung kritisch als "Koalition aus SA, SS und NSDAP" angesprochen.
Im selben Jahr stellte die Kieler Staatsanwaltschaft ihr Ermittlungsverfahren zur Durchführung der sogenannten Euthanasie in Schleswig-Holstein ein. Godau-Schüttke arbeitet heraus, daß die Ermittlungen nicht mit der gebotenen Nachdrücklichkeit und Sorgfalt geführt worden sind. An rückhaltloser Aufklärung hatte die Verfolgungsbehörde kein Interesse, weil Gefahr bestand, aufdecken zu müssen, daß die Justiz 1941 offiziell zur Mitwisserin der "Euthanasie"-Verbrechen gemacht worden ist und die rechtswidrige Anweisung erhalten und befolgt hat, auf das Anstaltsmordprogramm bezogenen Anzeigen aus der Bevölkerung nicht nachzugehen.
Godau-Schüttke diskutiert die Personalpolitik verschiedener schleswig-holsteinischer Ministerial-, Justiz- und Gesundheitsverwaltungsbehörden der Nachkriegszeit und belegt detailliert die ausgeprägte "Renazifizierungstendenz". Viele Beamte und Richter waren während des Zweiten Weltkriegs an nationalsozialistischen Gewaltverbrechen im "Osteinsatz" oder am Justizterror dieser Periode beteiligt. Aufgrund solcher biografischen Hintergründe konnten diese Amtsträger nach 1945 kein Interesse haben, die Ahndung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen zu fördern. Im Gegenteil: Für einen Täter wie Heyde/ Sawade wirkte sich das Beziehungsgeflecht der Verstrickten begünstigend aus.
Die Bilanz der strafrechtlichen Aufarbeitung des Heyde/Sawade-Skandals ist katastrophal. Die Mitwisser, die Heyde/ Sawade gedeckt und begünstigt haben, sind unbestraft davongekommen. Zwei Verurteilungen hat es gegeben: gegen Heydes Ehefrau wegen Betrugs, weil sie sich fälschlich als Witwe ausgegeben und dadurch eine Hinterbliebenenrente erschlichen hatte, und gegen den kritisch berichtenden Reporter Volkmar Hoffmann der Frankfurter Rundschau wegen Beleidigung.
Godau-Schüttkes Untersuchung ist auf qualifiziertes Publikum abgezielt. Seine Schilderung der relativ komplizierten Vorgänge und Zusammenhänge und die vielen eingeführten Personen stellen Anforderungen an das Konzentrationsvermögen der Leserschaft. Imponierend ist die Menge des verarbeiteten Archivmaterials des Landtages, der Landesministerien für Justiz und Soziales, der Staatskanzlei, der Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig und der Staatsanwaltschaften in Flensburg und Kiel. Zur Klärung der Beamten-, Mediziner- und Richterbiografien sind Akten des ehemaligen Sondergerichts Kiel und der ehemaligen Marinejustiz herangezogen worden, außerdem Unterlagen der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung
nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg.
Klaus-Detlev Godau-Schüttke ist Richter in Itzehoe und hat sich mit kritischen Forschungen zum historischen Versagen seines Berufsstandes in der jüngeren Geschichte einen Namen gemacht. Sein erstes Buch mit dem sarkastisch-ironischen Titel Ich habe nur dem Recht gedient über das Scheitern der Entnazifizierung der schleswig-holsteinischen Justiz nach 1945 (Baden-Baden 1993) und seine hier vorgestellte Darstellung der Heyde/Sawade-Affäre sind wertvolle Beiträge zur politischen Geschichte unseres Landes.
Reimer Möller
Klaus-Detlev Godau-Schüttke: Die Heyde/Sawade-Affäre. Wie Juristen und Mediziner den NS-Euthanasieprofessor Heyde nach 1945 deckten und straflos blieben. Baden-Baden: Nomos Verlag 1998. 337 S.
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 26 (1994) S. 85-88.
Der Rezensent: Reimer Möller, geb. 1956, Historiker. 1978-1988 Stadtarchivar in Glückstadt, 1983 AKENS-Gründungsmitglied, 1988 Magister-Examen (Widerstand und Verfolgung in einer agrarisch-kleinstädtischen Region: SPD, KPD und 'Bibelforscher' im Kreis Steinburg (1933-1945). In: ZSHG 114 (1989), S. 125-227), 1988/89 ABM-Angestellter im Städtischen Museum Schleswig, 1989/90 Zeitangestellter in der Volkskundlichen Gerätesammlung des Schleswig-Holsteinischen Landesmuseums, seit 1990 Museumsleiter in Soest. 1997 Promotionsprüfung (Industrialisierung, soziale Ungleichheit, politisches Organisations- und Konfliktverhalten im Landkreis Steinburg, 1860-1933).
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 35