Im dritten Kreis der Hölle wurde die "Vernichtung durch Arbeit" befohlen. Auschwitz III war im System des industriell organisierten Massenmordes der Teil der Todesmaschine, in dem die zuvor an der Rampe selektierten und nicht sofort zum Gas bestimmten Todeskandidaten für die Kriegsproduktion restlos ausgepreßt wurden. Auschwitz III, das war die Vernichtung im Industriekomplex der Monowitz-Buna-Werke mit einigen randständigen Lagern, zu denen auch das Lager "Fürstengrube" gehörte. Dort ließ die IG Farben Kohle abbauen, um daraus Benzin für ihre Kriegsmaschinerie zu gewinnen.
Als diese Todesmaschine auf Hochtouren lief, schufteten 1.300 Sklaven in "Fürstengrube". Etwa 85 bis 90 Prozent von ihnen waren Juden. Die nationale Zusammensetzung der Häftlinge schwankte stark, denn die Vernichtungsgeschwindigkeit war enorm. Es waren wohl in erster Linie polnische und ungarische Juden, gefolgt von Juden aus Belgien und den Niederlanden, die sich im "Warteraum ins Gas" (Auschwitz-Hefte) aufhielten. Nur die Robustesten hielten Hunger, Sklavenarbeit, Folter, Beleidigungen längere Zeit aus.
Einige wenige hatten die Möglichkeit, besondere Überlebenstrategien anzuwenden, um dem Geruch des Todes zu entkommen. Denn mitten im Inferno gab es eine kleine Idylle, eine "Gartenlaube" (G. Hoch). Sie gehörte dem Bedienungspersonal der Todesmaschine. Darunter waren mordlustige, sadistische Quäler wie der erste Lagerführer in Fürstengrube, Otto Moll. Es gab jedoch auch beunruhigend viele Durchschnittsmenschen nach der Art von Rudolf Höss, bei denen sich die Arbeit als Massenmörder nicht mit persönlicher Grausamkeit und teuflischem Sadismus verband. Sie waren im privaten Umgang wenig bösartig und roh, sondern kunst- und ordnungsliebend, pflichtbewußt, vielleicht mit einem Hang zur Romantik.
Der Bauernsohn Max Schmidt aus Sarau (bei Ahrensbök in Ostholstein) scheint von dieser Art gewesen zu sein. Er baute mit Bedacht und weiser Voraussicht eine Kulturecke in seiner "Gartenlaube" auf. Musiker, Komponisten, Sänger und Schauspieler bekamen die
Chance, Abwechslung in das öde Tagesgeschäft der Mörder zu bringen. Mitten im dritten Kreis der Hölle spielte ein Orchester, komponierte ein Musiker Operetten, führte man in einem Theatersaal Lustspiele auf. "Man erlebte den Lagerführer, die SS, auch den Lagerältesten, nicht mehr als Schinder und unmittelbar persönliche Bedrohung, sondern als beifallspendendes Publikum, als Versorger mit mancherlei Annehmlichkeiten, als schützende Hand, die, wenngleich blutig, ihnen jedenfalls das Leben schenkte, die Zukunft offen hielt", schreibt Gerhard Hoch (S. 71).
Als das Ende des Naziregimes vor der Tür stand, begannen im Januar 1945 die Todesmärsche der Arbeitssklaven. 1.200 Häftlinge aus Fürstengrube marschierten – begleitet von Lagerführer Max Schmidt auf dem Motorrad – nach Gliwice. Jeder, der nicht mithalten konnte, wurde sofort erschoßen. Nur noch 180 Häftlinge kamen schließlich am Ende der 2. Etappe, einem Transport in offenen Kohlenwaggons, in Nordhausen an. Unter ihnen auch die Musiker und Theaterleute und begabte Handwerker, die den Nazischergen gute Dienste leisten konnten.
Auf der nächsten Station, in Blankenburg (Harz), wo die Häftlinge zur Zwangsarbeit in einem Bauunternehmen getrieben wurden, spielte schon wieder eine Lagerkapelle. Und während die Befreier immer weiter vorrückten, konzentrierten die Peiniger die Häftlingsströme zu einem weiteren Todesmarsch in Richtung Magdeburg. Dort wurden etwa 1.000 Menschen in einen Schleppkahn gestopft und vier Tage ohne Verpflegung elbabwärts bis Lauenburg und über den Elbe-Trave-Kanal bis Lübeck verschifft. Auch diese wenig romantische Schiffsreise begleitete das Häftlingsorchester, das dafür mit Lebensmitteln versorgt wurde.
Die letzte Etappe mußte wieder zu Fuß bewältigt werden. Max Schmidt führt den Zug menschlichen Jammers in seine Heimatgemeinde Sarau. In einer Wellblechscheune auf einem freien Feld und auf einen Gut im nahen Glausau ging der dritte Todesmarsch zu Ende. Nur die "Kulturpromis" durften als spezielle Freunde des Max Schmidt auf seinem Hof im relativ warmen Schweinestall kampieren. Sie konzertierten sogar im Dorf. Dort hörte man gelegentlich Schüsse, die Zeitzeugen noch heute im Ohr haben. Menschen wurden exekutiert, etwa weil sie eine Rübe geklaut hatten. Niemand wollte jedoch genau wissen, was geschah. Es gab keine Anzeige, keine Totenscheine.
Bekanntlich grassierte schon bald nach dem Krieg im Volk der Täter eine Amnesie. 'Wir haben von nichts gewußt. Wir haben nur unsere Pflicht getan. Wir haben auch gelitten' – das waren die Merksätze einer gnadenlosen Einfühlungsverweigerung.
In Sarau taucht der Hauptverantwortliche Täter, Lagerführer Max Schmidt, unter. Und es gibt Opfer, die ihm dabei helfen. Es sind jene "Hofjuden", die er schon in "Fürstengrube" ausgehalten hat. Sie verstecken ihn, scheren seinen Kopf und bringen am linken Arm eine Häftlingsnummer an. Aus Max Schmidt wird Max Hinz, und der verschwindet nach Ibbenbüren. Nach etlichen Jahren traut er sich zurück. Erst 1964 wird ein Verfahren gegen ihn eröffnet, das 1979 ohne Anklageerhebung wegen Verjährung eingestellt wird.
In Ahrensbök blieb die Erinnerung an die Vergangenheit fest unter Verschluß.
Selbst die Sozialdemokraten weigerten sich beharrlich, daran zu rühren. Erst die Arbeit von Gerhard Hoch, der 1984 eher zufällig auf die Spur der Vorgänge stieß, legt jene Vergangenheit, die nicht vergeht, bloß.
Sein Buch ist eine genau recherchierte, faktenreiche Rekonstruktion der Ereignisse. Der Autor drückt sich nicht um die Deutung offener Fragen, die etwa das Verhalten der "Hofjuden" aufwirft. Hoch denkt und schreibt vom Standpunkt der Opfer aus. Er versucht jedoch auch die Motive und Handlungsmöglichkeiten der Täter zu verorten, und er fragt nach der Verantwortung von Politik und Kirche.
Darüber hinaus leistet das Buch einen aktuellen Beitrag zur Diskussion um die angemessene Form des Gedenkens und Erinnerns. Ahrensbök ist überall. Noch immer meiden in Schleswig-Holstein viele Kommunen die Konfrontation mit der braunen Vergangenheit. Sie ist nach wie vor virulent und muß mit großer Kraftanstrengung verdrängt werden. Und sie wird, verbal und nonverbal, tradiert. Wenn es zu ausländerfeindlichen Anschlägen kommt, schrecken die "aufgeklärten" Bürgerinnen und Bürger gelegentlich auf und zünden Kerzen an. Sie konfrontieren sich jedoch nicht mit den häßlichen Narben, die das Herrenmenschtum in ihrer Kommune und unser aller Denken und Fühlen eingegraben hat. Die Frage, mit welchen Denkmustern wir heute unsere Privilegien sichern gegenüber Asylsuchenden, Armutsflüchtlingen und dem unterentwickelt gehaltenen Teil der Welt, wird nicht mehr gestellt.
Gerhard Hochs Buch hat in Ahrensbök Denk- und Erinnerungsprozesse ausgelöst. Dort gibt es inzwischen eine Gruppe engagierter Menschen, die gegen das Vergessen arbeiten. Die relativ seltene Erscheinung, daß ein eher ortsgebundenes Buch der Zeitgeschichte eine zweite Auflage erlebt, zeigt, daß es bis heute eine starke Wirkung ausübt.
Christine Weber-Herfort
Gerhard Hoch: Von Auschwitz nach Holstein. Die jüdischen Häftlinge von Fürstengrube. Hamburg: Dölling und Galitz Verlag 1998. Unveränderte Neuauflage des 1990 im VSA-Verlag erschienenen Buches.
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 26 (1994) S. 88-90.
Die Rezensentin: Christine Weber-Herfort, geboren 1944 in Saarbrücken, seit 15 Jahren freie Journalistin und Rezensentin für Rundfunk und Printmedien. Schwerpunkte: Zeitgeschichte, Politische Psychologie, Frauenbewegung.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 35