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Kein "...sehr trübes Kapitel"!

Kein "sehr trübes Kapitel" ist das nach einigen Verzögerungen nun erschienene Buch von Lorenz/Misgeld/Müssener/ Petersen zur Emigration in Skandinavien. Mit diesem Sammelband von 16 skandinavischen und deutschen AutorInnen präsentiert sich die Exilforschung zu den skandinavischen Exilländern in einer bemerkenswerten thematischen und methodischen Bandbreite, die neuere Forschungsparadigmen reflektiert und – das sei zu Beginn gleich gesagt – überzeugen kann. Das Untersuchungsziel der AutorInnen, eine Sozialgeschichte der "anonymen" Flüchtlinge, der "kleinen Leute" in der Emigration zu schreiben und sich von einer Exilgeschichte der "Prominenten" zu lösen, hat damit große Fortschritte gemacht.

Nicht ganz so ungetrübt sind einige Begleitumstände der Veröffentlichung: Z. B. fehlte die zum Verständnis des


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Gesamtprojektes zentrale Information, daß dieser Band von mehrheitlich skandinavischen AutorInnen in Skandinavien selbst nicht veröffentlicht wurde, wenngleich es dort eine öffentliche Vorstellung mit ZeitzeugInnen und AutorInnen gab. Der Mitherausgeber Helmut Müssener (Universität Stockholm) verwies im Gespräch mit dem Rezensenten im September 1998 auf das fehlende öffentliche Interesse am Thema in Skandinavien.

Unbeantwortet bleibt leider ebenso die Frage, warum dieser Sammelband in der Schriftenreihe des IZRG erschienen ist, denn IZRG-Angehörige treten weder als AutorInnen noch als HerausgeberInnen in Erscheinung. [1] Als Band 1 der institutseigenen Schriftenreihe erschien im Herbst 1996 die Gestapo-Studie von Gerhard Paul (Staatlicher Terror und gesellschaftliche Verrohung), der dritte Band über das Sondergericht Altona/Kiel kam Anfang 1999 heraus. Der vorliegende zweite Band gibt darauf keinen Hinweis und nennt lediglich den Umstand, daß der Institutsmitarbeiter Dr. PD Robert Bohn für die Schlußredaktion zuständig gewesen sei. Auch der während der Buchpräsentation herbeibemühte Hinweis auf die Brückenfunktion von Schleswig-Holstein zwischen Skandinavien und Mitteleuropa mag mehr für die Errichtung eines Fährterminals als Begründung herhalten als für die Veröffentlichung eines Sammelbandes. Sei es drum: Wenn es dem Zwecke diente, den Band möglichst rasch den LeserInnen zur Verfügung zu stellen, dann dürfen die diesbezüglich weiterhin offenen Fragen zunächst einmal zurückgestellt werden, denn die seit längerem fertiggestellten Beiträge hatten es verdient, zügig zur Publikation zu kommen.

So speziell die meisten Einzelbeiträge des Bandes auf den ersten Blick auch sein mögen, so sehr kann ihnen der exemplarische Charakter der Fragestellung bescheinigt werden: Alle Beiträge kreisen um die Themen "politisches Exil" und "Flüchtlingspolitik". Tina Jacobsen ("Frauen im dänischen Exil"), Klaus Misgeld ("Folgen des Exils: Wechselseitiges Lernen und besseres gegenseitiges Verstehen") und insbesondere Jörg Lindner ("Diskriminierung, Degradierung, Disziplinierung: Deutschsprachige Flüchtlinge in schwedischen Internierungslagern während des Zweiten Weltkrieges") heben sich in der Fragestellung wohltuend vom Mainstream der auf Einzelbiographien Prominenter fixierten Exilforschung ab. Gerade aus deutscher Perspektive wird dabei häufig allzu beharrlich nach dem "anderen" oder "besseren Deutschland" gesucht.

Mehrheitlich stellen die Autoren Fragen an die Quellen, die relevant und richtig sind: Die Beschreibung klärt exemplarisch eine Wechselwirkung zwischen EmigrantInnen und Gastland und versucht, konkrete Lebensrealität zu recherchieren und zu deuten (ganz dickes Lob an die AutorInnen!), statt nur Beschlüsse, Protokolle und Richtlinien auf "Erfolg" oder "Mißerfolg" zu untersuchen.

Lindners Versuch, Foucaults Überwachen und Strafen auf die Situation der in Schweden 1940 – 1945 internierten KommunistInnen anzuwenden, zeigt den wohl kreativsten Weg, einem an sich bekannten Faktum eine völlig neue Sichtweise abzugewinnen: Er demonstriert, daß erst Quellenauswahl und Fragestellungen einen Forschungsge-


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genstand konstituieren. Lindner arbeitet heraus, daß die Wechselwirkung zwischen den Interessen der LagerinsassInnen [2] und der Leitung, respektive Polizei und Regierung, geradezu auf einem Mißverständnis beruhte. Auch wenn es eindeutig feststellbare politische und vor allem sicherheitspolitische Interessenlagen des schwedischen Staates gab, so können die Konflikte nur vor dem Hintergrund unterschiedlicher Disziplinierungsvorstellungen zwischen "innerhalb" und "außerhalb" der gesellschaftlichen Normen stehend verstanden werden. Zugespitzt: Die Insassen hatten nicht verstanden, daß es dem schwedischen Staat gar nicht so sehr um Strafe ging, sondern um Disziplinierung und innere Sicherheit.

Einhart Lorenz und Hans Uwe Petersen vergleichen "Fremdenpolitik und Asylpraxis" der skandinavischen Staaten und zeigen deren Charakteristikum: Sie war Reflex der Außen-, weniger der Innen- oder Einwanderungspolitik – die Gesamtzahl der EmigrantInnen war einfach sehr klein. Gemeinsam war den Staaten aber ein nach 1945 weitaus liberaleres Verständnis der Asylpraxis als Eingeständnis der begangenen humanitären Fehler. Eng verwoben mit diesem Thema ist der zweite Beitrag von Petersen über "Die Zusammenarbeit der nordischen Länder in der Flüchtlingsfrage".

Der Mehrzahl der Aufsätze – Ausnahmen sind Dieter Nelles, Ludwig Eiber und Michael F. Scholz (s.u.) – wird weiterhin durch die Klammer zusammengehalten, daß hier die Emigration unter migrationsgeschichtlichen Fragestellungen betrachtet wird und nicht allein unter dem Paradigma des Antifaschismus, also der gegen den Faschismus gerichten politischen Arbeit. Lediglich die beiden deutschen Autoren Nelles und Eiber kommen nicht umhin, diese Annäherung für ihre Erforschung der Widerstandsarbeit zu nutzen, was den Wert ihrer Beiträge aber keineswegs mindert.

Skandinavien wird zweifelsohne zutreffend als Exilregion mit einem "hohen Anteil 'anonymer' Flüchtlinge und einer starken Dominanz des politschen Exils" (Vorwort, S. 9) gekennzeichnet, womit eine Schwerpunktsetzung begründet ist. Leider wird der Aspekt der migrationsgeschichtlichen Fragestellung m.E. nicht weit genug ausgebreitet bzw. diskutiert. Einhart Lorenz bettet die Forschungsergebnisse in den Stand der Exilforschung ein ("Exil und Exilforschung in Skandinavien"), nimmt aber nicht die Chance wahr, hier die Brücke zwischen Exil- und Migrationsforschung in der Diskussion herzustellen. In den Beiträgen, allen voran Lorenz' eigenen Abhandlungen, wird aber dennoch genau in Richtung Migrationsforschung gearbeitet und der politisch motivierte Wanderungs- oder Fluchtprozeß der "kleinen Leute" betrachtet: Fremdenpolitik und Asylpraxis, die interkulturellen Normdifferenzen (s. Lindner), sozial- und arbeitsmarktspezifische Untersuchungen (Sven Nordlund, Bob Engelbertsson, Tina Jacobson), Lernprozesse (Einhart Lorenz, Frank Meyer, Klaus Misgeld) und integrationsspezifische Fragen (Rudolf Tempsch, Lene Wul/Troels Rasmussen) – hier mit dem deutlichen Hinweis auf die sudetendeutschen Flüchtlinge in Skandinavien.

Auch Michael Scholz ("Die Rückkehr des KPD-Exils aus Schweden 1945-1947") und Klaus Schulte ("Schreiben für die Fremde: Aspekte der Kommuni-


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kation deutschsprachiger Flüchtlinge mit den skandinavischen Öffentlichkeiten 1933-1940") gehen Aspekten des Verbleibs bzw. der organisierten Remigration nach der Niederlage des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats nach. Scholz gelingt es, aus dem Kontext seiner demnächst fertiggestellten Arbeit zu den skandinavien RemigrantInnen in der SBZ/DDR die Rückkehr aus Schweden nachzuzeichnen. Seinem Beitrag fehlt aber etwas die sozial- und alltagsgeschichtliche Sichtweise, die in anderen Aufsätzen zu finden ist. Ohne Frage liefert er hier hinsichtlich der organisierten Rückkehr in die SBZ überzeugende Darlegungen, doch seine Faktorenkette bleibt zu sehr auf organisationsgeschichtliche Perspektiven beschränkt bzw. benennt er diese als leitende Prämissen.

Lorenz' Beitrag "Arbeit und Lernprozesse linker deutscher Sozialisten im skandinavischen Exil" ist aber sowohl aus erfahrungs- wie migrationsgeschichtlicher Perspektive das Flaggschiff [3] des Sammelbandes. Auf ihn sei hier auch deshalb ausführlicher hingewiesen, da es sich um "unseren" Lübecker Willy Brandt als Beispiel für einen Gruppenprozeß handelt. Lorenz stellt in einer aktuellen Bilanz die Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) im skandinavischen Exil durch eine Gruppenbiographie vor und schreibt eine politische Geschichte dieser Organisation in Skandinavien, die er mit der Kollektivbiographie von 115 (zeitweiligen) Mitgliedern absichert. Auf diesem Wege widmet er sich den bisher unbekannten EmigrantInnen.

Methodisch geht er so vor, daß er die SAP-Orts- und Ländergruppen in ihrer Interaktion von Emigration und Gastland vergleichend zwischen Dänemark, Norwegen und Schweden nachzeichnet. Es gelingt ihm, die politisch-soziale Situation der Emigrationsländer als Beginn der unterschiedlichen politischen Entwicklung der SAP-Gruppen herauszuarbeiten, einem Prozeß, für den die Person Willy Brandt idealtypisch steht. Bei der Betrachtung der Hauptentwicklungslinien der SAP nehmen aber die bekannten EmigrantInnen – gerade Brandt und die Enderles – eine so zentrale Rolle ein, daß eine hier in der Gruppenbiographie angelegte Analyse des "Exils der kleinen Leute" wieder in den Hintergrund tritt. Dennoch ist es Lorenz' Verdienst, daß er seine SAP-Geschichte in Skandinavien mit den Mitgliedern der SAP empirisch absichert bzw. sich aus deren Beschreibung zentrale Interpretationsmuster erschließen. So z.B. allein der Umstand, daß die geringe Anzahl der EmigrantInnen das Entstehen von abgeschotteten, sich spezifisch ausdifferenzierenden Subsystemen verhinderte, so daß eine soziale Situation wie in den Exilzentren Paris oder Prag erst gar nicht entstand, sondern eine Integration in die Gastorganisationen ermöglicht wurde.

Die Studie schwankt in ihrer methodischen Anlage ein wenig zwischen den gewählten Perspektiven einer mikrohistorischen Betrachtungsweise, einer empirischen Arbeit und der politischen Geschichte. Wahrscheinlich könnte nur eine weitaus umfangreicher angelegte Forschungsarbeit die Quellen zu allen drei Aspekten bereitstellen, aber bereits hier wird gut herausgearbeitet, welches Potential empirisch abgesicherte und gruppenbiographische Exil- und Migrationsstudien haben.

Stellt man den Sammelband speziell


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norddeutschen LeserInnen vor, darf abschließend nicht vergessen werden, daß Ludwig Eibers Beitrag "Richard Hansen, das Grenzsekretariat der Sopade in Kopenhagen und die Verbindungen nach Hamburg 1933-1939" ebenso wie Dieter Nelles ("Gewerkschaftlicher Widerstand in Skandinavien 1939-1945") auf wichtige Aspekte des Widerstandes und der Organisierung an den Küsten hinweist. Sein Protagonist Richard Hansen, auf dessen eher unseliges Wirken als Leiter des Matteotti-Flüchtlingskomitees der Rezensent selbst mehrfach hingewiesen hat, wird hier in den Kontext des Widerstandes gestellt. Was aber noch nicht angemessen herausgearbeitet werden konnte, ist der Umstand, daß Richard Hansen zu einem der wenigen Sozialdemokraten "alten Typs" gehörte, der einsah, daß alle Aktionen der antifaschistischen Propaganda irgendwann zwecklos würden und der Sturz des Faschismus nur von außen erfolgen könnte. Seine nachrichtendienstliche Arbeit für den Britischen Nachrichtendienst in Zusammenarbeit mit der Internationalen Transportarbeiter Föderation (ITF, s.u.) hätte ihn bei der Besetzung Dänemarks 1940 sofort den Kopf gekostet; insofern muß der Umstand, daß Hansen "seine" Flüchtlinge 1940 im Stich ließ, neu kontextualisiert werden: für ihn ging es nicht um Haft oder Freiheit, sondern um Leben oder Tod!

Dieter Nelles überzeugt in seinem Beitrag mit einem Ausschnitt aus seiner Geschichte der ITF ein weiteres Mal mit einer kritischen Differenzierung der Positionen innerhalb des sozialistischen bzw. kommunistischen Lagers.

Leider fehlt abweichend von Band 1 der Reihe und auch von früheren Bearbeitungsschritten des Sammelbandes ein Personen- und Ortsverzeichnis.

Dieser Band sei aber nicht nur der kleinen Schar der am Exil Interessierten, sondern allen historisch interessierten norddeutsche GesinnungsskandinavierInnen zur Lektüre empfohlen. Für die Exilforschung stellt dieser Band einen wichtigen Fortschritt dar. Glückwunsch!

Thomas Pusch

Einhart Lorenz, Klaus Misgeld, Helmut Müssener, Hans Uwe Petersen (Hrg.): "Ein sehr trübes Kapitel"? Hitlerflüchtlinge im nordeuropäischen Exil 1933 – 1950. Hamburg: Ergebnisse Verlag 1998. 534 S. (= IZRG-Schriftenreihe; Band 2)

Anmerkungen:

1. Wenn an dieser Stelle ein Institutsmitarbeiter, der selbst an einer Promotion aus dem Themenumfeld der Emigration in Skandinavien arbeitet, die Rezension eines Institutsbandes verfaßt, dann nur deshalb, weil er damit keine Arbeit von KollegInnen bewertet.

2. Zum Bedauern des Rezensenten wurde allerdings eine Anonymisierung der behandelten Biographien vorgenommen. Hier sind auch die Schleswig-Holsteiner Emigranten Hans Bringmann, Werner Sager und Willy Lange behandelt.

3. Einhart Lorenz hatte zuvor im Verlag Peter Lang seinen Aufsatz "Arbeit und Lernprozesse linker deutscher Sozialisten im skandinavischen Exil" in ausführlicherer Form unter dem Titel "Mehr als Willy Brandt. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) im skandinavischen Exil" (Marburg 1997, 257 S.) erscheinen lassen, was m.E. keine gute Idee war. Die Monographie liefert zwar eine weit ausführlichere Darlegung zu einzelnen Gliederungspunkten des Aufsatzes, so insbesondere mit einer sehr guten Differenzierung der linken Gruppen und Parteien in Skandinavien, mutet den LeserInnen aber viele formale Schwächen zu (Fehler, Seitenverweise und ein unnötig aufgeblähter Fußnotenapparat).


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 35 (April 1999) S. 90-94.


Der Rezensent: Thomas Pusch, Jg. 1963, 1992 Magisterexamen in Göttingen (Thema: Methodische und theoretische Aspekte der zeithistorischen Lokal- und Regionalgeschichte, 1993 – 1995 Mitarbeiter der Geschichtswerkstatt Göttingen e.V., 1996 bis März 1999 wissenschaftlicher Angestellter des IZRG. Arbeitet z.Zt. an seiner Promotion Die Erfahrungen des politischen Exils, darüber hinaus umfangreiche Recherchen zur Zerschlagung der KPD im Bezirk "Wasserkante", speziell in Kiel. Weitere Interessen- und Arbeitsschwerpunkt: Migrationsgeschichte/Staatsangehörigkeitsrecht, Umweltgeschichte/Historische Umweltforschung. Lebt in Hamburg-Neuengamme.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 35

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