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Großer Anspruch –
und wie sieht es in der veröffentlichten Wirklichkeit aus?

Der Schleswig-Holsteinische Zeitungsverlag hat zusammen mit den NDR-Regionalprogrammen in Hörfunk und Fernsehen ein Projekt initiiert, das bundesweit einmalig ist: den Versuch, regionale Geschichte und regionale Geschichten durch die Bürgerinnen und Bürger – insbesondere die Schülerinnen und Schüler – erforschen und nacherzählen zu lassen. Den Anstoß für die jeweiligen Projekte soll dabei der Autor der Zeitungsartikel geben: Uwe Danker vom IZRG in Schleswig schreibt seit September 1997 zu einer Fülle von Themen und in einer großen Bandbreite zur Geschichte des Landes jeweils in den Zeitungen des Verlages, die im Norden viel gelesen werden.

Seit 1998 sind Beiträge zur Jahrhundert-Story auch in einem ersten von drei geplanten Bänden veröffentlicht worden. Die Themenvielfalt spiegelt sich hier wider: Von der Jahrhundertwende, die damals nur in wenigen Ländern 1899/1900 statt 1900/1901 gefeiert wurde, über den Ersten Weltkrieg und die erste Landtagswahl 1947 bis zum Metallarbeiterstreik 1956/57 oder zu den Auseinandersetzungen um den Bau des Kernkraftwerks Brokdorf sowie der Schneekatastrophe im Winter 1978/79 reicht die Palette.

Ein System in der Auswahl der Themen ist dabei nicht zu erkennen: Weder gibt es eine chronologische Folge noch eine inhaltlich verstehbare Reihung; vielleicht ergibt sich dies aber aus den folgenden zwei Bänden. Der Aufbau der Artikel ist dabei immer gleich: Zuerst kommt ein mit vielen Fotos und Dokumenten illustrierter Text. Dann wird ein "Echo" aus dem Leser/Hörerinnen/Internet/Zuschauerinnen-Spektrum zusammengestellt und ein "Anhang" mit Tipps und Hinweisen angefügt, wie man/frau selbstständig am Thema forschen könnte. Mehrere Seiten Quellen und Abbildungen sowie ein Literatur- und Fotonachweis schließen das jeweilige Thema ab.

Das gewählte Layout erinnert an den Ursprung als Zeitungsartikel und lädt immer wieder zum Blättern ein. Der Abbildungsnachweis der Fotos und die Bildunterschriften reichen für den interessierten Laien völlig aus; der fachlich Interessierte wird zu Recht bemängeln, dass Uwe Danker nicht unter jedem Foto Ort und Jahr angegeben hat – bzw. auf fehlende diesbezügliche Informationen hingewiesen hat – und auch im Abbildungsnachweis nicht die Originalfundorte, sondern in der Regel Buchveröffentlichungen als "Quellen" nennt. Für das Gros der Leserinnen und Leser wird die gewählte Form aber ausreichen.

Doch nun zu den Artikeln selbst: Natürlich kann der Autor nicht zu jedem der gewählten Themen gleichviel Fachkompetenz aufweisen, dazu ist die Themenpalette zu groß und die Forschungslage zu unterschiedlich – zudem gibt es keinen Universalhistoriker in Schleswig-Holstein (Anm.: Im Gegensatz zu Universalkritikern ...). Nichtsdestotrotz sollen im Folgenden nicht nur die NS-Themen kritisch unter die Lupe genom-


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men werden; im vorliegenden ersten Band wäre dies bei enger Betrachtung sowieso nur das Thema Jugend im Nationalsozialismus. Vielmehr soll versucht werden, die Qualität der Darstellung auch in der Breite zu untersuchen und zu bewerten.

Der Jahrhundertwende wird natürlich der erste Artikel gewidmet und mit einem "netten" Grußwort begonnen: Der Kaiser selbst ließ seinem Oberpräsidenten ausrichten, "daß der zum 1. Januar 1900 bevorstehende Jahrhundertwechsel in feierlicher Weise gegangen werde." (S. 8) Damit war natürlich damals noch relativ selbstverständlich ein würdevoller, stiller Rahmen mit Gottesdiensten gemeint und Veranstaltungen, auf denen der preußisch-deutsche Staat gelobt werden würde. Schleswig-Holstein war zwar erst seit 30 Jahren eine Provinz Preußens, doch war an einen anderen politischen Weg nicht mehr zu denken: Die dänisch gesinnte Bevölkerung in Nordschleswig konnte genauso wenig wie die sehr starke SPD-Arbeiterschaft darauf hoffen, ihre Ziele durchzusetzen. Die Machtverhältnisse und das Wahlsystem verhinderten dies, so dass ein nationalkonservativer Hurra-Patriotismus in der veröffentlichten Meinung überwog.

Die Zeitungen standen zum Kaisertum und bejubelten die sozialen und technischen Fortschritte der Zeit, während er bei den Menschen in Schleswig-Holstein unterschiedliche Gefühle hervorbrachte: "Der Fortschritt machte ihnen auch Angst, die moderne Industriegesellschaft erzeugte auch ein rückwärts gewandtes Idyll, die ungelösten politischen Spannungen in der Nationalitätenfrage und der Emanzipation der neuen Arbeiterklasse ließen auch den demokratiefernen Wunsch nach politischer Harmonie im Untertanenstaat entstehen." (S. 16f.)

Es folgt ein etwas liebloser Artikel zur Schule im 20. Jahrhundert, der zwar die meisten wichtigen Veränderungen ereignisgeschichtlich beschreibt, aber merkwürdigerweise an keiner Stelle auf die uns heute selbstverständliche – und wieder neu diskutierte – Koedukation eingeht: Die vormalige Trennung von Jungen und Mädchen als Grundprinzip geht so verloren. Im Quellenteil setzt sich der schwächere Eindruck fort und wird kontrastiert von dem sehr interessanten Echo der Adressaten.

Zur Landvolkbewegung, die als nächstes thematisiert wird, bezieht der Autor klar Stellung: Einerseits macht er deren (z.T.) berechtigte Anliegen und Ängste deutlich, andererseits kritisiert er die gewalttätigen Methoden und ferner das Politikverständnis und die Rechtslastigkeit des größten Teils der Bewegung. Danker wendet sich konsequenterweise gegen die verharmlosende Heroisierung der Landvolkbewegung und nennt diese klar eine undemokratische Bewegung. Warum er aber mit keinem Wort auf die Karriere des Landvolkführers Wilhelm Hamkens im NS eingeht – dieser wurde 1938 Regierungspräsident! – , muss offen bleiben.

Die Auseinandersetzung um den Bau des Kernkraftwerks Brokdorf behandelt der Autor als nächstes und stellt die These auf, dass die dortigen Demonstrationen und gewalttätigen Konflikte die Wende im Bewusstsein brachten: Seit Brokdorf gelte Atomkraft nicht mehr als Zukunftstechnologie. Dass Uwe Danker sich auch nicht scheut, kritisch Position zu beziehen, obwohl er eindeutig parteiisch ist, zeigt das Thema


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Der Streik der schleswig-holsteinischen Metallarbeiter 1956/57 um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Danker stellt sich zu Recht hinter die damaligen Forderungen, solidarisiert sich aber nicht mit manchen der damaligen Streikmethoden: Das öffentliche An-den-Pranger-stellen von Streikbrechern durch schilderbewehrte Streikposten vor den Häusern der Arbeitenden stößt bei dem Autor nicht auf Verständnis und wird durch einen Vergleich mit SA-Posten scharf verurteilt. (Im "Echo" wird dem Autor dieser Vergleich dann auch sehr übel genommen).

Dass die Beiträge der Jahrhundert-Story keinem erkennbaren Ordnungskonzept folgen, zeigt die obige Aufzählung. Dazu passt auch, dass als nächstes ein Artikel zum Ersten Weltkrieg folgt. Das erste für uns interessante Thema befasst sich mit den Flüchtlingen, die nach 1945 nach Schleswig-Holstein kamen. Kein anderes Bundesland hat so viele Heimatvertriebene aufgenommen, und der Anstieg der Bevölkerung bis 1948 um 70 % deutet die Schwierigkeiten an, die für die Menschen und die Politik entstanden. Der Autor schildert dabei nicht nur die logistischen und versorgungstechnischen Probleme und scheut sich auch nicht, die Vertreibung der Ostdeutschen ein Verbrechen zu nennen; er geht vielmehr auch auf die großen Integrationsprobleme – so zählte die kleine Gemeinde Großhansdorf 1.500 Einheimische und dazu 3.500 Flüchtlinge – und die z.T. rassistische Ablehnung der Zugezogenen durch die ortsansässige Bevölkerung ein. ("In den ersten Jahren warf man uns sogar die Scheiben ein, weil man die 'Pollacken' nicht wollte", so eine Zeitzeugin). Die gelungene Integration ist vor diesem Hintergrund dem Willen der Politik, dem wirtschaftlichen Aufschwung und dem gemeinsamen Beschweigen der nationalsozialistischen Vergangenheit zuzuschreiben.

Der Autor fasst meines Erachtens das Thema gut zusammen, stellt aber häufig nicht die wichtigen weiterführenden Fragen. So bewertet er die Motive für die Hinwendung im nördlichen Landesteil zum "Dänentum" – die Minderheit steigt von 2.700 Mitgliedern auf 62.000 im Jahr 1946! – zu sehr als Versuch, die Region von Schleswig-Holstein abzutrennen und letztlich die Flüchtlinge auszuweisen. Es bleibt aber kritisch zu fragen, ob dies nicht vielmehr als Versuch zu werten ist, sich vom "Volk der Täter" auf die Seite der verfolgten Opfer zu schlagen! Auch bleibt zu fragen, ob die rassistische Ablehnung der Zugezogenen nicht auch und gerade der rassistischen Ideologie der Nazis geschuldet war: Mit dem Armen aus dem Osten verband der normale Schleswig-Holsteiner nichts, er war vielmehr einer derjenigen, von denen man sich abgrenzte. Und die Auflösung der politischen Interessenvertretung und Partei der Heimatvertriebenen zugunsten der sie integrierenden CDU beschreibt das Phänomen zwar, doch wird eine wichtige Frage nicht gestellt: Wenn in die ehemalige Hochburg der Nazis wiederum mehrheitlich Flüchtlinge aus den östlichen Hochburgen der Nazis zugezogen waren, welches politische Klima wurde dadurch nach 1945 befördert?

Der dann folgende Artikel über die Schneekatastrophe 1978/79 ist eine gute Zusammenfassung der damaligen Ereignisse, macht für die "Dabeigewesenen" Geschichte und Geschichten lebendig und lädt zum Lesen ein. Das


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Thema Dienstboten ist hingegen klar in der Kaiserzeit verortet und erschließt sich den meisten heutigen Leserinnen und Lesern nur noch abstrakt. Die Aufnahme in die Jahrhundert-Story hat nicht nur deshalb ihre Berechtigung, weil es noch Anfang des Jahrhunderts 45.000 weibliche Hausangestellte bzw. 60.000 Knechte und Mägde gab. Es ist auch eines der wenigen, wenn nicht das einzige Thema im ganzen Band, das den Alltag junger Frauen widerspiegelt und sich vom Bild "Männer machen Geschichte" absetzt.

Jugend in der NS-Zeit ist der einzige Artikel überschrieben, der sich mit dem Nationalsozialismus befasst. Doch die Überschrift täuscht, denn der Autor schränkt den selbst gesetzten Themenrahmen schnell ein: "Geht es um Jugend im Nationalsozialismus, so geht es vor allem um Jugend in der HJ, um die Prägung der 'HJ-Generation'." (S. 188) In den Abschnitten "Gleichschaltung", "Staatsjugend", "Erziehungsideale der HJ" und "HJ-Alltag" beschreibt Danker anschließend die männliche Hitler-Jugend; die Geschichte des BDM in Schleswig-Holstein bleibt Nebensache und wird nicht annähernd so ausführlich und gut thematisiert. Zudem mangelt es dem Artikel daran, dass er das vorgegebene Thema Jugend im NS nicht breiter angeht. (Welche Jugendkulturen gab es? Wie wurden Schule und Elternhaus erlebt? Was war mit Freizeit außerhalb des HJ/BDM-Dienstes und den "unkontrollierteren" erwachsenenfreien Zeiten im Zweiten Weltkrieg?)

Der eingeschränkte Blick verengt sich zusätzlich noch zu sehr auf die HJ, mädchenspezifische Aspekte kommen meines Erachtens zu kurz: Die Attraktivität des BDM für viele Mädchen schimmert daher nur bei einer Zeitzeugin durch: "Mädel, das war was kerniges, die standen im Leben. Mädchen spielen mit Puppen und sind doof." (S. 193).

Das Kernmissverständnis vieler ehemaliger BDM-Mitglieder in ihren Rückerinnerungen, die Selbstständigkeitserlebnisse mit Selbstbestimmungserfahrungen zu verwechseln, findet sich dementsprechend beim Autor nicht wieder. Und auch der Versuch Dankers, mit rationalen Argumenten und dem Hinweis auf den (gewalttätigen) Ausschluss der "anderen", politisch oder auch rassisch verfolgten Jugendlichen den positiv erlebten und z.T. verklärten Erlebnissen in HJ und BDM zu begegnen, muss scheitern. In diesem Sinne halte ich seinen appellativen Schlusssatz nicht für sinnvoll: "So gibt es wenig Anlaß, von Idealen in der HJ zu schwärmen, die bei genauer Betrachtung keine oder die falschen waren." (S. 197).

Im "Anhang" benennt der Autor noch das Grundproblem bei der ZeitzeugInnen-Befragung der "HJ-Generation": "Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befinden sich bei diesem Thema grundsätzlich in der Lage, ihre eigene Jugend zu verteidigen, die eigene Rolle zu kennzeichnen und Reste der schönen Erinnerungen zu retten. [...] Bewußt oder unbewußt befinden sie sich Nachgeborenen gegenüber in der Defensive." (S. 202) Dementsprechend behutsam und weniger forsch sollte miteinander umgegangen werden.

Ob der Forschungsstand zur Hitler-Jugend wirklich als sehr gut zu bezeichnen ist, möchte ich offen lassen, für Schleswig-Holstein aber doch in Frage stellen: schließlich fehlt immer noch eine Arbeit zum HJ-Oberbann Schleswig-Holstein, und selbst Elke Imbergers


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Arbeit zum BDM endet 1939. Eine Buchveröffentlichung zu diesem Thema fehlt für unser Land ebenfalls, so dass der Forschungsstand meines Erachtens nicht so positiv gezeichnet werden kann.

Der erste Band der Jahrhundert-Story endet mit der Beschreibung der politisch und pädagogisch interessanten Kinderrepublik Seekamp, einem Ferienlager der sozialdemokratischen Jugendbewegung 1927 in der Nähe von Kiel, und einem Artikel zum ersten Landtag in Schleswig-Holstein 1947.

Abschließend haben die vier Kooperationspartner der Jahrhundert-Story kurz das Wort, und da ich dieses Projekt für eine tolle Idee und auch die erste Buchveröffentlichung für gelungen halte, soll der Autor noch einmal zitiert werden: "ich bemühe mich dabei um verständlichen Stil und nachvollziehbare Argumentationen. Populärgeschichte nennt man sowas: Jeder und jede soll die Texte verstehen und damit auch kritisieren, sich aktiv mit dem Thema auseinandersetzen können." (S. 274)

Genau das ist Uwe Danker gelungen, er hat Populärgeschichte und -geschichten geschrieben und spricht damit ein breites Publikum an. Die FachhistorikerInnen werden deshalb immer wieder Kritikpunkte finden können. Doch für diese ist die Jahrhundert-Story nicht gedacht, und deshalb trifft hier die Kritik nicht. Der erste Band der Jahrhundert-Story sei deshalb an dieser Stelle für alle diejenigen, die kurze und gutgeschriebene Artikel zu einem breitem Themenspektrum lesen möchten, empfohlen.

Frank Omland

Uwe Danker: Die Jahrhundert-Story. Band 1. Flensburg: sh.z-Verlag 1998. 288 Seiten m. vielen Abb.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 36 (1999) S. 107-111.


Der Rezensent: Frank Omland, geboren 1967, ist Sozialpädagoge und in Hamburg bzw. Kiel bei der Organisation und Durchführung antifaschistischer Stadtrundgänge aktiv. Er arbeitet im Themenbereich Nationalsozialismus vorrangig zu den Aspekten Jugend, soziale Arbeit und Wahlen sowie zum Neofaschismus der Gegenwart.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 36

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