Aufklärung durch kleine Kärtchen

Wo immer die vom "Hamburger Institut für Sozialforschung" veranstaltete Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944" die Öffentlichkeit erregt, richten sich die Blicke auf Schauplätze weit außerhalb der deutschen Grenzen. Während sich die Ausstellung mit gutem Grund einer geografischen Begrenzung unterwirft, lenkt Reinhard Otto mit seinem Buch die Aufmerksamkeit zurück in die räumliche Nähe des Lesers. Autor, Verlag und dem Institut für Zeitgeschichte in München gebührt Dank dafür, daß mit diesem Buch nicht nur eine empfindliche Lücke in der Zeitgeschichtsforschung geschlossen wird, sondern daß mit ihm vielmehr noch der


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Zugang zu einem Untersuchungsgebiet gewiesen wird, das nach weiterer Forschung ruft.

Während die von Hitler erlassenen und von der Wehrmachtsführung akzeptierten und weitestgehend ausgeführten "verbrecherischen Befehle" hinlängliche Darstellung erfuhren, wurden weiterführende Maßnahmen ähnlicher Qualität "so gut wie überhaupt nicht beachtet" (S. 10). Dies gilt besonders für die "Einsatzbefehle" Nr. 8 und mehr noch Nr. 9.

Bereits am 28. Juni 1941 verständigten sich das Oberkommando der Wehrmacht und das Reichssicherheitshauptamt der SS dahingehend, besonderen Kommandos des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Eingang in die Kriegsgefangenen-Stammlager (Stalag) mit Angehörigen der Roten Armee zu sichern, "um alle diejenigen Kriegsgefangenen auszusondern, die in ihren Augen aus weltanschaulichen Gründen 'untragbar' waren" (S. 51). Das heißt, die Wehrmachtsführung veranlaßte Lagerführer und Lageroffiziere der sog. "Russenlager", speziellen Kommandos der Gestapo Zutritt zu den Lagern zu gestatten und ihnen freie Hand zu lassen bei der "Aussonderung" mißliebiger Kriegsgefangener. Dazu gehörten politische Offiziere (Kommissare), überhaupt der kommunistischen Weltanschauung verdächtige "Elemente", "Intelligenzler" d.h. Gebildete in weitestem Sinne, Juden (anfangs alle Beschnittenen, also auch Moslems), Kriminelle und unheilbar Kranke.

Jeder dieser Ausgesonderten wurde in einem formellen Akt aus der Wehrmacht entlassen und der Gestapo ausgeliefert, ausdrücklich zur Liquidierung. Die besondere verbrecherische Qualität dieses Verfahrens ist darin zu sehen, daß die Wehrmacht die ihr vom Kriegsvölkerrecht (Genfer Konvention) auferlegte Pflicht des Schutzes und der Fürsorge für die Kriegsgefangenen preisgab und sie mit klarem Wissen und ausdrücklichen Wollen der Ermordung überantwortete.

R. Otto rekonstruiert dieses Vernichtungssystem an ausgewählten Stammlagern (Hammelburg, Grafenwöhr und andere Stalags in der Oberpfalz, Lamsdorf/Oberschlesien, diverse Lager in der Lüneburger Heide; zum Stalag XA Schleswig wurden keine Unterlagen gefunden). Als Tötungsstätten erscheinen die Konzentrationslager Auschwitz, Groß Rosen, Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald und Neuengamme. Unter den besonders genannten Gestapobeamten tritt Ernst Biberstein hervor. Bis 1934 nationalsozialistisch gesinnter Pastor in Kaltenkirchen (Schleswig-Holstein), bis 1935 Propst in Bad Segeberg, war er als Gestapochef in Oppeln (Schlesien) für die "Aussonderungen" im Stalag 318 Lamsdorf und die anschließenden Ermordungen in Auschwitz und Groß Rosen verantwortlich.

Der immer dringender werdende Arbeitskräftebedarf in der Kriegswirtschaft veranlaßte die Reichsführung nach anfänglichem Widerstreben, sowjetische Kriegsgefangene schon bald nach ihrem Eintreffen im deutschen Reichsgebiet in großer Zahl den privaten und staatlichen Betrieben zur Verfügung zu stellen. Das erschwerte eine zentrale "Aussonderung" der "untragbaren Elemente" in den großen Russenlagern. Nun wurde die Überprüfung dieser Menschen durch "fliegende Einsatzkommandos" der Gestapo in den Arbeitslagern und -kommandos vorge-


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nommen; dies geschah unter Beihilfe der Lager- und Kommandoführer sowie der Arbeitgeber.

Eine große Fülle von Quellen ermöglicht dem Autor eine genaue und eindrucksvolle Rekonstruktion dieser in ihren Einzelheiten entsetzlichen Vorgänge:
a) Korrespondenz der Stalags, der Einsatzkommandos und der KZ-Leitungen;
b) Stärkemeldungen der KZ;
c) Befehle bezüglich der Aussonderungen bis in die Geschäftsbereiche der Landräte;
d) Aussagen von Zeitzeugen, Prozeßaussagen;
e) Unterlagen der Zentralen Stelle in Ludwigsburg.

Von unschätzbarem Wert erweist sich die Kartei der Wehrmachtsauskunftstelle (WAST), die nach der Besetzung Berlins durch die Rote Armee in Sicherheit gebracht und dem "Zentralen Archiv des Verteidigungsministeriums der russischen Föderation" in Podolsk bei Moskau eingegliedert wurde.

Aus dieser Quelle konnte R. Otto schöpfen. Sie steht auch künftig der Forschung offen. Der gar nicht zu überschätzende Fundus dieser Kartei ist Resultat der akribisch arbeitenden deutschen Bürokratie auch beim Werk der Menschenvernichtung. Mit Erstaunen erfährt man nun: Jeder in deutsche Hände gefallene Kriegsgefangene wurde in der Wehrmachtsauskunftsstelle datenmäßig erfaßt – bis zu seiner Entlassung bzw. bis zu seinem Tod.

Entsprechend wurde auch mit den "Ausgesonderten" verfahren. Ihrer normalen Personalkarte wurde die verhängnisvolle "grüne Karte" mit der Eintragung der Zeit und des Ortes der "Aussonderung" und der Liquidierung beigefügt. Anhand dieser Kartei in Podolsk kann mithin das Schicksal und der Verbleib eines jeden Rotarmisten aufgeklärt werden. Auf diesem Wege können nun auch die Unklarheiten über jene "Sterbelager", wie z.B. das dem Stalag XA unterstehende Lager in Kaltenkirchen/Heidkaten, später verlegt nach Gudendorf/Dithmarschen, ausgeräumt werden. Es könnte Klarheit geschaffen werden über die Zahl der dort Umgekommenen. Und viele dieser Toten könnten wenigstens ihren Namen zurückerhalten. Denn "jeder sowjetische Gefangene blieb formal ein Individuum, über das genau Buch geführt wurde."

Der Weg der kleinen, unscheinbaren Karteikarten der WAST widerspiegelt den Umgang der Beteiligten auf Seiten der Wehrmacht mit den ihnen wehrlos Ausgelieferten und kraft des internationalen Rechts Anvertrauten: Wehrmacht (WAST) – Gestapo, SS, KZ – WAST.

Gerhard Hoch

Reinhard Otto: Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reichsgebiet 1941/42. München: R. Oldenbourg Verlag 1998. 287 S. (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 77).


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 36 (1999) S. 113-115.


Der Rezensent: Gerhard Hoch, geboren 1923 in Alveslohe. Absolvent einer nationalsozialistischen Lehrerbildungsanstalt (1942). Kriegsgefangenschaft bis 1948. Abgeschlossenes Studium der katholischen Theologie (1956). Berufliche Tätigkeit als Bibliothekar in Hamburg (bis 1984). Zahlreiche Veröffentlichungen zur NS-Geschichte des südöstlichen Schleswig-Holstein sowie zum Themenkomplex Kriegsgefangene, Fremd- und Zwangsarbeiter.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 36

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