Zwangsarbeit in Lübeck

1995 beschloß die Lübecker Bürgerschaft auf Antrag der Grünen, die Geschichte der sog. "Ostarbeiter", die während des Zweiten Weltkrieges nach Lübeck verschleppt worden waren, erforschen zu lassen. Der Historiker Christian Rathmer nahm sich dieser Aufgabe an und korrespondierte mit Hilfe von Katja Freter-Bachnak mit rund 400 ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus der ehemaligen Sowjetunion.

Die Ergebnisse seiner Recherchen zum Thema Zwangsarbeit in Lübeck faßte er in einer vielbesuchten und beachteten Ausstellung mit dem Titel Ich erinnere mich nur an Tränen und Trauer... zusammen. Sie fand vom Mai 1997 bis Februar 1998 in der Geschichtswerkstatt Herrenwyk die geeigneten Räumlichkeiten und in deren Leiter Wolfgang Muth einen tatkräftigen Unterstützer und Berater.

r Eröffnung der verkleinerten Dauerausstellung ist jetzt auch eine 143 Seiten umfassende Dokumentation erschienen. Das Buch ist in zwölf Kapitel mit jeweils ein bis fünf Unterkapiteln unterteilt. Nach dem Grußwort des Lübecker Kultursenators und einer Zeittafel zum "Arbeitseinsatz" in Lübeck berichtet zunächst Katja Freter-Bachnak über Vorgehensweise und Probleme bei der Befragung der ehemaligen sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Dies ist eine Kurzfassung des Aufsatzes, der in Heft 35 der Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte erschienen ist. Darin wird u.a. das Problem angesprochen, daß die Opfer in Osteuropa – im Gegensatz zu denen im Westen – nicht über ihre Zeit in Deutschland sprechen konnten, da sie sonst als "Vaterlandsverräter" abgestempelt worden wären. Das trifft aber auch im Westen zumindest auf die Niederländer zu.

Im ersten Kapitel stellt Christian Rathmer die Zwangsarbeit in Lübeck in den übergeordneten Rahmen. Er macht dabei deutlich, daß (nicht nur) die Lübecker Bevölkerung die Zwangsarbeit als eine Randerscheinung des Krieges begriff bzw. nach dem Krieg schnell verdrängt und vergessen hat. Auf Grund der miserablen wirtschaftlichen Verhältnisse Anfang der dreißiger Jahre hat man sich in Lübeck schon früh auf Rü-


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stungsproduktion ein- und umgestellt. Wie überall im Deutschen Reich mußten die zur Front abkommandierten deutschen Arbeiter durch ausländische Zwangsarbeiter ersetzt werden.

In den vierziger Jahren arbeiteten rund 18.000 Zwangsarbeiter gleichzeitig in Lübeck. Rathmer schätzt, daß insgesamt 30.000 bis 40.000 ausländische Arbeitskräfte in der Hansestadt eingesetzt wurden. Hierbei bildeten die sog. "Ostarbeiter" zahlenmäßig die Spitze, gefolgt von den Polen. Leider fehlt hier ein Hinweis darauf, daß bei den gut 7.600 Zwangsarbeitern aus der Sowjetunion die Frauen mit über 4.500 die absolute Mehrheit bildeten.

Dies wird rein optisch schon bei den später folgenden Abbildungen und Zitaten deutlich. In den anschließenden Kapiteln werden die verschiedenen Aspekte der Zwangsarbeit in Lübeck angesprochen: Deportation, Lagerleben, Ernährung und Kleidung, Gesundheit und Schwangerschaften, Arbeit in den Betrieben und bei der Stadt, Entlohnung und Freizeit bis hin zu Widerstand, Verfolgung und Tod. Dem einzelnen Thema ist jeweils eine kurze Zusammenfassung Christian Rathmers vorangestellt, gefolgt von Zitaten ehemaliger Zwangsarbeiter/innen hauptsächlich aus der Ukraine und Weißrußland, aber auch aus Frankreich und Italien.

Sehr gut sind zwei Übersichten etwa in der Mitte des Bandes: Zum einen eine alphabetische Auflistung der Lübecker Rüstungsbetriebe – wenn bekannt: mit Produkt- und Beschäftigungsangaben – , zum anderen eine nach Stadtteilen geordnete Zusammenfassung der Zwangsarbeiterlager in und um die Hansestadt. Hilfreich ist nicht nur, daß sowohl damalige als auch heutige Adressen beigefügt sind, sondern auch ein Planquadrat angegeben ist, mit Hilfe dessen man die ungefähre Lage des Betriebes oder Lagers auf einem beigefügten Stadtplan wiederfinden kann. Dieser Plan hätte vielleicht etwas größer ausfallen können, reicht aber zur groben Orientierung völlig aus. Man kann sagen, daß hier der letzte Forschungsstand übersichtlich und sinnvoll zusammengefaßt ist.

Am Ende der Dokumentation geht Rathmer noch einmal auf das "Nichtverhältnis" zwischen deutscher Bevölkerung und Zwangsarbeitern ein, bringt aber über Zitate auch Beispiele von Hilfsbereitschaft. Die Erinnerung an die Leiden in Lübeck bleiben jedoch einseitig bei den Opfern. Eine kritische Einschätzung zur Entschädigungsfrage schließt die lesenswerte Broschüre ab.

Um die Lesbarkeit und Übersichtlichkeit der Dokumentation nicht zu behindern, wurde auf Fußnoten gänzlich verzichtet. Im Anhang findet sich dafür eine Literatur- und Quellenzusammenfassung. Die vielen Fotos und Dokumente machen das Buch nicht nur anschauenswert, sondern lassen die Ausstellung noch einmal Revue passieren.

Christian Rathmer ist mit dieser Dokumentation ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der Zwangsarbeit in Schleswig-Holstein gelungen. Sie sei jede/m, die/der sich für das Thema interessiert, wärmstens empfohlen.

Peter Meyer-Strüvy

Christian Rathmer: "Ich erinnere mich nur an Tränen und Trauer...". Zwangsarbeit in Lübeck 1939 bis 1945. Herausgeber: Kulturforum Burgkloster und Geschichtswerkstatt Herrenwyk. Essen: Klartext Verlag 1999. 143 S.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 36 (1999) S. 128-129.


Der Rezensent: Peter Meyer-Strüvy ist Jahrgang 1961 und arbeitet als Schiffsmaschinenbauingenieur in Rendsburg. In seiner Freizeit arbeitet er im "Arbeitskreis Asche-Prozeß" und im Akens mit. Mehrere Publikationen, u.a. über niederländische Zwangsarbeiter in Schleswig-Holstein.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 36

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