Von August 1944 bis April 1945 befand sich in Lübberstedt-Bilohe auf einem vorerst als Luftwaffenhelfer-/Ostarbeiterlager genutzten Gelände mit Splitterbunker und Baracken ein Außenkommmando des Konzentrationslagers Neuengamme.
Dort lebten und arbeiteten 500 junge
Frauen aus Ungarn, die direkt über das Konzentrationslager Auschwitz nach Lübberstedt deportiert worden waren, um hier in der Lufthauptmunitionsanstalt kleine Fliegerbomben und andere Munition zu befüllen. Die Jüdinnen wurden im Krankenrevier von zwei Frauen aus Polen behandelt, darunter Zofia Pracka, deren Familie wegen Partisanentätigkeit von der Gestapo verhaftet worden war. Ihre Brüder waren nicht weit entfernt sie mußten in Bremen-Farge auf der Baustelle des geplanten U-Boot-Sektionswerftbunkers "Valentin" unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten.
Am 20. April 1945 wurden die KZ-Häftlinge von Lübberstedt-Bilohe wieder in Waggons getrieben, und eine Verschleppung mit ihnen unbekanntem Ziel begann. Spuren dieses Transportes findet man heute auf mehreren Begräbnisstätten im Land Schleswig-Holstein.
Im Kriegstagebuch der Muna, geführt von Major Willy Pfeiffer, ist für den 20. April 1945 unter anderem notiert: "Von 7,00 bis 7,45 Uhr Betriebsappell aus Anlaß des Geburtstags des Führers. Arbeitsausfall: 1 Stunde.
Die jüdischen Kz.-Häftlinge verlassen um 3,52 Uhr die Dienststelle mit unbekanntem Ziel." (später mit Schreibmaschine überschrieben: "in Richtung Neuengamme"). Der Transport ging zwar in Richtung Hamburg, das Konzentrationslager Neuengamme wurde aber nicht erreicht.
Der genaue Verlauf des Lübberstedter Transportes ist heute nicht mehr genau zu rekonstruieren. In einem Dokument der "Doc.Intell.Section" der britischen Armee wird erst der 29. April als Aufbruchstag festgestellt. Dies ist aber sehr unwahrscheinlich, da die Stadt Bremen an jenem Tag bereits von den Engländern besetzt war.
Möglicherweise ging der Zug zuerst in eine Hafenstadt; dort sollen die Frauen laut Erinnerung von Zofia Pracka auf einen Frachter geschafft worden sein. Dann ging es aber wieder in bereitgestellte Waggons. Sicher ist, daß es von Lübeck aus in Richtung Plön weiterging. In diesem Gebiet lagen Anfang Mai 1945 auch die Regierung Dönitz und der Befehlsstand des Reichsführers-SS, Himmler.
Bei Bockholt kurz vor Eutin kam der Transport am 2. Mai zum Stehen. Britische Tiefflieger griffen an, und die SS-Wachmannschaften verteidigten sich. Dabei soll ungesicherten Berichten zufolge ein Flugzeug abgeschossen worden sein. Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, kam er nicht weit, denn nur wenige hundert Meter hinter dem Bahnübergang Bockholter Baum griffen wieder englische Jagdbomber an, und diesmal gab es zahlreiche Todesopfer. Mitgeführte Munitionswaggons explodierten, und dabei wurden ca. 40 Frauen getötet. Auch der Lokführer soll ums Leben gekommen sein.
Die Frauen wurden im Hainholz bestattet, und ein Gedenkstein erinnert heute an die Stelle. Die Inschrift lautet: "Hier fanden 38 unbekannte jüdische Häftlinge aus dem KZ Neuengamme ihre letzte Ruhestätte". Anfang November 1960 fand die Umbettung auf den jüdischen Friedhof Lübeck-Moisling statt.
Andere Opfer des Angriffs kamen nach Eutin in verschiedene Lazarette. Nach Angaben des Stabs- und Chefarztes Dr. Linz vom 11. Mai 1945 barg der Krankenkraftwagen des Luftwaffen-
Lazaretts Eutin am 3. Mai 18 Personen mit schweren Bombensplitterverletzungen. Fünf Frauen Enöna Daskel, Clara Fried, Margot Fried, Elli Gardos, Rebecca Gerpel erlagen ihren schweren Verletzungen. Ihre Gräber kann man auf dem jüdischen Friedhof am kleinen Eutiner See finden.
Am 2. Mai 1945 wich die Regierung Dönitz von Plön nach Flensburg aus. Am selben Tag führte Hitlers Nachfolger Gespräche mit Feldmarschall Keitel, Graf Schwerin v. Krosigk, Gauleiter Wegener und Himmler. Um 16 Uhr fand im Hauptquartier von Dönitz eine Lagebesprechung statt; laut Tagebuch wurde festgehalten:
"Das Wesentliche ist der Durchstoß der Engländer von Lauenburg nach Lübeck und der Amerikaner über Schwerin nach Wismar. Damit ist das Tor, das als letztes den Abfluß deutscher Menschen aus dem Mecklenburger- und Pommern-Raum in den eigenen Machtbereich ermöglichte, verschlossen. Ein Weiterkämpfen im Nordraum gegen die Anglo-Amerikaner, das bisher nur dem Zweck der Offenhaltung dieses Tors gedient hatte, ist sinnlos geworden. Daher Entschluß, möglichst schnell mit Montgomery ins Gespräch zu kommen. Hiermit wird Generaladmiral von Friedeburg beauftragt." Um 20 Uhr jenes Tages verlegte Dönitz die letzte deutsche Reichsregierung von Plön nach Flensburg.
Im Malente befand sich das Hauptquartier von Himmler; auch er wurde vom Durchbruch der Engländer überrascht. Leon Degrelle, Kommandeur der 5. SS-Sturmbrigade Wallonien, fand ihn in seinem Quartier, einem Bauernhof, nicht mehr vor. Es war drei Uhr nachmittags.
"Als ich hinter Eutin auf die Landstraße kam, bot sich mir ein Schauspiel, das an Dantes Schilderungen der Hölle erinnerte. Hunderte von Flüchtlingswagen, Hunderte von Militärlastwagen standen in hellen Flammen. Wie Geier stürzten sich die Tiefflieger in Staffeln zu sechs Maschinen hinunter. [...] Wir kamen zur Abzweigung nach Bad Segeberg. [...] Plötzlich sah ich aus einem Seitenweg einen langen schwarzen Wagen herauskommen. Ein Mann mit einem energischen, bleichen Gesicht unter einem Lederhelm saß am Steuer. Ich hatte ihn erkannt. Es war Himmler."
Zwischen Timmendorf und Plön kam es zu einem dritten Angriff auf den Häftlingszug. Diesmal gab es 16 Todesopfer unter den jüdischen Frauen. Diese Opfer wurden später vermutlich zwischen 1960 und 1962 von Plön nach Schleswig umgebettet. Im Totenbuch des Ehrenfriedhofs Karberg sind 14 Frauen namentlich aufgeführt, zwei sind unbekannt.
Am selben Tag griffen britische Flugzeuge den in der Lübecker Bucht liegenden ehemaligen Luxusdampfer "Cap Arcona" und die "Thielbek" an. Über 7.500 Menschen kamen dabei ums Leben; es waren Gefangene deutscher Konzentrationslager, darunter auch die Brüder von Zofia Pracka.
Zofia Pracka überlebte als einzige ihrer Familie. Sie lebt heute in Warschau. Zu ihr und auch anderen ehemaligen Häftlingen hat der Arbeitskreis Muna Lübberstedt Kontakt.
Am 27. Januar 1996 wurde in Hambergen der Arbeitskreis MUNA Lübberstedt e.V. gegründet. Er besteht zur Zeit aus über 20 Mitgliedern. Vorausgegangen war die Veröffentlichung des Buches Lw. 2/XI-Muna Lübberstedt in
[Ehrenfriedhof Karberg: Gedenkstein mit den Namen Eva Fellner, Piroschka Feldmann, Katharin Feldmann, Eschebett Feldmann, Clara Feldmann und Piri Feintuch (Foto: Kahrs)]
der Editon Temmen (Bremen 1995). Der Hauptinitiator unserer Arbeit, Volrad Kluge, hatte bereits vor über zehn Jahren den Grundstein für die jetzige Forschung gelegt. Sein Tod im Februar 1999 hinterläßt eine Lücke in unserer Arbeit, welche nur sehr schwer wieder zu schließen sein wird. Volrad konnte noch im November 1998 die Einweihung der neugestalteten Grabanlage mit zwei Gedenksteinen mit Namen von Zwangsarbeitern miterleben.
Der ständige Arbeitskreis um Barbara Hillmann, Erdwig Kramer, Helmut Lubitz, Thorsten Gajewi und Rüdiger Kahrs wird weiterhin die Gedenkstättenarbeit aufrechterhalten. Wer uns Material vor allem zu den Ereignissen während der Evakuierung nach Schleswig-Holstein zur Verfügung stellen kann oder Interesse an unserer Arbeit hat, melde sich bitte bei uns. Kontakt: Rüdiger Kahrs, Windhornsweg 16, 27729 Hambergen, Tel. 04793 / 1776.
Literatur:
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 36 (1999) S. 93-96. Im Original enthält der Beitrag eine Abbildung.
Barbara Hillmann/Volrad Kluge/Erdwig Kramer (unter Mitarbeit von Thorsten Gajewi und Rüdiger Kahrs): Lw. 2/XI-Muna Lübberstedt. Zwangsarbeit für den Krieg. Bremen: Edition Temmen 1995.
Günther Schwarberg: Angriffsziel Cap Arcona. Göttingen: Steidl 1998 (Erstausgabe 1?1).
Percy Ernst Schramm (Hrg.): Die Niederlage 1945. Aus dem Kriegstagebuch des OKW (mit Dönitz-Tagebuch). München: dtv 1962.
Der Verfasser: Rüdiger-Joachim Kahrs, geboren 1968, ausgebildeter Lebensmitteltechniker; arbeitet im Arbeitskreis "MUNA Lübberstedt" Hambergen mit. Mitautor einer Dokumentation über die Zwangsarbeit in der Lufthaupt-Munitionsanstalt Lübberstedt (Bremen 1996).
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 36