Die Geschichte des kirchlichen Antijudaismus ist so alt wie die Kirche selbst im Falle der ev.-lutherischen Kirche beginnt sie mit den Äußerungen Martin Luthers gegenüber Juden. Als unter den protestantischen Hohenzollern das Deutsche Reich neu entstand und Deutschland eine nationale Identität aufbaute, begann auch der moderne Antisemitismus. So definierte der Hofprediger Adolf Stöcker das Volk nicht als "Summe der Staatsbürger, sondern die Lebenseinheit des Volkstums, das Lebensganze in Abstammung und Art". [1] "Und aus dieser 'Lebenseinheit' wurden Juden bewußt ausgeschlossen, sie gehörten nach Art und Abstammung nicht dazu. Dagegen erschienen Deutschtum und protestantisches Christentum als unauflösliche Einheit." [2]
Von dieser Tradition her betrachtet, erstaunt es nicht sehr, daß sich die Kirche in der Weimarer Republik durch eine mangelnde Distanz zum rassistischen Antisemitismus der völkischen Bewegung auszeichnete. Als die Kirche 1924 von völkischer Seite wegen der von ihr betriebenen Judenmission scharf angegriffen wurde, verteidigte die Synode der schleswig-holsteinischen Landeskirche zwar die Judenmission, sprach dem völkischen Rassismus aber gleichzeitig eine klare Legitimation zu: "Die Landessynode erkennt die Berechtigung und den Wert aller Bestrebungen an, die darauf hinzielen, das eigene Volkstum zu stärken und vor zersetzendem jüdischen Einfluß zu bewahren." [3]
Von dieser Tradition hat sich die ev.-luth. Kirche schon seit längerem entfernt. Im letzten Jahr beschloß die Synode der Nordelbischen Kirche aber auch eine offizielle Neubestimmung des Verhältnisses der ev. Kirche zum Judentum. Daß es hierbei auch um die Aufarbeitung eigener Schuld geht, war der Synode dabei bewußt. Daher wurde die Einrichtung einer zeitlich befristeten Stelle beschlossen, deren Aufgabe es ist, alle Quellen zu erfassen, die das Verhalten der Kirche gegenüber Juden bzw. Christen jüdischer Herkunft während des Nationalsozialismus betreffen. Damit sollen künftige Forschungen zum Thema ermöglicht werden. Die Erfassung der Quellen soll gleichzeitig der Materialsammlung für eine (Wander-) Ausstellung zum Thema und evtl. eine Quellenedition dienen.
Im Folgenden stelle ich die vorläufige Konzeption des Quellenerfassungsprojektes dar. Ob sich die skizzierten Ansätze alle durchführen lassen, ist offen, da die Kirche das Projekt nur für zwei Jahre finanziert hat und die Untersuchung vier verschiedene Landeskirchen betrifft, aus denen sich die Nordelbische Kirche entwickelte (Hamburg, Lübeck, Schleswig-Holstein und Eutin). Daher sind erst einmal drei Schwerpunkte der Recherche anvisiert:
Bei der Erschließung muß gleichzeitig den verschiedenen kirchlichen Strömungen Rechnung getragen werden. Das soll zum einen geschehen durch die Auswertung der verschiedenen Publikationen, Rundbriefe u.a. Zum zweiten empfiehlt sich eine Schwerpunktrecherche bei den herausragenden Köpfen der jeweiligen Strömungen. Für Schleswig-Holstein wären das bspw.:
1. Pastor Friedrich Andersen aus Flensburg, Wegbereiter des völkischen Antisemitismus, der seit 1907 eine Kombination von Protestantismus und rassistischem Antisemitismus propagierte.
2. Pastor Johann Peperkorn aus Viöl, bereits in den zwanziger Jahren NSDAP- Mitglied und Propagandist der Deutschkirchler.
3. Der Präsident des schleswig-holsteinischen Landeskirchenamtes Dr. Christian Kinder, 1933 Reichsleiter der Glaubensbewegung Deutsche Christen.
4. Pastor Wilhelm Halfmann, einer der führenden Köpfe der Bekennenden Kirche in Schleswig-Holstein.
5. Pastor Reinhard Wester, Westerland, Vorsitzender des Landesbrüderrates der Bekennenden Kirche.
Gefragt sind alle Hinweise auf einen direkten Kontakt zwischen Kirchengemeinden, kirchlichen Funktionsträgern etc. zu Juden, um Informationen über konkretes Verhalten von kirchlicher Seite zu bekommen. Es empfiehlt sich hierfür, mit Recherchen bei kirchlichen Einrichtungen und Gemeinden anzusetzen, die sich in unmittelbarer Nähe zu jüdischen Gemeinden bzw. Einrichtungen befanden, wo sich also der persönliche Kontakt mit Juden genauso annehmen läßt wie das direkte Erleben bspw. der Pogromnacht 1938. Solche Stichproben würden sich auf Hamburg (Grindelviertel, Altona, Wandsbek), Lübeck, Friedrichstadt, Rendsburg, Kiel und Segeberg konzentrieren.
Erste Stichproben ergaben, daß in kirchlichen Akten derartige Unterscheidungen nicht vorgenommen wurden, sondern ausschließlich die Religionszugehörigkeit notiert wurde. Damit lassen sich die Christen "nichtarischer" Herkunft, die vielfach Diskriminierungen ausgesetzt waren, nur schwer ermitteln.
Bekannt sind lediglich die Fälle der "nichtarischen" bzw. "jüdisch versippten" Pastoren Bothmann aus Wandsbek, Auerbach aus Altenkrempe und Leiser aus Brokdorf.
In diesem Bereich ist es nötig, Informationen von Zeitzeugen und zeuginnen zu bekommen. Nach dem jetzigen Stand ist dies der nötige Weg, um zu erfahren, wo Christen, die von den Nürnberger Gesetzen betroffen waren, ausgegrenzt und diskriminiert wurden bzw. wo diesen Menschen Hilfe und Unterstützung gegeben wurde.
Vermutlich kann im vorgegebenen Zeitrahmen von zwei Jahren nur eine Erfassung zu den oben umrissenen Untersuchungsschwerpunkten geleistet werden. Es wird daher nur eingeschränkt möglich sein, die folgenden Aspekte in die systematische Erfassung mit aufzunehmen, obwohl sie für die Thematik wichtig sind:
Die Quellenerfassung wird zwar auch staatliche Archive einschließen, aber im wesentlichen den kirchlichen Archiven gelten. Das betrifft besonders den Arbeitsaufwand, da einige Kirchengemeindearchive überhaupt noch nicht erschlossen sind.
Schon jetzt ist aber klar, daß die schriftliche Überlieferung sehr lückenhaft ist. Durch Bombentreffer wurden im Krieg die Akten des schleswig-holsteinischen Landeskirchenamtes genauso vernichtet wie die des Kirchenkreises Stormarn, wo es starke Auseinandersetzungen zwischen dem "jüdisch versippten" Pastor Bothmann und dem Nazipropst Dürkop gegeben hatte.
Zusätzlich entzieht sich der Bereich konkreten kirchlichen Verhaltens vielfach der schriftlichen Überlieferung, so daß gleichzeitig Zeitzeugen und zeuginnen gesucht werden sollen, die gezielte Hinweise geben können bzw. deren Zeugnis fehlende Überlieferung ausgleicht (Sachdienliche Hinweise nimmt jede Kirchendienststelle... nein, bitte nur an mich, im Nordelbischen Kirchenarchiv in Kiel, Tel. 0431 / 649 86-0).
Die erschlossenen Quellen werden in einer (Augias)-Datenbank erfaßt. Die gesichteten Archivalien sollen komplett aufgenommen und nach den verschiedenen Untersuchungsschwerpunkten bzw. der Ergiebigkeit zum Thema gekennzeichnet werden. Dadurch werden künftige Recherchen nach Stichwörten und Themen ermöglicht.
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 36 (1999) S. 97-100.
1. Zit. nach Friedrich Brunstädt, Adolf Stoecker. Wille und Schicksal. Berlin 1935, S. 126.
2. Werner Jochmann, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870-1945. Hamburg 1988, S. 268.
3. Protokoll der 1. Ordentlichen Landessynode der ev.-luth. Landeskirche Schleswig-Holsteins. Beschluß vom 6.1.1925, A. Nr. 78.
Der Verfasser: Stephan Linck (Jahrgang 1964) promovierte 1998 über die Entwicklung der Polizei. Seine Dissertation erscheint im Herbst im Verlag Schöningh unter dem Titel Der Ordnung verpflichtet: Deutsche Polizei 1933 1949. Der Fall Flensburg.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 36