Der Gedanke, auch in Lübeck mit Stolpersteinen an die Opfer des
Nationalsozialismus zu erinnern, kam weit entfernt von Lübeck auf – in Riga.
Dort nahmen Ende November 2001 einige Schülerinnen und Lehrkräfte der
Geschwister-Prenski-Schule, Integrierte Gesamtschule Lübeck, darunter Susanne
Schledt und ich, an der Einweihung der Gedenkstätte Bikernieki für die
ermordeten jüdischen Menschen teil. Der damalige Lübecker Stadtpräsident legte
wie auch die Repräsentanten aller anderen Orte in einer sehr bewegenden Feier
eine Kartusche in den zentralen Marmorschrein. In ihr enthalten sind die Namen
und Daten aller Kinder, Männer und Frauen aus Lübeck, die nach Riga deportiert
worden waren. Endlich, nach so vielen Jahren, gab es hier nun eine Stätte des
Gedenkens. Unsere Gedanken gingen nach Lübeck: Was erinnert dort in der früheren
Heimatstadt an die einzelnen Menschen?
Vieles kam uns in den Sinn, so die regelmäßig stattfindenden Gedenkfeiern und
-veranstaltungen, vor allem in der „Zeit des Erinnerns“ im November, zahlreiche
Gedenktafeln und Mahnmale, Ausstellungen, Stadtrundgänge, Veröffentlichungen und
die Benennungen von Straßen und Einrichtungen. Manche Namen sind dadurch
bekannt, in erster Linie die der prominenten Familien, aber auch einige andere.
So bewahrt beispielsweise die Geschwister-Prenski-Schule seit mehr als zehn
Jahren die Erinnerung an drei jüdische Kinder und ihre Familie, an Margot,
Martin und Max Prenski, die zu den in Riga ermordeten Menschen gehören. Die
Suche nach ihren Spuren brachte Hinweise auf andere Kinder und Familien, über
die bislang wenig oder nichts bekannt war, und machte einmal mehr deutlich, dass
die Forschung längst nicht abgeschlossen ist.
Über die Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig waren wir selbst bei
Besuchen in Köln, Berlin und Hamburg zufällig „gestolpert“. Bei dieser
besonderen Form des Erinnerns mitten im Alltag hatte uns sehr berührt, wie vor
dem Eingang eines Hauses frühere Bewohner namentlich genannt und so aus der
Anonymität der Opferrolle geholt werden.
Auf diese Weise könnte gerade an die vielen nicht so prominenten Menschen in
ihrem früheren Stadtteil erinnert werden. Diese Idee ließ uns nicht mehr los,
und wir begannen Informationen zu sammeln. Was hieße es, Stolpersteine für die
Lübecker Opfer des Nationalsozialismus zu realisieren? Um wie viele Steine ginge
es?
Eine Zahl darf als gesichert gelten: 82 Menschen wurden in Riga umgebracht. Dazu
kommen jüdische Opfer, die von Lübeck aus nach Theresienstadt deportiert wurden,
andere, die bereits ins Ausland geflüchtet waren und in Auschwitz oder anderen
Vernichtungslagern ermordet wurden, und weitere wie z.B. Berta Lexandrowitz,
deren Spur sich im Warschauer Ghetto verliert. In Zahlen mindestens 20,
vielleicht 30 oder ... ?
Im Mai 1940 wurden 64 Angehörige der Sinti und Roma aus Lübeck deportiert, 10
Männer, 17 Frauen und 37 Kinder. Gab es noch weitere Opfer dieser
Bevölkerungsgruppe? Wie viele Menschen aus Lübeck wurden Opfer der „Euthanasie“?
Laut Peter Delius wurden 124 Patienten der Heilanstalt Strecknitz, die aus
Lübeck stammten, abtransportiert in andere Einrichtungen und bald darauf als
verstorben gemeldet.[1]
In seiner Veröffentlichung Lübeck – eine andere Geschichte aus dem Jahre 1986
nannte der Arbeitskreis „Geschichte der Lübecker Arbeiterbewegung“ die Namen von
59 politischen Opfern und eventuell 14 weiteren.
Nach erstem Kontakt zu Gunter Demnig entschlossen wir uns, für die notwendigen
Vorbereitungen und die Koordination des Projektes vor Ort eine Gruppe
zusammenzubringen, in der angesichts der schwierigen Forschungslage viel
Sachverstand gebündelt ist. Dafür konnten wir mehrere Historiker und
Historikerinnen gewinnen, so Dr. Ingaburgh Klatt, Dr. Peter Guttkuhn, Dr.
Wolfgang Muth, Manfred Bannow-Lindtke und weitere Interessierte wie Martin
Harnisch und Albrecht Schreiber.
Wir informierten in einem Gespräch den Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Lübeck
über unser Vorhaben, der zustimmend reagierte. Anders die Reaktion von Matthäus
Weiss, des Vertreters der Roma und
Sinti in Schleswig-Holstein, der bei einer kurzen Begegnung die Nennung der
Namen einzelner Opfer ablehnte.
Der Bürgermeister schlug vor, die Beschlussfassung der Lübecker Bürgerschaft
über die Annahme einer Schenkung von Bürgern und Bürgerinnen durch eine Vorlage
der Verwaltung zu initiieren.
Wir erkundigten uns in anderen Städten, wie dort das Projekt Gunter Demnigs
umgesetzt wird, und begannen uns an Hamburg zu orientieren. Auch dort gibt es
eine Koordinationsstelle. Gut gefiel uns, dass die Spenden für das Projekt auf
ein vom Koordinator unabhängiges Spendenkonto bei den Hamburger Kammerspielen
eingezahlt werden. Daher stammte unsere Überlegung, ob nicht auch in Lübeck eine
namhafte Institution zur Einrichtung eines Spendenkontos bereit wäre. Diese
Suche dauerte fast drei Jahre und brachte schließlich im April 2006 die Zusage
des Akens.
In Bad Schwartau wurden im November 2004 vier Stolpersteine für die Mitglieder
der einzigen jüdischen Familie aus der Stadt direkt vor den Toren Lübecks
verlegt, für Eugen und Lucy Judith Jaschek und ihre beiden Söhne Jochen und
Jürgen, die zu den aus Lübeck Deportierten nach Riga gehörten. Jürgen Jaschek,
später Richard J. Yashek, überlebte und war bei der Einweihung der Steine mit
seiner Frau Rosalye und Tochter Kimberley Yashek anwesend (vgl. ISHZ 44, S.
132). Wenige Monate später verstarb er.
Für einige weitere Stolpersteine gibt es schon Zusagen, und nun können mit dem
Spendenkonto die nächsten Schritte folgen: ein Schreiben an mögliche
Unterstützer und Unterstützerinnen, Informationsgespräche mit den vier
Fraktionen der Lübecker Bürgerschaft, Vorbereiten der Vorlage für die
Entscheidung der Bürgerschaft, Planung begleitender Veröffentlichungen und
Veranstaltungen, Pressearbeit, Terminabsprache mit Gunter Demnig.
Ein erster Schritt soll sein, an die jüdischen Kinder und Jugendlichen mit ihren
Familien zu erinnern. Margot, Martin und Max Prenski (1931, 1930 und 1924
geboren) lebten mit ihrer Mutter Sonja Prenski, geb. Lawenda, in der Adlerstraße
7, Fina Rosenthal (geb. 1928) mit ihrer Mutter in der Marlesgrube 9, Margot
Fanny Saalfeld (geb. 1926) mit den Eltern in der Fleischhauerstraße 1, Heinz
Selmanson (geb. 1926) mit dem Vater Bei St. Johannis 4, Arno Werner Blumenthal
(1925) mit seinen Eltern in der Mengstraße 29.
In der Hüxstraße 110 wohnten die beiden jüngsten Lübecker Opfer der Deportation
nach Riga: Rosa Beutel, geboren am 5. Juni 1935, und ihre Schwester Simmy,
geboren am 5. März 1937. Sie war noch keine vier Jahre alt, als sie mit Mutter,
Großmutter und weiteren Angehörigen umgebracht wurde. Fünfhausen 5 war die
Anschrift der Familie Daicz, die bis auf den Vater ausgelöscht wurde; Albert
Daicz konnte nach Shanghai emigrieren. Die beiden Söhne Julius (geb. 1923) und
Max Isaak (1921) lebten wegen ihrer geistigen Behinderung im Heim Vorwerk und
wurden 1940 in Branden-
burg ermordet. Die Tochter Esther (geb. 1919) heiratete 1941 nach Hamburg;
sie wurde von dort nach Minsk deportiert. Ihre beiden Schwestern Gisela (geb.
1917) und Hanny Rosa (geb. 1926), gehörten mit der Mutter Chana Daicz, geborene
Finkelberg, zu den Opfern der Deportation nach Riga. Nach Riga deportiert wurde
auch Betty Fisch, geborene Cohn mit ihren beiden Kindern, aus der Engelsgrube
50. Hanna (geb. 1921) kam in Stutthof ums Leben, ihr Bruder Siegfried (geb.
1922) überlebte.
Die in der Großen Petersgrube 21 lebende Familie Strawczynski flüchtete nach
Belgien. Die Eltern und ihre beiden Söhne Fred und Leo wurden in Auschwitz
ermordet. Ebenfalls in Auschwitz kamen Hermann Marcus Mecklenburg (geb. 1927)
und seine Schwester Hanna (geb. 1922) mit ihrer Mutter ums Leben; der Vater
starb im französischen Lager Gurs. Die Familie hatte in der Mengstraße 52
gewohnt und war nach Belgien geflüchtet.
Rund 40 Stolpersteine sind nötig, um diese Kinder und Jugendlichen mit ihren
Angehörigen vor dem Vergessen zu bewahren.
1. Peter Delius: Das Ende von Strecknitz. Die Lübecker Heilanstalt und ihre Auflösung 1941. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus. Kiel 1988.
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 47 (2006) S. 104 - 107. Im Original enthält der Beitrag 1 Abbildung.
Die Verfasserin: Heidemarie Kugler-Weiemann, geb. 1951. War bis 2002 Lehrerin an der Geschwister-Prenski-Schule Integrierte Gesamtschule Lübeck. Seit 1980 Mitarbeit an verschiedenen Projekten zur NS-Geschichte Lübecks.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 47