Der dokumentierte akustische Lebensbericht wurde von dem in London lebenden britischen Staatsbürger John Blunt – früher John Eichwald – im Jahre 1988 anlässlich seines Besuches in seiner Heimatstadt Kappeln auf einer Veranstaltung in der Klaus-Harms-Schule, dem örtlichen Gymnasium, gegeben. John Eichwald sprach hier vor Schüler/innen der Oberstufe über seine Erinnerungen an die Zeit von 1933 bis 1945. Eichwald, der zwischenzeitlich den Namen Blunt angenommen hatte, war der letzte überlebende der Familie, die auch in der idyllischen Kleinstadt Opfer des nationalsozialistischen Terrors gegen die jüdische Bevölkerung wurde. Ein Jahr nach seinem Vortrag verstarb Blunt an den Folgen einer Krebserkrankung. Zugang zu diesem Thema erhielt die AG zunächst durch den Tonbandmitschnitt des Berichts, dann folgten ein Besuch des Jüdischen Museums in Rendsburg sowie eine Exkursion zur KZ-Gedenkstätte Neuengamme, in dem Johns Onkel Arthur Eichwald als Folge von Hunger und Krankheit wenige Wochen vor der Befreiung verstarb. Beiden Einrichtungen verdanken wir Hinweise und Dokumente zur Familiengeschichte der Eichwalds, die auch auf der CD-Rom dokumentiert sind. Blunts in der Klaus-Harms-Schule gesprochener Bericht steht für die AG im Mittelpunkt; seine Erfahrung und Deutung dieser Zeit will die AG dokumentiert und bewahrt wissen. Regionale und überregionale Ereignisse
reichen sich darin die Hände: Blunt berichtet von persönlichen Repressalien in der Kappelner Volksschule und dem Boykottaufruf gegen jüdische Geschäfte im April 1933, der wie überall im Reich auch in Kappeln propagiert wurde. Verschiedene Bestimmungen und willkürliche Verordnungen, die jüdische Familien einschüchtern oder wirtschaftlich schädigen sollten, treffen in den folgenden Jahren auch die Eichwalds. Im Jahre 1936 wird John aus diesem Grund mit seinen jüngeren Brüdern zunächst zur Talmud-Tora-Schule nach Hamburg, dann später auf einem der letzten „Kindertransporte“ nach England verschickt, wo er nach einer Ausbildung zum Koch in die britische Armee eintritt, um auf alliierter Seite gegen die Deutschen zu kämpfen. Seine zunächst in Kappeln verbliebenen, später jedoch ebenfalls nach Hamburg verzogenen Familienangehörigen, zu denen er nur spärlich Kontakt halten kann, werden 1942 nach Minsk und Theresienstadt deportiert und ermordet. Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Mai 1945 kehrt John Eichwald, der sich nun John Blunt nennt, zurück in seine Heimatstadt, trifft dort einige der Hauptverantwortlichen der übergriffe gegen seine Familie und erwirkt deren Verhaftung und (geringfügige) Verurteilung. Mit Blunts Bericht liegt die subjektive Erfahrung eines einzelnen Menschen vor. Die historischen Ereignisse sind ebenso vom Erlebten wie vom Erleben des Berichtenden zur Zeit des Vortrages geprägt. Sein Selbstbild, seine Werte, seine persönlichen Deutungsmuster und Gefühle bilden die Folie, durch die wir Zugang zu den realen Abläufen erhalten. Eine „Vergangenheit“ entsteht dabei erst durch und über seine Wahrnehmung. Erinnerungslücken, Unklarheiten, eine bestimmte Gewichtung und Wertung der Ereignisse sind dabei selbstverständlich. Auch Blunts Ausführungen halten sich an keine Chronologie; die Reihenfolge, in der er von seiner Vergangenheit berichtet, wird von seinen Erinnerungen bestimmt. Auf diese Weise entsteht ein Bild der Geschehnisse, das nicht deckungsgleich mit anderen Erinnerungen aus dieser Zeit sein muss, aus unserer Sicht auch keinen Absolutheitsanspruch erheben möchte. Dokumentiert wird auf dieser CD-Rom eine selbsterzählte Lebensgeschichte, die wir als Teilnehmer/innen an der AG für mitteilens- und erinnernswert halten. Nach ihrer Vorstellung erregte die CD-Rom einige Aufmerksamkeit, wobei wir uns insbesondere über ein sehr persönliches Schreiben der Witwe John Blunts aus London, von der wir bis dahin nichts wussten, freuten. Durch die lange gemeinsame Arbeit angeregt, beschäftigte sich die AG mit dem Thema „Stolpersteine“, konnte aber aus Zeitgründen (sich näherndes Abitur), aber auch wegen politischer Widerstände dieses Projekt nicht weiter verfolgen. Dieses Themas nahm sich dann der folgende Leistungskurs Geschichte der Klaus-Harms-Schule an.
18 Monate später, am 20. August 2004, wurden dann in der Kappelner Mühlenstraße 36, vor dem heute nicht mehr existierenden Wohn- und Geschäftshaus der Eichwalds, durch den Kölner Künstler Gunter Demnig sieben Stolpersteine zum Gedenken an die sieben ermordeten jüdischen Bürger Kappelns verlegt. Die Verlegung der Stolpersteine ist dann in einem später hinzugefügten kurzen Kapitel der CD-Rom dokumentiert. Aus unserer Sicht – d.h. aus der Sicht aller Beteiligten – hat jetzt dieses Projekt seinen würdigen Abschluss gefunden.
Die CD-ROM ist gegen einen Kostenbeitrag von 5 Euro erhältlich bei Hartmut Büchsel, Klaus-Harms-Schule Kappeln, Hüholz 16, 24376 Kappeln.
Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 47 (2006) S. 98 - 101. Im Original enthält der Beitrag 1Abbildung.
Die Verfasser: Hartmut Büchsel, geb. 1947, Studium der Geschichte, Germanistik und Sozialkunde, in Hamburg. Seit 1979 Lehrer für Geschichte, Deutsch und Wirtschaft/Politik am Klaus-Harms-Gymnasium Kappeln. Peter Gönsoy, geb. 1971, Studium der Geschiche und Germanistik für das höhere Lehramt in Kiel, Seit 2002 Lehrer am Emil-von-Berg-Gymnasium in Großhansdorf (bei Hamburg).
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 47