Kiel sei jetzt die 186. Stadt, so der Kölner Künstler Gunter Demnig, in der er
Stolpersteine verlegen würde. Insgesamt habe er 9.000 Steine in Deutschland
verlegt.[1] Nur München weigere sich noch.
Diese Feststellungen des bescheiden auftretenden Künstlers konnten als eine
stolze Bilanz verstanden werden, hatte doch seine Aktion im ganzen Bundesgebiet
und inzwischen auch im Ausland großen Zuspruch erhalten. In Kiel mussten sich
aber die am 11. Oktober 2006 bei der ersten Verlegung eines Stolpersteines
Anwesenden fragen, warum erst jetzt diese Form des Gedenkens an Opfer des
NS-Regimes begann.
„Manchmal brauchen wir etwas zum Stolpern“, erklärte Kiels stellvertretender
Stadtpräsident Bernd Heinemann und erinnerte an die bis 1933 in Kiel „blühende
jüdische Gemeinde“. Mit der Verlegung von vorerst 15 Stolpersteinen wurde am 11.
Oktober versucht, so Heinemann, „die Opfer in unseren Alltag zu rücken“. So
begrüßenswert es ist, dass sich die Landeshauptstadt Kiel nun auch dem
Stolperstein-Projekt Demnigs anschloss, das die Erinnerung an die Vertreibung
und Vernichtung der Opfer des NS-Regimes lebendig erhält, so soll im Folgenden
auf die schwierigen Begleitumstände hingewiesen werden, die die politisch
Verantwortlichen der Stadt auf ihrem Weg dorthin immer wieder zum Stolpern
brachten. Berichtet wird nicht über die historische Biografie der Verfolgten und
Ermordeten, denen mit Stolpersteinen gedacht wurde. Dies kann an anderer Stelle
geschehen. Auch eine generelle Kritik an der Form des Gedenkens mit
Stolpersteinen ist hier nicht das Thema.
Gunter Demnigs Stolperstein-Projekt hatte seinen Anfang in Köln im Jahre 1997.
Zur Erinnerung an die Deportation der Roma und Sinti im Jahr 1940 zog er eine
Farbspur durch die Stadt, die den Weg der Deportierten nachzeichnete. Als die
Farbe verblasste, prägte er die Schriftzüge an einigen Stellen des Stadtgebietes
in Messing.
Dieses Projekt gilt als Vorläufer der „Stolpersteine“. Mit den 10 mal 10 cm
großen Steinen mit Messingplatten und Schriftzug mit biografischen Angaben der
Verfolgten und Ermordeten – nicht größer als ein Pflasterstein – soll nicht nur
an prominente Opfer erinnert werden. Die Steine werden vor dem Eingang des
letzten Wohnsitzes früherer Bewohner vor ihrer Deportation verlegt. Dieses
„Kunstprojekt für Europa“ soll, so der Einführungstext auf www.stolpersteine.com,
„die Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden, der Zigeuner, der
politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zeugen Jehovas und der
Euthanasieopfer im Nationalsozialismus lebendig“ erhalten. Eines Tages,
vielleicht irgendwann einmal entsteht so das größte „dezentrale Mahnmal
Europas“.
Chance wohl verpasst
In der Presseankündigung hatte die Stadt Kiel „das Projekt Stolpersteine“ als
eigene Erfindung ausgegeben. So, als ob der Kölner Künstler erstmalig mit
Stolpersteinen „auf eine besondere Weise an jüdisches Leben in Kiel und dessen
Auslöschung durch die Nationalsozialisten“ erinnern würde. Keine Silbe darüber,
dass der Künstler bereits mehrere Tausend Stolpersteine in vielen Städten der
Bundesrepublik verlegt hatte. Die lokale Presse übernahm den Tenor dann auch so:
„Neues Projekt will ermordeter Kieler Juden gedenken“.[2] Erst in zwei Artikeln
der Kieler Nachrichten in den folgenden Tagen wurde über das Projekt des
Künstlers ausführlich berichtet.
In dem Grußwort der Oberbürgermeisterin Angelika Volquartz heißt es: „Die
Landeshauptstadt Kiel ist sich der Verantwortung gegenüber den jüdischen Opfern
des Nationalsozialismus und deren Angehörigen und Nachfahren bewusst.“[3] Und
dieser Verantwortung wolle sich die Stadt „einmal mehr mit den Stolpersteinen“
stellen. Schon vorhandene Mahnmale, die „uns historische Verfehlungen bewusst
machen“, werden erwähnt. Doch die verantwortlichen Politiker/innen sind nicht
einmal Willens einzugestehen, dass in den letzten Jahrzehnten eine
Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus in Kiel vermieden wurde
und auch jetzt bei der Verlegung von Stolpersteinen wieder die Chance wohl
verpasst wird.
Mit einem administrativen Kraftakt schafft es Kiel, bei der Verlegung von
Stolpersteinen kurz vor der bayerischen Landeshauptstadt über die Ziellinie zu
gehen. Nun soll daraus kein sportlicher Wettkampf gemacht werden, aber müssen
denn die politischen Verantwortlichen im Kieler Rathaus immer erst zur
Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus und dessen Verbrechen
gezwungen werden? Über Jahre hörte man aus dem Rathaus nur eine ablehnende
Haltung zu den Stolpersteinen. Und als die städtischen Gremien endlich einer
Beteiligung zugestimmt hatten, beließ man es vorerst bei einer
verwaltungsgemäßen Abarbeitung.
Die oppositionelle SPD-Ratsfraktion hatte im Kulturausschuss der Stadt Kiel am
12. Oktober 2004 den Antrag gestellt, die Oberbürgermeisterin möge prüfen, „ob
die sog. ,Stolpersteine‘ in Erinnerung an jüdische Bürgerinnen und Bürger“ auch
in den Straßen Kiels eingesetzt werden könnten. Dabei verwies man in der
Begründung auf das verfolgte Projekt der Gesellschaft für Christlich-Jüdische
Zusammenarbeit und auf den Kölner Künstler. Erwähnt wurde auch, das es bereits
über 3.000 Steine „in diversen Städten“ gäbe, und man führte einige an.
Im Mai 2005 wurde dem Antrag endlich zugestimmt und das Kulturamt mit der Sache
betraut. Von der Historikerin Dr. Bettina Goldberg und Erich Koch – ehemals an
einem Forschungsprojekt am IZRG in Schleswig tätig – erhielt man eine Liste mit
260 Namen von NS-Opfern, „Juden“ aus Kiel. Wie man hörte, hatte die Stadt die
Finanzierung der ersten 100 Stolpersteine durch die Mitglieder der
Ratsfraktionen zugesichert.
ver.di-Projektgruppe Stolpersteine
Anlässlich der Aktivitäten rund um das Gedenken des Kriegsendes am 8. Mai 1945
gründete sich im ver.di Bezirk Kiel-Plön im Mai 2005 auf Initiative der
ver.di-Jugend eine Projektgruppe, die seit diesem Zeitpunkt zum Thema
„Stolpersteine in Kiel“ arbeitet. An diesem Arbeitskreis sind Vertreter der
Gewerkschaft, vom „Runden Tisch gegen Rassismus und Faschismus“, dem Akens, der
VVN/BdA, BVN-SH und andere Einzelpersonen beteiligt.
Wichtigster Kritikpunkt an dem Vorgehen des Kulturamtes der Stadt Kiel und der
Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit war, dass lediglich für
jüdische Opfer des NS-Regimes Stolpersteine verlegt würden, während doch das
Projekt Gunter Demnigs sich nicht auf jüdische Holocaust-Opfer beschränken
würde. Also fehlten Stolpersteine für Kieler Kommunisten und Sozialdemokraten,
konservative Gegner des NS-Regimes, verfolgte Zeugen Jehovas, Homosexuelle,
Sinti und Roma.
Auch die Umsetzung des Beschlusses des Kulturausschusses der Stadt durch deren
Verwaltung stieß auf Kritik. Während in anderen Städten – auch in Neumünster,
Rendsburg oder Heide – sich Bürgerinitiativen und Arbeitskreise beteiligten,
Schülerinnen selbst verfasste Texte verlasen, Zeitzeugen zugegen waren oder
ehemalige Bekannte der Opfer, die noch heute im gleichen Haus wohnen, den
Stolperstein spendeten, waren in Kiel nur während der ersten Verlegung von
Steinen am 11. Oktober 2006 in der Dänischen Straße mehrere Interessierte
zugegen.
Später im Forstweg, dort wo Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Spiegel gewohnt und in der
Nacht vom 11. auf den 12. März 1933 ermordet wurde, sahen nur noch vier Personen
(darunter der Vertreter des Tiefbauamtes) zu, als der Künstler den Stein zu
Spiegels Andenken in den Gehweg verlegte. Nicht einmal die heutigen Eigentümer
des Grundstückes wurden informiert. Später, in der Preußerstraße, waren die
Angestellten des Schuhgeschäftes ganz überrascht, als vor dem Eingang
Gedenksteine gesetzt wurden.
Im April 2006 wendete sich die Projektgruppe an die kulturpolitischen Sprecher
der Parteien mit der Bitte, „Die Politik möge ihren Beschluss vom Mai 2005 zum
Thema ,Stolpersteine in Kiel‘ überdenken und erweitern“. Das Vorhaben der Stadt,
„Steine zur Erinnerung an jüdische MitbürgerInnen zu verlegen“, wurde begrüßt
und das eigene Anliegen erläutert, „dass auch andere Opfergruppen berücksichtigt
werden“.
Die Reaktionen der politischen Fraktionen im Rathaus waren unterschiedlich. Die
SPD-Fraktionsvorsitzende Cathy Kietzer äußerte Verständnis für das Anliegen,
auch weitere Opfergruppen zu bedenken, doch verwies sie auf die Beschlusslage
der städtischen Gremien und insbesondere darauf, dass „die Aktion
,Stolpersteine‘ in ganz Deutschland ausschließlich als Erinnerungsstellen für
verfolgte und ermordete jüdische Bürgerinnen und Bürger“ stehe. Es ist schwer
verständlich, wie so viel Unkenntnis und Unwissenheit über die Aktion des Kölner
Künstlers vorhanden sein konnte, obgleich schon über 8.000 Stolpersteine verlegt
worden waren – auch in schleswig-holsteinischen Städten nicht nur für jüdische
Opfer.
Für die CDU-Fraktion schrieb Günter Mix, man solle das begonnene Vorhaben
zunächst abwarten. Ablehnend meinte er, „dass eine Inflation von Stolpersteinen
in Kiel den beabsichtigten Zweck verfehlt, weil die Passanten durch Gewöhnung
gleichgültig werden.“ Eine ähnliche Argumentation gegen die Verlegung von
Stolpersteinen äußerte auch der CDU-Ratsherr Volker Matthée in Neumünster.
Obgleich sich die dortige Ratsversammlung im Dezember 2003 bereits für eine
Verlegung von Stolpersteinen ausgesprochen hatte, meldete er in der
Kulturausschuss-Sitzung im Februar 2004 Bedenken an: „Ich bin sehr für
Gedenkorte. Aber muss man auf dem Arbeitsweg vier-, fünfmal an die NS-Zeit
erinnert werden?“ Und: „Entweder es belastet die Einwohner oder es stumpft ab.
Ich möchte die Steine in Neumünster nicht gerne haben.“[4] Inzwischen gibt es in
Neumünster schon viele Stolpersteine.
In dem Antwortschreiben an den Kieler CDU-Vertreter konnte sich die
ver.di-Projektgruppe die folgende Feststellung nicht verkneifen: „Entgegen ihrer
Auffassung, dass eine ,Inflation von Stolpersteinen‘ den beabsichtigten Zweck
verfehlen würde, sind wir der Ansicht, dass gerade eine große Anzahl von
Stolpersteinen deutlich machen wird, dass die Opfer des NS-Regimes aus der Mitte
der Gesellschaft kommen! Der Begriff ,Inflation‘ im Zusammenhang mit dem
Gedenken an NS-Opfer sollte nicht leichtfertig genutzt werden.“
Verlegung von Stolpersteinen auch für nicht-jüdische Opfer
Bei der zweiten Verlegung von Stolpersteinen durch Gunter Demnig in Kiel am 2.
August 2007 gelang es der ver.di-Projektgruppe in Absprache mit dem Künstler und
auch der Stadt Kiel, dass außer den 16 Stolpersteinen für jüdische Opfer auch
vier weitere Stolpersteine für politische Opfer des NS-Regimes verlegt wurden.
Für die Sozialdemokraten Otto Eggerstedt und Willi Verdieck, den Kommunisten
Heinrich Wegener und für Minna Hansen, die den Zeugen Jehovas angehörte.
Administratives Abarbeiten des Gedenkens
Leider berichtete die Lokalpresse nur über die Verlegung von Stolpersteinen für
jüdische Opfer und ignorierte die anderen Opfer. Obgleich gerade zu diesen Texte
über die historischen Hintergründe ihrer Verfolgung und Ermordung durch das
NS-Regimes der Presse übermittelt und in den betreffenden Häuser und Straßen den
heutigen Bewohnern zugänglich gemacht worden waren. Selbst die örtlichen
Sozialdemokraten nahmen trotz Einladung keine Notiz von dem Gedenken an ihren
ehemaligen Parteivorsitzenden Eggerstedt.
Wahrscheinliche eine Folge des administrativen Abarbeitens des Gedenkens mittels
Stolpersteine durch die Stadt und die Gesellschaft für Christlich-Jüdische
Zusammenarbeit war der Umstand, dass die an diesem Tag zuerst verlegten elf
Stolpersteine für jüdische Opfer vor dem falschen Haus verlegt wurden. Erst im
Nachhinein meldete sich ein Zeitzeuge bei der ver.di-Projektgruppe und diese
fand durch Nachforschungen tatsächlich bestätigt, dass der Kronshagener Weg 2,
vor dem die Stolpersteine verlegt worden waren, heute der Kronshagener Weg 14
ist. Die Straßenführung war unmittelbar nach dem Krieg geändert worden. Findige
Schülerinnen und Schüler, die eine Patenschaft für die Stolpersteine der
ehemaligen 11 Bewohner des Hauses übernommen hätten, wären möglicherweise diesem
Irrtum nicht erlegen.
Inzwischen hat der Kulturausschuss der Stadt Kiel den Beschluss über die
Verlegung von Stolpersteinen dahingegen geändert, dass auch andere Opfer des
NS-Regimes – außer den jüdischen – in Zukunft bedacht werden sollen.
Bei der nächsten Verlegung von Stolpersteinen in Kiel durch den Künstler Gunter
Demnig werden im April 2008 Stolpersteine für Menschen verschiedener
Opfergruppen gelegt werden. Die ver.di-Projektgruppe hat dafür Lehrerinnen und
Lehrer mit ihren Schulklassen gewonnen, die eine so genannte Patenschaft für die
ausgesuchten Stolpersteine übernehmen.
Eckhard Colmorgen
Anmerkungen
[1] Inzwischen sind es über 13.000 Stolpersteine in rund 280 Orten.
[2] Kieler Express, 7.10.2006.
[3] Website der Landeshauptstadt Kiel, www.kiel.de
[4] Holsteinischer Courier (Neumünster) 21.2.2004, vgl. den Pressespiegel in ISHZ 45, S. 144.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte 49 (Kiel 2007) S. 110-116.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 49