„Niemand ist eine Insel“ hieß vor Jahren der Titel eines Trivialromans. Er
ließ anklingen, dass Vereinsamung und Verheimlichung den Umgang mit Behinderung
und behinderten Menschen blockieren und „Euthanasie”-Fantasien fördern kann.
Auf der Insel Sylt, in List, erinnert seit kurzem ein kleiner Gedenkstein an den
Namen und die Lebensdaten des Künstlers Diedrich Cornelius Diedrichsen. Der
Landschaftsmaler war in Vergessenheit geraten. Diedrichsen wurde 1884 geboren
und wuchs mit zwei jüngeren Geschwistern in einer althergebrachten Bauernfamilie
auf. Der Vater betrieb Schafzucht, war Strandvogt und Postagent. Diedrichsens
vier ältere Geschwister starben um 1890 an Diphterie. Er besuchte die
Dorfschule. Der Lehrer förderte sein Zeichentalent. „Diedrich Cornelius
Diedrichsen und seine Schwester Inken waren außerordentlich belesen und es
gelang ihnen, sich in der Inseleinsamkeit eine überdurchschnittliche Bildung
anzueignen“, schreibt Ulrich Schulte-Wülwer, auf dessen Lebensbeschreibung
Diedrichsens ich mich stütze.
Um 1900 absolvierte Diedrichsen in Hamburg eine vierjährige Lithografen-Lehre.
Anschließend ging er nach Weimar an die Kunstschule. Vor allem seine
Strandbilder in charakteristisch länglichem Format wurden gelobt und
ausgestellt. Diedrichsen beschränkte seine Motivwahl auf seine heimatliche
Umgebung, die Dünenlandschaft, das Meer, das Watt, Himmel und Horizont. Um 1910
arbeitete er kurzzeitig wieder als Lithograf in Karlsruhe.
Aus welchen Gründen auch immer geriet er in psychische Schwierigkeiten. In einer
Bauernfamilie fiel er gewiss auf, weil er sensibel war, malte und Geige spielte.
1924 wies man ihn in die „Heilanstalt“ Schleswig ein. 20 Jahre später wurde er
deportiert nach Meseritz-Obrawalde, eine Tötungsanstalt der Nationalsozialisten.
Die Familie erhielt die kurze Nachricht: „infolge Erschöpfung entschlafen“.
Diedrichsen ist eines der sieben „Euthanasie“-Opfer der Insel Sylt.
Das kleine Insel-Denkmal für Diederichsen ist ein „Stolperstein“ des Kölner
Künstlers Gunter Demnig. 1993 hatte er die Idee mit diesen Steinen, eingelassen
in den öffentlichen Bürgersteig vor dem letzten Wohnort, an ein Opfer der
Nationalsozialisten zu erinnern. Der Stein trägt eine 10 x 10 cm große
Messingplatte, in die der Name, das Geburtsjahr und der Todestag eingeprägt
sind.
Bisher sind über 13.000 Steine in Deutschland, Österreich und Ungarn verlegt
worden. Bei den „Stolpersteinen“ kommt man nicht mit den Füßen ins Stolpern,
sondern „mit dem Kopf und dem Herzen“, wie es ein Hauptschüler treffend
formulierte. Demnig sagt: „Ein Mensch ist vergessen, wenn man sich nicht mehr an
seinen Namen erinnert. Wenn man den Namen auf dem Stolperstein lesen will, muss
man sich verbeugen.“
Die Nachfahren Diedrich Cornelius Diedrichsens, die heute im Geburtshaus in List
wohnen und arbeiten, bekunden aufmerksam, dass dieser einen Gedenkstein verdient
habe. Die junge Verwandte, die heute zusammen mit ihrem Mann den Hof führt,
bemerkte, dass sie nicht wisse, was geschehen wäre, wenn sie Kunst hätte
studieren wollen. In einem Zimmer habe er gemalt und die Farben selbst gemischt.
Im Haus hängen noch dessen Bilder. Sie werden am Tag der „Stolperstein“-Legung
erstmals in der Galerie Herold in Kampen auf Sylt gezeigt. Von Diedrichsen sind
auch Zeichnungen und Briefe erhalten geblieben. Aus der „Heilanstalt“ Schleswig
soll er berichtet haben, dass er sich wohl fühle.
Der kleinen Gruppe, die die „Stolperstein“-Aktion auf der Insel Sylt begleitet,
werden feine alte Fotos von Diedrichens vorlegt. Das Erinnern an den Künstler
Diedrich Cornelius Diedrichsens durch seinen heutigen Bildhauerkollegen Gunther
Demnig findet in einer nachdenklichen Atmosphäre statt.
Am selben Tag wurde auf Sylt noch an die jüdischen Künstlerinnen Anita Rée
(1885–1933) in Kampen und Elsa Saenger (1878–1944) in Keitum mit einem
„Stolperstein“ erinnert.
In Westerland wurde ein Stein in der Strandstraße vor dem letzten Atelier des
Künstlers Franz Korwan (geb. Sally Katzenstein, 1865–1942) verlegt. Hier
protestierten die Hausbewohner erregt gegen die Verlegung und drohten an, den
Stein zu zerstören. Ihre Vorfahren hätten Korwans Bilder verbrannt, in diesen
sah man lediglich „Klecksereien“. Erhalten gebliebene Bilder sind in der Galerie
Herold heute teuer zu erwerben. Die Äußerungen der die Erinnerung abwehrenden
Bewohner aber weisen darauf hin, wie man in Anlehnung an Heinrich Heine mahnen
könnte, dass dort, wo man Bilder (Bücher) verbrennt, verbrennt man auch am Ende
Menschen.
Christian Mürner
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte 49 (Kiel 2007), S.
117-119
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 49