Mit dem 2. August 2007 wurde Lübeck eine andere Stadt. Ganz bescheiden, still
kehrten an jenem Tag Menschen dorthin zurück, die eigentlich das Recht gehabt
hätten, ihr Leben selbstbestimmt in dieser Stadt zu führen. Indem Gunter Demnig
Steine mit den Namen und Lebensdaten jüdischer ehemaliger Mitbürger vor deren
letzter bekannter Wohnstadt verlegte, treten sie aus der Namenlosigkeit des
Vergessens, bekommen symbolisch wie- der die Heimat, die die Nazis ihnen
gewaltsam nahmen.
In Frage stellen müssen wir, ob die in Lübeck lebenden Juden damals als
Mitbürger akzeptiert wurden. Und wir wissen nicht, ob sie diese Stadt bis zum
Schluss – bis zu ihrer Deportation am 6. Dezember 1941 nach Riga – noch als
Heimat empfunden haben. Immer schwerer machten ihnen die anti-jüdischen Gesetze
das Aufrechterhalten eines geregelten Alltags, das Führen eines Lebens, in dem
die Begriffe Respekt und Würde stetig und schmerzhaft an Bedeutung verloren.
Aber es ist anzunehmen, dass sie sich trotzdem heimisch fühlten, und das gilt
vor allem für die Kinder, deren durch die erste Stolperstein-Verlegung besonders
gedacht wird.
Spätestens mit dem 6. Dezember 1941 wurde Lübeck schon einmal eine andere Stadt
– die letzten Vertreter der seit Jahrhunderten existierenden jüdischen Gemeinde
– im religiösen wie gesellschaftlichen Sinn – wurden nach Riga deportiert. Am 2.
August 2008 kehrte die Geschichte in die Gegenwart zurück, vergessene Opfer
bekamen wieder Namen, erhielten wieder eine dauerhafte Präsenz in den Straßen
ihrer Heimat-Stadt. Sie kamen vielleicht still, aber nicht unbemerkt – im
Gegenteil: Künftig werden sie dank Gunter Demnigs Idee und Initiative häufig
bemerkt werden.
Die feierliche Verlegung der Stolpersteine hat eine lange Vorgeschichte –
bereits seit 2003 bereitet eine Initiativgruppe diese Form der Würdigung vor.
Zwar ist die Geschichte und der Exodus der jüdischen Gemeinde Lübecks relativ
gut erforscht; gleichwohl mussten die letzten Wohnorte ermittelt werden, um den
Ort der Würdigung zweifelsfrei festzulegen.
Federführend von Heidemarie Kugler-Weiemann und Susanne Schledt initiiert,
einigte sich die Gruppe – zu der mehrere Lübecker HistorikerInnen wie Dr.
Ingaburgh Klatt, Dr. Peter Guttkuhn, Dr. Wolfgang Muth, Christian Rathmer,
Michael Bannow-Lindtke und andere gehören – darauf, zuerst jene Familien zu
würdigen, deren Kinder der nationalsozialistischen Verfolgung zum Opfer gefallen
sind.
Die Feierlichkeiten begannen in der Adlerstraße mit der Verlegung von vier
Steinen für Max, Martin und Margot Prenski sowie ihre Mutter Sonja. Die drei
Kinder – 1924, 1930 und 1931 geboren – wurden vermutlich ein Opfer der
Massenerschießungen in Riga, die Mutter starb erst 1944 im Konzentrationslager
Stutthof.
Stadtpräsident Peter Sünnenwohld nahm nach einer kurzen Ansprache diese und die
folgenden Gedenksteine als Schenkung der Bürger an die Stadt Lübeck an. Während
noch Texte verlesen wurden und verschiedene Vertreter der Initiativgruppe bzw.
des Akens ein paar Worte sprachen, war Gunter Demnig bereits weitergefahren und
hatte in Fünfhausen 5 mit den Vorbereitungen zur Verlegung der Steine für die
Familie Daicz begonnen. Hier wie auch bereits in der Adlerstraße und an den
folgenden Verlegeorten verlas Heidemarie Kugler-Weiemann kurze Biografien der
Ermordeten; immer wieder blieben Passanten stehen und hörten zu. Max Isaak und
Julius Daicz (1921 und 1922 geboren) lebten aufgrund ihrer geistigen Behinderung
im Heim Vorwerk und wurden 1940 in Brandenburg in einer Tötungsanstalt ermordet.
Ihre Schwester Esther (geboren 1919) wurde 1941 von Hamburg aus nach Minsk
deportiert. Gisela und Hanny Rosa Daicz (geboren 1917 und 1926) wurden mit der
Mutter Anna nach Riga deportiert, nur der Vater Albert konnte nach Schanghai
emigrieren und überlebte.
In der Großen Petersgrube 21 gedachte die Initiativgruppe jeweils im Beisein der
Spender der Steine der Familie Strawczynski – die Söhne Fred und Leo (geboren
1923 und 1924) wurden mit ihren Eltern David und Elsa in Auschwitz ermordet.
Mengstraße 52 war die letzte Adresse des kleinen Hermann Marcus Mecklenburg
(geboren 1927), seiner Schwester Hanna (geboren 1922) und der Mutter Therese –
sie waren zwar noch nach Belgien geflohen, wurden von dort aber nach Auschwitz
in den Tod deportiert. Der Vater Herbert Mecklenburg starb im französischen
Internierungslager Gurs.
In der Marlesgrube 9 lebten Fina Rosenthal (geboren 1928) und ihre Mutter Regina
– fortan erinnern zwei Stolpersteine an ihren gewaltsamen Tod in Riga. Bei St.
Johannis 4 war der letzte Lübecker Wohnort von Salomon Selman Selmanson und
seines jüngsten Sohns Heinz (geboren 1926), die nach Riga deportiert wurden. In
der Hüxstraße 110 lebten die beiden jüngsten Lübecker Opfer des NS-Regimes: Rosa
Beutel, geboren am 5. Juni 1935, und ihre kleine Schwester Simmy, geboren am 5.
März 1937. Sie war noch keine vier Jahre alt, als sie mit der Mutter Rebecca
Beutel, deren Bruder Simon und weiteren Angehörigen in Riga ermordet wurden.
26 Stolpersteine erinnern künftig an fünf jüdische Familien aus Lübeck. Sie sind
ein Signal, dass sich Lübeck – oder doch einige Bürger dieser Stadt – gegenüber
der deutschen Geschichte verantwortlich zeigen und sie nicht nur in Worten,
sondern auch in konkreten Taten annehmen.
Die von Gunter Demnig entwickelten Stolpersteine sind die vielleicht einfachste
und direkteste Manifestation von Gedenken und trotzdem die wohl wirkungsvollste.
Inzwischen liegen sie in tausendfacher Zahl in mehr als 120 deutschen Städten
und Orten und werden – jeder einzelne – zu einem Kristallisationspunkt für
Gedenken, für die Anteilnahme am Schicksal eines Opfers des
nationalsozialistischen Regimes – für Menschen, die aus religiösen,
rassistischen, politischen oder ethnischen Gründen getötet wurden. Durch den
konkreten Na-men und die konkreten Lebens- und Sterbedaten lassen sie die Opfer
aus der Anonymität, aus der unfassbare großen Menge und Zahl individuell
hervortreten und er-möglichen so tatsächlich eine Anteilnahme.
Doch wie gedenkt man, und wie macht man es richtig? Wie lange muss man
schweigen, sich in Gedanken vertiefen? Muss man die Hände zusammenlegen? Wann
darf man wieder die ersten Worte mit seiner Begleitung wechseln? Gedenken – das
lernt man nicht, auch die großen Gedenkstätten lassen uns damit allein, so
ausgeklügelt und wirkungsvoll ihre Anlage und Architektur auch sein mag.
Was aber jeder kann, ist, sich berühren zu lassen. Und das tun die Stolpersteine
sehr direkt, fast unausweichlich. Unvermutet fällt der Blick auf die kleinen
Messingtafeln, man liest Namen, Deportationsorte. Und beginnt sich vorzustellen,
wie die Kinder, die einst hier lebten, morgens zur Schule gingen, nachmittags
vielleicht mit Kreide Hinkekästchen aufs Pflaster malten, abends nach dem Spiel
zum Essen heimkehrten. Aber diese Vorstellung wird sofort gebrochen, weil nur
wenige Zentimeter unterhalb des Namens die Orte stehen, an denen die Nazis den
Menschen ihr Leben nahmen. Die Kinder und ihre Eltern gingen nicht nur im Alltag
durch diese Haustüren, sondern sie verließen die Häuser vielfach auch ein
letztes Mal im Dezember 1941 auf dem Weg zur Jüdischen Gemeinde in der
St.-Annen-Straße, die als Sammelstelle der Deportierten diente.
Wenn die nach 1933 unerwünschten, die ausgelöschten und aus dem Gedächtnis der
Stadt vorübergehend verlorenen Menschen zumindest symbolisch wieder heimkehren,
ist es das Verdienst der Initiative um Susanne Schledt und Heidemarie
Kugler-Weiemann (die übrigens auch die Initiative zur Benennung einer Schule
nach den Geschwistern Prenski maßgeblich mittrug). Und dass sie dauerhaft
bleiben werden, ist der so einfachen wie wirkungsvollen Idee der Stolpersteine
Gunter Demnigs zu verdanken. Beide – die Initiative wie der Künstler – werden
nicht aufhören, bis alle bekannten jüdischen Opfer des Holocaust in das
Gedächtnis der Stadt heimgekehrt und auf den Straßen wieder ihre Spur
hinterlassen haben.
Im Frühjahr 2008 werden in Lübeck die nächsten Stolpersteine verlegt – dank der
großen Unterstützung durch zahlreiche Spender konnte die Finanzierung rasch
gesichert werden.
Kay Dohnke
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte 49 (Kiel 2007) S.
119-124.
Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 49