//74//

Eckhard Heesch:
Arbeitskreis zur Erforschung der Geschichte der "Euthanasie" und Zwangssterilisation

Im Jahre 1983 schlossen sich in der Bundesrepublik haupt- und nebenamtliche Forscherinnen und Forscher zusammen, um am Beispiel der Institutionen des Gesundheitswesens die Geschichte der NS-Verbrechen an den als "minderwertig" geltenden Bevölkerungsanteilen aufzuarbeiten. Der von ihnen gegründete Arbeitskreis zur Erforschung der Geschichte der "Euthanasie" und Zwangssterilisation wurde aus der Not geboren. Da sich die akademische Zeitgeschichte kaum mit der Rekonstruktion von "Euthanasie", Zwangssterilisationen und anderen Mechanismen beschäftigte, war es nötig geworden, zur wechselseitigen Beratung und Diskussion einen historiographischen Arbeitskreis außerhalb der universitären Zeitgeschichtsforschung zu etablieren.

Die Ergebnisse der von Krankenpflegekräften, Ärzten, Theologen, Historikern, Juristen, Pädagogen, Psychologen und Fachjournalisten angestrengten Untersuchungen sind vielfach publiziert worden. Sie haben wesentlich zum Er-


//75//

kenntnisfortschritt auf diesem Gebiet beigetragen.

Der Arbeitskreis hat sich neben seiner historischen Arbeit auch immer aus gegebenem Anlaß mit aktuellen Themen befaßt. Seit 1986 setzt er sich für die Entschädigung von Verfolgten des NS-Regimes ein; insbesondere solcher, die bisher nicht als Verfolgte anerkannt wurden. 1989 wandte er sich mit einem Appell gegen die Re-Legalisierung der unfreiwilligen Sterilisation nichteinwilligungsfähiger Patienten durch das Gesetz zur Reform der Vormundschaft und Pflegschaft, das neue Betreuungsgesetz. 1991 veröffentlichte der Arbeitskreis das "Memorandum gegen die neue Lebensunwert-Diskussion", das im Oktober 1992 mit einigen Tausend Unterschriften der Bundestagspräsidentin Frau Prof. Dr. Süssmuth übergeben wurde. Sie regte daraufhin zur Verbreitung der von ihr unterstützten Position des Arbeitskreises das Fachforum "Nie wieder Euthanasie" an, das im Oktober 1993 in Bonn stattfand und in dem Buch Des Lebens Wert (Hrg. Daub/Wunder) dokumentiert wurde.

Im März 1996 legte der Arbeitskreis die "Grafenecker Erklärung zur Bioethik" vor, mit der er vor den Gefahren der Bioethik, die ein technokratisches Kosten-Nutzen-Kalkül vor die individuellen Interessen und Bedürfnisse von Patienten setzt und menschenrechtliche Schutzgarantien für Kranke und Behinderte verneint, warnt und vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen und der Tradition der Menschenrechte für einen humanen Fortschritt in den Biowissenschaften und der Medezin plädiert.

Für Schleswig-Holstein ist offenbar erst in jüngster Zeit das Forschungsinteresse an der Medizin im Nationalsozialismus erwacht. Es liegen mittlerweile erfreulicherweise einige grundlegende regionalgeschichtliche Studien sowie zwei Sammelbände hierzu vor (siehe die nachstehende Auflistung). Dennoch besteht weiterhin Forschungsbedarf insbesondere zu den Themen "Euthanasie" und Zwangssterilisation. Zahlreiche Institutionen des Gesundheitswesens und viele einzelne Krankenhäuser sind bisher nicht untersucht worden. So steht beispielsweise eine von Prof. Dr. F. Kudlien, dem mittlerweile emeritierten Kieler Medizinhistoriker und profilierten Kenner der NS-Medizin, bereits vor Jahren angeregte Untersuchung über die Medizinische Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel im Nationalsozialismus nach wie vor aus. Wünschenwert bleibt natürlich auch eine Gesamtdarstellung der Medizingeschichte Schleswig-Holsteins für die NS-Zeit, die aber freilich auf zuvor publizierten lokal- und regionalgeschichtlichen Forschungen basieren müßte.

Weitere Informationen über den Arbeitskreis sind erhältlich bei Dr. Michael Wunder, Himmelstraße 26, 22299 Hamburg.

[Die Grafenecker Erklärung]

Literatur zum Thema:

Bästlein, Klaus: Die "Kinderfachabteilung" Schleswig 1941 bis 1945. In: Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 20/1991. S. 16 - 45.

Delius, Peter und Eicken, Andreas (Hrg.): Medizin und Nationalsozialismus in Lübeck. Materialsammlung zur Ringvorlesung November 1981 - Februar 1982. Lübeck 1982.


//76//

Delius, Peter: Das Ende von Stecknitz. Die Lübecker Heilanstalt und ihre Auflösung 1941. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus. Kiel 1988.

Dopheide, Renate: Clauberg - Ein Kieler Arzt. Massensterilisation in Auschwitz und die Geschichte eines Prozesses. In: Dalhoff, J. und Kock, S. (Hrg.): "Ich habe mir Deutschland vom Leibe zu halten versucht." Frauen im Nationalsozialismus und der Umgang 'nachgeborener' Frauen mit dem Gedenken. Dokumentation einer Veranstaltungsreihe vom 8. Mai 1995. Kiel 1996. S. 43 - 79.

Hauschildt, Elke: Stationäre Unterbringung Hamburger "Trinker" in Schleswig-Holsteinischen Anstalten. In: Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 24/1993. S. 82 - 93.

Heesch, Eckhard (Hrg.): Heilkunst in unheilvoller Zeit. Beiträge zur Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 1993.

Heesch, Eckhard: "... daß defekten Menschen die Zeugung anderer ebenso defekter Nachkommen unmöglich gemacht wird..." Zwangssterilisierung Kranker und Behinderter in Schleswig-Holstein. In: Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein (Hrg.): Ende und Anfang im Mai 1945. Das Journal zur Ausstellung. Kiel 1995. S. 207 - 211.

Heesch, Eckhard: Nationalsozialistische Zwangssterilisierungen psychiatrischer Patienten in Schleswig-Holstein. In: Demokratische Geschichte. Jahrbuch zur Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig-Holstein (Kiel) 9/1995. S. 55 - 102.

Jenner, Harald: Das Kinder- und Pflegeheim Vorwerk in Lübeck in der NS-Zeit. In: Strohm, T. und Thierfelder, J. (Hrg.): Diakonie im "Dritten Reich". Neuere Ergebnisse zeitgeschichtlicher Forschung. Heidelberg 1990. S. 169 - 204.

Marnau, Björn: "...empfinde ich das Urteil als hart und unrichtig." Zwangssterilisation im Kreis Steinburg/Holstein. In: Salewski, M. und Schulze-Wegener, G. (Hrg.): Kriegsjahr 1944 - Im Großen und im Kleinen. Stuttgart 1995. S. 317 - 332 (Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft, Beiheft 12).

Marnau, Björn: Zwangssterilisation als Teil der nationalsozialistischen Rassenpolitik 1934 - 1945. Der Kreis Steinburg als Beispiel. Schriftl. Hausarbeit, Kiel 1996.

Schwarz, Rolf: Ausgrenzung und Vernichtung kranker und schwacher Schleswig-Holsteiner. Fragen zu einem unbearbeiteten Problem der Geschichte unseres Landes von 1939 - 1945. In: Demokratische Geschichte. Jahrbuch zur Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig-Holstein (Kiel) 1/1986. S. 317 - 337.

Steenbuck, Ulrike: Herta Oberheuser - Ärztin in Ravensbrück. Biographie einer Täterin. In: Dalhoff, J. und Kock, S. (Hrg.): "Ich habe mir Deutschland vom Leibe zu halten versucht." Frauen im Nationalsozialismus und der Umgang 'nachgeborener' Frauen mit dem Gedenken. Dokumentation einer Veranstaltungsreihe vom 8. Mai 1995. Kiel 1996, S. 29 - 42.

Stokes, Lawrence D.: Nichtjüdische Opfer der NS-Rassenpolitik im Eutinischen. In Jahrbuch für Heimatkunde Eutin 21/1987. S. 169 - 175.

Sutter, Peter: Der sinkende Petrus. Rickling 1933 - 1945. Rickling 1986.

Sutter, Peter: Vom Sortieren, Ausgrenzen, Aussondern... In: Info des Arbeitskreises zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein (Kiel) 10/1987.


//77//

S. 30 - 32.

Der Hesterberg. 125 Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik in Schleswig. Eine Ausstellung im Landesarchiv Schleswig-Holstein. Schleswig 1997.


Veröffentlicht in den Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte (Kiel) Heft 31 (Juni 1997) S. 74-77.


Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte Heft 31

Übersicht Informationen

Verfügbare Texte

Titelseite AKENS